DAS CHAOSMOTISCHE SUBJEKT
1. ChaosmoseWittgenstein hat gezeigt, dass es keinen Grund gibt, dem Grundlosen nicht zu vertrauen. Das Sprachspiel und die Lebensform, auf denen unsere sozialen und wissenschaftlichen Evidenzen ruhen, sind grundlos. Sie sind selbst nicht begründbar. Sie reichen in den Abgrund. Und deshalb bleibt dem Menschen nichts übrig, als sich dieser zweifelhaften Gewißheit anzuvertrauen, die die Zweifellosigkeit selbst ist. Die Zweifellosigkeit ist zweifelhaft. Sie ist eine Art problematischer Evidenz. Als ein unsichtbarer Schleier hat sie sich über den Abgrund des Chaos und der Namenlosigkeit gelegt. Man könnte meinen, sie verschwimme mit dem Chaos. So unscheinbar ist sie, so effizient.
“Beim Philosophieren”, schreibt Wittgenstein, “muß man in's alte Chaos hinabsteigen, & sich dort wohlfühlen.” Im Philosophieren rührt das menschliche Subjekt an das Chaos, an den Ungrund. Es hält zu ihm einen mindestens problematischen Kontakt. Sich wohlfühlen im Chaos, kann nichts anderes heissen, als das Unheimliche und Inkommensurable und Unlebbare, das es darstellt, in seine Lebensform zu integrieren. Sich wohlfühlen im Chaos, bedeutet soviel wie das Unbewohnbare bewohnen, oder, sich dem Verstörendsten assimilieren. Das ist die Bestimmung der Philosophie, die auch Deleuze und Guattari geben, wenn sie sagen, dass es “immer darum” gehe, “das Chaos durch eine Schnittebene zu überwinden, die es durchquert.” Man ahnt wieviel Mut und Übermut – es gibt Mut nur als Übermut – es erfordert, in den Ungrund des Chaos hinabzusteigen, um eine Evidenzebene über ihm zu errichten. Denn es geht gleichermassen darum, die Macht des Chaos anzuerkennen, wie seine Zerstörungskraft für das Subjekt zu minimieren.
Das Chaos ist auch der Name für das Unendliche, das der Tod als absolute Zerstörung ist. Das Chaos berühren, bedeutet, dieser Zerstörung in seinem Denken und Leben Raum zu geben. Das endliche Subjekt ist nur Subjekt, insofern es sich auf die Dimension der Unendlichkeit verlängert. Es ist primordial auf den Tod bezogenes Leben. Es ragt in den Raum der Infinität. Weil es so ist, geht es darum, dem Unheimlichen, das der Tod ist, den Status des Selbstverständlichen zu geben, die Nichtevidenz des Todes als Evidenz zu nehmen, um sich als endliches Subjekt zu affirmieren. Denn es ist diese Endlichkeit, die das Unendliche, das der Tod ist, lebt und trägt. Nicht das Subjekt ist unendlich, der Tod ist es. Aber es gibt dieses Unendliche nur für ein endliches Subjekt. Das Subjekt der Chaosberührung kommt vom Chaos wie aus dem “Land der Toten” wieder. Es bewegt sich entlang einer Grenze, die die Sphäre des Lebens von der Unwelt des Todes trennt.
“Warum”, fragt Wittgenstein, “soll denn das Sprachspiel auf einem Wissen ruhen?” Offenbar muss zwischen dem Wissen (den etablierten Wissenssystemen) und dem Sprachspiel unterschieden werden. Das Sprachspiel trägt alles Wissen, ohne selbst ein Wissen zu sein. Sprachspiel ist Wittgensteins Ausdruck für diese reine Funktionsebene, die die Grenze zwischen dem Wissen und dem Unwissbaren, zwischen Bewußtsein und Unbewußtem, zwischen Leben und Tod, zwischen Logos und Chaos markiert. Es konstituiert den Rahmen und die Konsistenz der etablierten Realität. Entsprechend hat Slavoj Zizek die Homogenität des Sprachspiels und der Lebensform mit der symbolischen Ordnung hervorgehoben, die Lacan auch den grossen Anderen nennt. Der entscheidende Schritt, den das Denken des späten Wittgenstein vollziehe, sei die Behauptung einer “irreduzible(n) – wenn auch nicht wahrnehmbare(n) und unsagbare(n) – Kluft, die die 'objektive Gewißheit' von der 'Wahrheit' trennt. Die 'objektive Gewißheit' betrifft nicht die 'Wahrheit'; sie ist im Gegenteil 'eine Sache der Einstellung', eine von der 'Lebensform' stillschweigend miteinbegriffene Haltung, in der es keine Versicherung dafür gibt, daß 'etwas wirklich Unerhörtes' nicht geschehen wird, das die 'objektive Gewißheit' unterminieren wird, auf die unser 'Realitätssinn' gegründet ist.” Die genaue Funktion der Lebensform und des Sprachspiels liegt darin, das Nicht-Funktionieren, das die reibungslosen Abläufe der Realitätsebene zu verdecken drohen, nicht zu verschleiern. Denn es muß zwischen der Gewissheitsrealität, die die kognitive Welt dieser Abläufe ist, und der Wahrheit, deren Status streng nichtkognitiv ist, unterschieden werden. Diese Unterscheidung ist absolut unversöhnlich. Sie hat die Qualität eines irreduziblen Konflikts.
Die Dimension der Wahrheit ist die Dimension des Unvertrauten oder Ungeheuren. Dass es Wahrheit gibt, meint, dass das Wissen und seine Gewißheiten begrenzt sind. Wahrheit ist der Name dieser Begrenzung. Wahrheit verweist auf das Grund- und Namenlose, das das Unheimliche ist. Es kann Gewißheit nur geben in Form dieser Funktionsform oder Lebensform, die das menschliche Subjekt, dem chaotischen Ungeheuren nähert, ohne es der Autorität des Unsagbaren zu opfern. Deshalb kann von der Lebensform des Subjekts gesagt werden, dass sie logisch ist. Denn der Logos hält den Kontakt zum Abgrund, über den er gehalten bleibt, aufrecht. Es gibt so etwas wie Erkenntnis und Wissen und Gewißheit und Logik. Aber sie sind selbst dem Unerkennbaren, dem Unwissbaren, dem Ungewissen und dem Nichtlogischen anvertraut. Philosophie war nie etwas anderes als der Versuch einer Vermittlung des Problematischen: der Vernunft mit der Nichtvernunft, des Endlichen mit dem Unendlichen, des Seins mit dem Werden, des Geheuren mit dem Ungeheuren, des Sagbaren mit dem Unsagbaren. Das ist die Dialektik der abendländischen Denkbewegung, in der sich das Unvermittelbare zu vermitteln versucht, ohne, dass es zu einer gültigen Lösung kommt.
Offenbar geht es darum, sich als Subjekt mit dem Chaos auszutauschen, eine Art osmotischer oder chaosmotischer Intimität zu affirmieren. Es gibt ein Subjekt (ein Erkenntnis- und Gewissheitssubjekt) nur als Operator einer Chaosmose. Immer muss das Subjekt, um Subjekt zu sein, den chaotischen Ungrund kontaktieren. Immer liefert es sich der Unausdenkbarkeit des Ungeheuren aus. Selbstauslieferung, die Öffnung und Resistenz in einem ist. Öffnung, insofern das Subjekt sich dem Chaos nicht verweigert. Es gewährt ihm Einlass in sein Denken. Es gibt ihm die Möglichkeit seine Wissensbestände durcheinanderzuwirbeln, um sie bald aufs neue zu benennen, zu ordnen und zu klassifizieren. Resistent ist das Subjekt gegenüber diesem Wirbel, weil er nicht nur seine kognitiven Bestände, seinen Wissenshaushalt, bedroht, sondern direkt auf es selbst, auf seine Existenz, ausgreift. Das Subjekt widersteht dem chaotischen Wirbel, um sich nicht endgültig in der Nacht des Nichtwissens und Schweigens zu verlieren. Es betritt die Welt des Ungeheuren nur, um von ihr wiederzukehren. So ist es zu einer gespenstischen Figur geworden, die sich selbst überlebt hat, den eigenen Tod.
Überall in der Philosophie begegnet man diesem Untoten, der das Subjekt als solches ist. Denn Philosophie ist nichts als die Praxis eines solchen Überlebens, eines resistenten Wagnisses und einer gewagten Resistenz. Philosophieren bedeutet die gespenstische Identität eines Subjekts ohne Subjektivität (und das heisst auch, ohne Identität) anzunehmen. Es heisst der Bequemlichkeit der identitären Absicherung in kulturellen, sozialen, politischen etc. Modellen widerstehen. Philosophie ist Resistenz durch Öffnung. Und was das philosophische Subjekt als Gegenstand seiner Offenheit erfährt, hat den Charakter des Unsagbaren, des Schweigens und der Verschliessung. Deshalb muss es dem Subjekt, immer um diese doppelte Erfahrung gehen. Es erfährt das Unerfahrbare und es berührt das Unberührbare. Nur in der Öffnung zeigt sich die Verschliessung und erst die Erfahrung der Verschliessung, gibt der Öffnung Sinn und Raum.
Man muss verstehen, dass das chaosmotische Subjekt mit dem Chaos oder dem Ungeheuren, wie selbstverständlich verkehrt. Denn der Bezug des Subjekts zum Chaos ist kein nachträglicher. Das Subjekt als Subjekt gehört in das Chaos. Es ist ein ursprünglich Überlebendes. Das Chaos hat für das Subjekt der ursprünglichen Chaosberührung seine eigene Evidenz. Weil es so ist, sucht das Subjekt – den Verdeckungen, Entschärfungen und Neutralisierungen der Meinungen und Phantasmen zum Trotz – immer aufs neue den Kontakt mit dem chaotischen Ungrund. Als ginge es darum, eine Art absoluter Nachbarschaft zu pflegen. Denn das Chaos hat zwar den Status eines radikalen Außen, aber es teilt sich mit dem Subjekt das eine Territorium, das die Welt der Immanenz, die Welt ohne Außen (d.h. ohne Äusseres) ist. Stanley Cavell hat von der Unheimlichkeit des Gewöhnlichen (Uncanniness of the Ordinary) gesprochen. Das ist die Unheimlichkeit des Zweifellosen und Bekannten, der geteilten Sprache, der nachbarlichen Evidenz. Es gibt etwas, was das Subjekt mehr als alles ihm Äussere und Fremde bedroht und tatsächlich erschüttert. Es scheint der Ordnung des Bekannten als etwas unbekanntes und unbegreifliches und ungehöriges anzugehören. Wie Kafkas Odradek hört es nicht auf, seinen Hausvater zu beunruhigen. Wie ein namenloses Haustier – Odradeks Name ist alles andere als gesichert –, von dem nicht einmal bekannt ist, ob es ein Tier ist, sucht es das Subjekt im Innersten seiner Gewiß- und Gewohnheiten heim. Es gibt keine Ruhe, will man meinen. Solange es ein Subjekt gibt, solange wird es von dieser Namenlosigkeit heimgesucht und beunruhigt. Immer treibt da etwas sein Unwesen. Es gibt keinen Grund, von diesem Unwesen nicht zu sagen, dass es das Wesen des Menschen sei.
2. Unmenschliche Freiheit
Kann es eine chaosmotische Ethik geben? Was wäre eine solche Ethik, die das Subjekt auf das Chaos wie auf die Verschliessung und das Schweigen offen hält? Zweifellos ginge es dieser Ethik darum, das Subjekt die Erfahrung einer Freiheit machen zu lassen, in welcher es die Unfreiheit erfährt. Das auf die Verschliessung geöffnete Subjekt, würde diese Öffnung selbst – da sie sich auf nichts als die Verschliessung öffnet – als Schranke und absolute Beschränkung erfahren.
In der Vorlesung vom Sommersemester 1930 Das Wesen der menschlichen Freiheit hat Heidegger den negativen Begriff der Freiheit vom positiven unterschieden: Die negative Freiheit bedeutet Losgelöstheit und Unabhängigkeit von Beschränkendem. Frei-sein im negativen Sinn heisst Frei-sein von... . In der negativen Freiheit ist das menschliche Subjekt gegen die es beschränkenden Sachverhalte und Tatsachen, Determinanten oder Fakten gestellt. In der negativen Freiheit ist das Subjekt noch reaktiv. Es bezieht sich auf gewisse Gegebenheiten, um ihre Effizienz und Autorität zu negieren. Negation ist Reaktion, selbst dann, wenn die Negation eine Negation a priori ist, wenn sie sich ursprünglich gegen das sie beschränkende stellt. Negativität ist ein Beziehungsbegriff. Er verweist auf etwas Positives, etwas Gesetztes oder Gegebenes, wovon das Subjekt in der Negation sich vermeintlich trennt. Der positive Begriff der Freiheit scheint auf eine freiere Freiheit als der negative zu verweisen, obwohl auch er ein Beziehungsbegriff bleibt. Positive Freiheit meint Frei-sein für ... . In der positiven Freiheit orientiert sich das Subjekt der Freiheit nicht nach dem Beschränkenden oder Begrenzenden der Gegebenheiten, die es als negativ erfährt. In der positiven Freiheit erscheint so etwas wie Öffnung, ein “sich offen halten für ...”. Heidegger konnotiert diese positive Geöffnetheit mit Kant und seinem Begriff der Selbstbestimmung, der Selbstgesetzgebung (Autonomie) und absoluten Selbsttätigkeit, um sogleich die Unterscheidung zwischen der transzendentalen (kosmologischen) Freiheit und der praktischen Freiheit einzuführen. Die transzendentale Freiheit ist absolute Spontaneität. In ihr, in der Idee einer solchen Spontaneität (Selbsttätigkeit), gründet die auf den menschlichen Willen, die Willkür, begrenzte Autonomie. Einzig die praktische Freiheit des vernunftbegabten Subjekts teilt sich in eine negative (die auf Unabhängigkeit von Sinnlichkeit zielt) und eine positive (die Selbstgesetzgebung ist). Die transzendentale Freiheit ist weder negativ noch positiv. Sie ist kein Beziehungsbegriff. Sie ist in diesem Sinn absolut.
Offenbar geht es Heidegger darum, das menschliche Subjekt in dieser Trias von Positivität, Negativität und Absolutheit zu situieren. Wobei die Frage des Subjekts sich unmittelbar mit der Frage der Freiheit und der Philosophie als Praxis der Freiheit verbindet. Metaphysik als Naturanlage, hat Kant gesagt. Heidegger fasst das Subjekt so, dass sein Wesen Freiheit ist, dass Freiheit zur Naturanlage des Menschen gehört. Welche Freiheit? Die positive, die negative, die absolute? Insofern das Subjekt per definitionem philosophisches Subjekt ist (Philosophie sei, was “als Urhandlung des Menschen in ihm erwacht”), greift es über die relativen Positionen der negativen und positiven Freiheit hinaus. Es ist dieses Hinausgreifen über das Positive und Negative. Es sucht, indem es die Sphäre der Rezeptivität (Sinnlichkeit) ebenso, wie der einfachen Spontaneität (Verstand) überschreitet, das über diesen Dimensionen Hinausliegende, das die transzendentale Freiheit ist. Kant hat diese dritte Dimension auch als Vernunft beschrieben. Das Subjekt hat an seiner Vernunft teil, ohne sie zu besitzen. Es ist Träger einer Vernunft, die ihm nicht gehört. Denn die Vernunft ist, wie die absolute Freiheit und das Noumenale, was das Subjekt aus sich herauszieht, und an seine Grenze führt. So, dass der Kontakt mit dieser Grenze ihre Überschreitung einschliesst, den Exzess der menschlichen Konstitution. Weder die Vernunft, noch die Freiheit noch das Noumenale sind Eigenschaft oder Eigentum des Menschen, eher sind sie Namen des Unmenschlichen: “Der Mensch gilt allenfalls als Eigentum der Freiheit [des Noumenalen und der Vernunft].” Nur ist die Vernunft (selbst) nicht vernünftig (der Mensch ist es, sofern er sie trägt und erträgt), und die Freiheit nicht frei!
Grenzberührung ist Überschreitung, weil es kein Jenseits der Grenze gibt. Es gibt nichts als eine Grenze, die, indem sie berührt wird, überschritten werden kann. Auf was? Auf die Dimension einer absoluten Verschliessung, die mit der transzendentalen Freiheit unentscheidbar zusammenfällt. Was ist Philosophie, wenn nicht Erfahrung dieser Freiheit und Verschliessung? Statt sich der Meinung hinzugeben, Philosophie hätte lebensnah zu sein und eine Beschränkung auf das Mögliche, gilt es den “Angriffscharakter der Philosophie” zu verteidigen, der sich vom Postulat der “Lebensnähe”, vom Lebensnähecharakter der Philosophie, dadurch unterscheidet, dass er das Subjekt mit dem Unmöglichen, dem Unlebbaren, der absoluten Freiheit als lastender Infinität konjugiert. In gewisser Weise geht es der Philosophie darum, das Subjekt vom bloßen Leben zu entfernen, es als etwas wesentlich anderes als eine animalische Existenz zu bestimmen. Während Wittgenstein das Leben auf die Lebensverschliessung, den Tod, das Unlebbare und das Wunder öffnet, scheint auch Heidegger den problematischen Kontakt des menschlichen Daseins zur Dimension des Übersubjektiven als Subjektivität des Subjekts selbst zu definieren. Subjekt ist, was mehr ist als ein Subjekt. Es gibt ein Subjekt nur als Überschreitung seiner Subjektfunktionen. Nur das Subjekt, das sich der Verschliessung und dem Tod öffnet, kann berechtigt ein Subjekt heissen: Subjekt originärer Selbsttranszendenz.
Die chaosmotische Ethik ist Ethik solcher Selbsttranszendenz. Sie verlangt vom Subjekt über sich hinauszubeschleunigen, sich an der Grenze objektiver Unfreiheit als Trägersubjekt absoluter Freiheit aufzurichten. Das chaosmotische Subjekt hält Kontakt zum Chaos, das die Dimension des Werdens, rückhaltloser Freiheit oder, was dasselbe ist, absoluter Notwendigkeit ist. Was die Freiheit mit der Notwendigkeit verbindet, ist, dass sie keinen Gesetzen folgen. Da gibt es niemanden, der befiehlt, der folgt oder übertritt. Nietzsche trifft die Feststellung dieser Notwendigkeit zur Bestimmung des Weltcharakters, den er das Chaos nennt. Im Abschnitt 109 der Fröhlichen Wissenschaft schreibt er: “Der Gesammt-Charakter der Welt ist [...] in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen.” Das Chaos kann nicht ins Menschliche übertragen werden, ohne dass es dadurch entschärft oder verfehlt würde. Das Chaos ist das Unmenschliche, das im Raum der aisthesis, der Wahrnehmung und Perspektive des Menschen nicht gedacht werden kann. Es ist nicht das Gegenteil des Menschlichen, es ist sein Außen, das Aussermenschliche. Dennoch kann von ihm nicht behauptet werden, dass es den Menschen nicht angeht, dass es das Menschliche im allgemeinen nicht betrifft. Denn der Mensch steht in einem selbst notwendigen Verhältnis zum Unmenschlichen, zu einer Notwendigkeit, die seine Freiheit wie die kantische transzendentale Freiheit übersteigt. Das menschliche Subjekt verhält sich zum Chaos, indem es sich dem Abgrund des Werdens öffnet. Heidegger hat in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche, das Chaos als diesen Abgrund der Wahrheit (alétheia) angesprochen: “Chaos, xáos, xaíno bedeutet das Gähnen, Gähnende, Auseinanderklaffende. Wir begreifen xáos im engsten Zusammenhang mit einer ursprünglichen Auslegung des Wesens der alétheia als den sich öffnenden Abgrund [...].” In diesem Sinn kann das Subjekt des Chaos, das Subjekt des Werdens oder des Außens und Unmenschlichen, zugleich Subjekt der Wahrheit heissen, Subjekt des Abgrunds. Wahrheit denkt Heidegger gleichermassen als Öffnung und Verbergung, Grund und Abgrund, Präsenz und Absenz. Das Subjekt der Wahrheit aktiviert dieses problematische gleichermassen, das zumal oder ineinem von léthe und alétheia, wie Heidegger auch sagt. Chaos ist ein Name für die Wahrheit, die sich dem Subjekt der Wahrheitsberührung als öffnender Abgrund oder geöffnete Verschlossenheit, zeigt. Die chaosmotische Ethik bezieht das Subjekt auf dieses Unbezügliche, auf die Grenze, die es mit dem Chaos in Verbindung hält. Mehr kann von der Ethik und vom Begriff des Ethischen nicht verlangt werden: dass sie die Durchlässigkeit des Subjekts für das Undurchlässige fordern, damit das Subjekt sich in seiner vollen Ungeschütztheit und Einsamkeit erkennt.
3. Die Welt existiert nicht
In der Sitzung des 9. Septembers des Seminars in Le Thor von 1966 hat sich Heidegger dem Fragment 30 von Heraklit zugewandt:
“Diese Weltordnung hier hat nicht der Götter noch der Menschen einer geschaffen, sondern sie war immer und ist und wird sein: immer-lebendes Feuer, aufflammend nach Maßen und verlöschend nach Maßen.”
Heraklit spricht vom kósmos , von der Welt, der Weltordnung oder dem Weltcharakter. Das griechische Verb kosméo heisst übersetzt: ordnen, anordnen, befehlen, einrichten, verwalten, regieren. Im Medium bedeutet kosméo auch sich rüsten oder sich schmücken. Auch Heraklit, sagt Heidegger, streife hier den, insbesondere Homer und Pindar geläufigen Sinn von kósmos als Schmuck. Die Welt ist von der Ordnung des Schmucks. Sie ist von der Ordnung des Geordneten, des Glänzend-Ebenmäßigen. Das “Verb kosméo, zu dem kósmos gehört, bedeutet: in eine Ordnung bringen.” Was im Gegensatz zu dieser Ordnung, zum reinen Glanz des Geordneten stehe, zur Welt (frz. monde), sei keine “andere Welt”, sondern das “was das Adjektiv immonde sagt: das Unreine.”
Der kósmos widerstrebt der Unordnung und Unreinheit des Akosmischen. Das Akosmische ist das Chaotische. Es fügt sich keiner Ordnung, keiner Weltfunktion. Es ist von der Ordnung des Ungeordneten. Es evoziert keine andere Welt, es ist die Grenze des Kosmos, es markiert die Grenze der Welt. Die Erfahrung des akosmischen Chaos wird zur Erfahrung des Unreinen oder Realen. Das Subjekt dieser Erfahrung gehört bereits einer anderen Ordnung als der des Welthaften an. Seine Welt ist die Welt des Realen, dessen also, was sich der reinen Weltfunktion entgegenstellt. Die Erfahrung der akosmischen Unreinheit ist Erfahrung der Unmöglichkeit oder Inexistenz – der nur phantasmatischen Identität – der kosmischen Welt. Die Welt existiert nicht: Das ist die Wahrheit, die das Subjekt in der Berührung des Chaos erfährt. Das akosmische Subjekt der Wahrheitsberührung aber ist nicht der Mensch. Da die Welt nicht existiert, existiert auch der Mensch nicht. Aber es gibt so etwas wie ein Subjekt. Was also ist das Subjekt? Es ist der Riß, der den Kosmos vom Chaos, die Realität vom Realen, die Tatsachenwelt vom Außen, die Evidenz vom Opaken, die Erinnerung vom Vergessen, das Sein vom Werden trennt. Subjekt ist, was seiner Vermenschlichung im Tatsachenuniversum widersteht. Name eines Widerstands, einer Unauflöslichkeit und Resistenz.
Den Menschen unterscheidet vom Subjekt, daß es ihn als naturale, substanziale, soziale Entität gibt – deshalb existiert der Mensch nicht, weil es ihn gibt! –, während das Subjekt existiert, weil es kein Subjekt gibt und geben kann! “Das, was Subjekt ist”, sagt Badiou, “ist der neue Mensch”, der vom Selbst- und Seinsmangel aus zu existieren, Subjekt zu werden, sich aufzurichten beginnt. Auch Agamben bestimmt das menschliche Subjekt als etwas, das “nichts anderes sein soll, als seine Möglichkeit oder Potenz, sich gewissermaßen selbst mangelt und sich diesen Mangel aneignen soll, als Potenz existieren soll.” Die Tatsache, “dass der Mensch [das Subjekt] weder ein Wesen, noch eine historische oder spirituelle Berufung, noch auch eine biologische Bestimmung hat oder verwirklichen sollte, muss der Ausgangspunkt eines jeden ethischen Diskurses sein: denn wenn der Mensch diese oder jene Wesenheit wäre oder zu sein hätte, diese oder jene Bestimmung hätte oder erfüllen sollte, wäre jede ethische Erfahrung unmöglich – es gäbe nur Pflichten, die zu erfüllen wären.”
Die Ethizität des Subjekts zeigt in diesen ontologischen Abgrund, in den primordialen Mangel. Weil es das Subjekt nur als Subjekt dieses Mangels gibt – als Subjekt des Abgrunds – gibt es so etwas wie ein Subjekt. Das Subjekt eignet sich sein Subjektsein als Subjektseinkönnen an. Es berührt sich am Punkt der äußersten ontologischen Fragilität, um diese Berührung als Akt des Subjektwerdens zu affirmieren. Es ist Subjekt der Selbstbejahung und Selbsterfindung. Im Kontakt mit dem, was es radikal überschreitet, konstituiert es sich als souveräner und in gewissem Sinn experimenteller Empfang seiner ontologischen Grenze. Dementsprechend hat Deleuze im amerikanischen Pragmatismus einen jener Versuche gesehen, “die Welt zu verändern und eine neue Welt, einen neuen Menschen zu denken, insofern sie gemacht werden.” Das chaosmotische Subjekt ist der Mensch, der sich selber macht. Eine über dem Abgrund ihrer Wesenslosigkeit schwebende Kraft.
“Wie man wird, was man ist” – lautet der Untertitel von Ecce homo. Aber das Subjekt ist nichts. Es ist Subjekt ohne ontologische Bestimmung, ohne naturale Präskription. Subjekt ohne Subjektivität, das an die Grenzen der überlieferten Selbstbewußtseins-, Erkenntnis- und Wissensdispositive rührt. Titel dieser Anrührung oder Erschütterung, die auch Berührung des Unberührbaren oder Wahrheitsantastung heissen kann. Nietzsches Formel Werde, der du bist muss von ihren platonisch-anamnetischen Anteilen gereinigt werden. Nie geht es darum, die allgemeine Idee, die Substanz, das Wesen oder Sein des Subjekts, zu realisieren oder wiederzufinden. Subjekt ist, was ohne transzendentale Bestimmung existiert. “Wenn es darum geht, Subjekt zu werden”, sagt Badiou, “dann deshalb, weil man es nicht ist.” Die “Inexistenz 'des Menschen'” antwortet der Nichtexistenz der Welt, solange Welt der Name etablierter Tatsachenwahrheiten, sustanzialer Abläufe und transzendentaler Verlässlichkeit ist. Statt, wie Heidegger es in seiner Heraklit-Interpretation tut, das Fragment 124 überhastet mit dem Fragment 54 zu überblenden, sollte man den heraklitischen kósmos als Akosmos einer transzendentalen Unreinheit behaupten. Der kósmos selbst ist akosmisches Chaos, Sphäre des reinen Werdens, explosiver Seinsentfaltung, pure Inkommensurabilität.
4. Relation zum Außen
“Philosoph sein, Mumie sein”, schreibt Nietzsche in der Götzendämmerung. Die Philosophen – die alten und gegenwärtigen Philosophen, die er von den zukünftigen oder kommenden oder neuen Philosophen unterscheidet – operieren mit “Begriffs-Mumien”, sie “tödten, sie stopfen aus”. Ihre Moral liegt in der Flucht vor dem Werden, vor der Vielheit, vor dem Sinnlichen, vor der Veränderung. Flucht vor dem Leben, das sich der Einsperrung in Begriffen entzieht. Sie ist eine Moral des Todes, denn sie tötet, was eine Überforderung für sie darstellt: das Nicht-Darstellbare, das Namenlose, die Inkommensurabilität. Das ist, was diese Philosophen schwach macht, dass sie nicht den Mut haben, sich in der Berührung des Unberührbaren zu verausgaben. Dass sie es vorziehen, den Möglichkeitsraum zu durchmessen, statt das Unmögliche zu kontaktieren: “Was den Stil von Philosophie ausmacht, ist, daß in ihr der Bezug zu einem Äußeren immer durch ein Inneres, innerhalb eines Inneren, vermittelt und geschwächt ist. Im Gegensatz dazu begründet Nietzsche das Denken und die Schrift auf einer unmittelbaren Relation zum Außen.”
Die kommenden Philosophen sind Philosophen, die die Innerlichkeitsmetaphysik zugunsten der Wahrheitberührung aufgeben, um den “Kontakt mit einem reinen Außen, zu riskieren”. Das Subjekt dieses Kontakts ist Subjekt der Selbstüberschreitung auf die Dimension einer Andersheit, die jeden Selbst- und Identitätsbegriff a priori unterminiert. Subjekt ohne identitäre Fixierung, das sich im Akt der Kontaktierung des eigenen Wesensabgrunds als originäre Störung der Tatsachenordnung manifestiert. Tatsachenordnung ist ein anderer Name für Realität. Die Tatsachenrealität ist Welt der offizialisierten, anerkannten, instituierten und archivierten Tatsachenwahrheiten. Sie ist Universum des gegenwärtigen und historischen Wissens, der Konventionen, Meinungen, Neigungen und Interessen: Sphäre, die per definitionem Wahrheit ausschliesst, um identifizierbare Realitäten zu generieren.
5. Diaphorische Kompossibilität
In La pensée du dehors hat Michel Foucault die hyperboreische Wahrheitswelt den “unermessliche(n) Raum” der Berührung von Ursprung und Tod – oder wie wir sagen, von Öffnung und Verschliessung, Unverborgenheit (alétheia) und Verborgenheit oder Vergessen (léthe) – genannt:
“Das reine Außen [dehors] des Anfangs, auf dessen Aufnahme die Sprache ihre Aufmerksamkeit richtet, verfestigt sich niemals zu einer unbeweglichen, durchschaubaren Positivität; und das ständig neu begonnene Außen des Todes, das dieses zum Wesen der Sprache gehörige Vergessen ans Licht zieht, hat keine Grenze, von der aus endlich die Wahrheit sichtbar würde. Stets schlägt das eine sogleich ins andere um und umgekehrt; und der Tod eröffnet immer wieder die Möglichkeit eines neuerlichen Anfangs.”
Das hyperboreische Subjekt erfährt das Reale als Kompossibilität des Inkompossiblen. Die Erfahrung dieser Kompossibilität ist Erfahrung des reinen Außen, die das Subjekt in eine absolute Fremdheitszone trägt. Bis zur Ununterscheidbarkeit treffen Aufgang und Untergang, Ursprung und Horizont in ein und derselben Sprache aufeinander: Tod und Leben in ein und “dasselbe neutrale Licht [ge]taucht – hell und dunkel zugleich.” Es ist diese Logik des Zugleichs, die Logik der Simultaneität des Ungleichzeitigen, der Ununterscheidbarkeit, der “wechselseitige[n] Transparenz des Anfangs und des Todes”, die das Denken des Außen mit dem heraklitischen Erbe einer nicht-dialektischen gegenstrebigen Fügung zu teilen scheint.
Im Fragment 20 sagt Heraklit über die Menschen und ihr Verhältnis zu Tod und Leben: “Da sie geboren sind, nehmen sie auf sich zu leben und den Tod zu haben (– vielmehr auszuruhen –) und Kinder hinterlassen sie, daß neuer Tod geboren wird.”
Die Menschen sind Subjekte des Lebens und des Todes. Sie sind Subjekte der ontologischen Kompossibilität von Tod und Leben. Der heraklitische lógos ist ein anderer Name für diese Kompossibilität, die im 2. Fragment to xyno heißt, was weniger das Allgemeine als das gemeinsam Mögliche heißt. Das Subjekt des Lebens ist bereits auf den Tod bezogen. Lebend zeugt es neues Leben. Mit jeder Zeugung wird neuer Tod geboren. Die Erfahrung des Außen öffnet das Subjekt auf eine “absolute Öffnung”, die zugleich absolute Schliessung ist. Es öffnet das Subjekt auf die diaphorische Kompossibilität von Öffnung und Verschliessung, auf den Bereich eines absoluten Konflikts. Die Erfahrung des Außen ist Konflikterfahrung, weil das Außen eine Unentscheidbarkeit benennt, die sich per defintionem der dialektischen Beruhigung und kommunikativen Schlichtung verwehrt. Mit Heidegger läßt sich die Wüste des Außen als Urstreit denken und als Dimension einer Unheimlichkeit, die das Dasein auf die Unentscheidbarkeit, die Kontingenz und Inkommensurabilität geöffnet hält. Der Standort des menschlichen Daseins ist “Standort des Ungeheuren”, sagt Sloterdijk, und Zizek betont unter Berufung auf Heidegger, “dass die Philosophie”, und nicht nur die Philosophie, sondern das philosophische, hyperboreische Dasein, “von Anfang an nicht der Diskurs dessen war, der sich zu Hause weiß.” Das Ungeheure oder das Unheimliche ist der Lebensraum des menschlichen Subjekts, das aus der Geborgenheit seiner alltäglichen Umwelt den prämundanen Abgrund der Welt berührt. Badiou spricht diesen Abgrund als Universalität, als Unmenschlichkeit und Wahrheit an. Die Dimension des Ungeheuren entspricht der Welt einer Wahrheit, die sich nicht auf Realitätsbegriffe bringen läßt. Das ist der Raum der Weltentleerung, die Zone der Redefinition von Welt und Subjekt. Deleuze nennt sie die hyperboreische Zone. Sie ist Zone des Werdens, Zone der Unmenschlichkeit, Hitze- und Kälte-Zone des sich auflösenden und in dieser Auflösung rekonstituierenden Subjekts.
6. Hyperboreer
“Wir Hyperboreer” – überschreibt Nietzsche ein Nachlass-Fragment vom November 1887. Einige Monate darauf verfasst er Der Antichrist.
Wir Hyperboreer: Wir, die die “hyperboreische Zone” bewohnen, “die von den gemäßigten Zonen weit entfernt ist.”, die Unwirtlichkeit oder Unbewohnbarkeit selbst: das Außen. Wir Hyperboreer, wir Maßlosen, die nur im Kontakt mit dem Unermesslichen, dem Unmessbaren oder Inkommensurablen existieren, wir, “die lieber im Eise” leben, sagt Nietzsche, wir entziehen uns dem “faulen Frieden” und dem “feigen Compromiss” einer gewissen “Toleranz” und “largeur des Herzens”. Wir widerstehen dem “Glück der Schwächlinge” und der Ethik des Mitleidens, die diese “Schwachen” mehr (für sich und aus guten Gründen) fordern, als selber praktizieren. Und bald nachdem Nietzsche einen seiner ungeheuerlichsten Sätze (“Die Schwachen und Missrathenen sollen zu Grunde gehen: erster Satz unserer Menschenliebe”) ausgesprochen hat, heisst es: “Nichts ist ungesunder, inmitten unsrer ungesunden Modernität, als das christliche Mitleid. Hier Arzt sein, hier unerbittlich sein, hier das Messer führen – das gehört zu uns, das ist unsere Menschenliebe, damit sind wir Philosophen, wir Hyperboreer!”
Der Hyperboreismus scheint sich mit einem gewissen Wir – mit dem Wir der Philosophen – zu verbinden. Als ließe sich die Position dieser elementaren Singularität, das Denken der wesentlichen Einsamkeit des hyperboreischen Subjekts, nur über ein Paradox artikulieren. Als müsste man zu mehreren sein, um seine Einsamkeit zu affirmieren. Wir Hyperboreer – bedeutet auch: Wir, die Gemeinschaft derer, die ohne Gemeinschaft, ohne Wir-Gemeinschaft, sind. Wir Einsamen, wir Singularitäten. Wir, die an die Grenze des lógos, der das Prinzip der abendländischen Wir-Gemeinschaft bildet, rühren. Wir aus dem Wir-Kosmos gefallene, wir aus der Universalität einer transzendentalen Kommune, aus dem Wohnbereich der Wir-Subjektivität ausgeschiedene. Wir Heimatlosen. Wir arktische Naturen. Wir Ungeheuerlichen, die im Kontakt mit der Grenze des Geheuren, des Gewohnten und Lebbaren stehen. Wir Kontaktsubjekte, wir Grenznaturen, wir grenzen an diese Grenze und beschleunigen über diese Grenze hinaus. Wir Unheimlichen, oder wie Heidegger auch sagt, Unheimischen. Wir, die im Unzuhause zuhause sind, im Unheimlichen. Wir Übermütigen, wir Übertriebenen, wir Subjekte einer immer gewaltsamen Selbstüberwindung, Subjekte der Selbstüberdrehung, der Selbstüberreizung und Selbstentgrenzung. Wir, die nur sind, was sie sind, indem wir die Idee des Wir und unseres Selbst durch Überschreitung verraten haben.
“Sehen wir uns ins Gesicht”, fordern die ersten Zeilen des Antichrists, “Wir sind Hyperboreer, – wir wissen gut genug, wie abseits wir leben. 'Weder zu Lande, noch zu Wasser wirst du den Weg zu den Hyperboreern finden”: das hat schon Pindar von uns gewusst. Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes – unser Leben, unser Glück ... Wir haben das Glücke entdeckt, wir wissen den Weg, wir fanden den Ausgang aus ganzen Jahrtausenden des Labyrinths.”
Das hyperboreische Subjekt bewohnt das Universum der Tatsachen, ohne sich – wie das hypochondrische Subjekt – der Tatsachenordnung zu assimilieren. Die Tatsachenwelt ist die Welt objektiver Unfreiheit. Die Welt der Determinanten, Gesetze, Bestimmungen. Es ist die bereits entschiedene Welt. Das Universum der konsensualisierten Tatsachenwahrheiten: die Realität. Das hyperboreische Subjekt entzieht sich den Imperativen des Tatsachenidealismus, um sich auf eine andere Welt als die etablierte Realität zu öffnen. Die Hyperboreer bewohnen den Rand der Erde, um das Reale der Realität, das Chaos selbst, zu kontaktieren. Sie sind Kontaktsubjekte dieser Berührung des Unberührbaren, der infiniten Grenze jeglicher Realität.
7. Unverletzbarkeit der Grenze
Die Tür, die sich auf nichts öffnet – das ist das Bild, das Kafka von der Beziehung des Menschen zur Dimension des Unmenschlichen gibt. Vor dem Gesetz ist eine Erzählung, die vom Verhältnis des Subjekts (des Mannes vom Lande) zum Unzugänglichen, das das Gesetz ist, handelt, um alle weiteren, diese Struktur begleitenden Motive, in den Fragen nach der Zugänglichkeit, der Betretbarkeit, der Passage, des Weges und der Methode zu akkumulieren. Das Subjekt begehrt den Eintritt ins Gesetz, es begehrt den Zugang zum Unzugänglichen. Ohne vom Türsteher, der der Ordnung der Stadt angehört, eingelassen zu werden, ohne eingelassen und ohne abgewiesen zu werden. Denn solange das Subjekt dieses Begehrens lebt, solange besteht Hoffnung auf Einlass, ohne dass diese Hoffnung sich je erfüllen wird. Dennoch gibt es Hoffnung und Grund zur Hoffnung, wie das Bild der offenen Tür des Gesetzes zeigt. Die Tür zum Gesetz ist nicht einfach verschlossen, sie ist offen, ohne sich nicht auch zu verschliessen, wie eine Pore, wie der póros, der die Passage zum Unbetretbaren markiert. Der póros ist Öffnung, die Tür steht offen, aber das Jenseits dieser Öffnung kann nicht selbst in Kategorien der Erfahrbarkeit, Betretbarkeit, Verständlichkeit und Offenbarkeit erfolgen. Die Tür steht offen, aber sie öffnet sich nicht auf Offenes. Sie öffnet sich auf nichts.
An der Schwelle dieser Öffnung findet sich ein Türsteher, einer von mehreren, der als Wächter der Grenze zum Unbetretbaren erscheint. Das Subjekt muss sich mit diesem Türsteher einigen, es muss sich mit dem Gesetz der Grenze arrangieren. Und so wartet der Mann vom Lande – erfolglos wie sich zeigt – auf die Erlaubnis des Türstehers die Grenze zum Gesetz zu übertreten, bis schliesslich das Gesetz selbst in Gestalt des Todes sich auf ihn zuzubewegen beginnt, um dem sterbenden Mann doch noch Eintritt zu gewähren, in dieser gänzlich passiven, vom Subjekt nicht mehr leb- und erlebbaren Form. Denn der Tod nimmt vom Sterbenden im Augenblick seiner erlöschenden Möglichkeiten Besitz. Solange der Mann vom Lande lebte, solange widerstand er der Autorität des Gesetzes, indem er den, wenn auch verweigerten, Eintritt in die Gestzessphäre, die die Dimension des Unlebbaren ist, begehrte. Im finalen Moment seines Lebens, offenbart ihm der Türsteher, dass er die Tür, die nur für ihn bestimmt war, nun schliessen werde. Und diese Verschliessung des Offenen – diese Verschliessung der Öffnung auf Verschliessung – bedeutet, das sich das Gesetz des Todes nur den Toten offenbart.
Was bedeutet, die Unbetretbarkeit und Unzugänglichkeit des Gesetzes? Was ist ihr Sinn? Sie bedeutet, dass das Subjekt, das den Kontakt zur verschlossenen Zone des Unlebbaren aufrecht erhält, indem es sie zu betreten begehrt, ein Subjekt des Lebens ist, dass es als Subjekt lebt. Nur den Toten ist die durch kein (lebendiges, also unerfülltes) Begehren verzögerte Intimität mit dem Tod selbst gestattet. Nur das tote Subjekt verliert sich als Subjekt im Abgrund des Gesetzes, in dem alle Hoffnung, jegliches Begehren, alle denkbare Erwartung enttäuscht, erstickt, getötet ist. Das Gesetz erfüllt das Begehren des Subjekts, indem es sein Begehren tötet. Und es tötet damit das Subjekt selbst, das als totes nur mehr als Figur des allgemeinen Todes, der Unendlichkeit, erscheint.
Der Türhüter ist ein Wächter. Er bewacht die Grenze zum Gesetz, und ist Bewacher des Gesetzes selber, seiner Unberühr- und Unbetretbarkeit. Der Türhüter wacht über die Universalität eines Grenzjenseits, das mit der Grenze, die es schützt, zusammenfällt. Aber dieses Zusammenfallen bleibt unentscheidbar und komplex. Universalität ist nicht, was dem Partikularen als Gegensatz dient. Die Universalität des Gesetzes ist die Universalität der Grenze, die das Diesseits durch das namenlose Außen begrenzt. Subjekt zu sein vor dem Gesetz und im Verhältnis zu dieser Grenze, heisst die Universalität des Konflikts von einfacher Universalität und einfacher Partikularität auszutragen. Mit Heidegger könnte man das Subjekt dieser gesteigerten Universalität als Subjekt der Diaphora beschreiben, als Stätte des Austrags oder des Konflikts. Der Türhüter wacht über die Unverletzbarkeit der Grenze, er beschützt das Subjekt vor der Realisation eines Begehrens, dessen Masslosigkeit, es in die Obhut des Todes (des Gesetzes) zwingt. Deshalb lässt sich die Figur des Türhüters der Ordnung der problematischen Gehilfen zurechnen, wie sie in Kafkas Universum allgegenwärtig sind. Diese Figuren helfen, indem sie nur zu helfen vorgeben. Sie behindern das Subjekt, um es vor ihm selbst zu bewahren, vor seiner problematischen Tendenz, das Unberührbare zu berühren, vor seinem Willen und seiner Bereitschaft und seinem Begehren, mit dem Tod zu paktieren.
Der Türhüter ist Wächter und Gehilfe. Er bewahrt den Mann vom Lande vor dem Nichts. Denn das Gesetz verdankt seine Effizienz und Attraktivität seiner Nichtigkeit. Es ist eine elementare Phantasie. Jedes Subjekt bleibt Zeit seines Lebens auf diese Phantasie bezogen, und es bedarf guter Freunde und zweifelhafter Gehilfen, um die Ausdrücklichkeit seines Bezugs zum Unlebbaren – d.h. die Notwendigkeit seiner primordialen Geöffnetheit auf die Verschliessung – lebbar zu machen, indem sie das Subjekt von seinem Begehren abbringen, und es gewissermassen zerstreuen. In einem Abschnitt seiner Profanierungen hat Giorgio Agamben der dubiosen Figur des Gehilfen in Kafkas Romanen wie in der Kinderliteratur und den Erzählungen Robert Walsers nachgespürt. Die Gehilfen bewohnen eine Zwischenzone, einen Bereich der weder der Ordnung des Menschlichen noch der Ordnung des Göttlichen angehört, als schwebten sie zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, zwischen Leben und Tod. Auf der Linie dieses Zwischen, auf dieser “Inversionslinie”, wie Derrida sie nennt, bewegt sich auch der Türhüter, dessen Funktion die Artikulation einer absoluten Grenze ist. Der Türhüter wacht über das Gesetz, um seine Unberührbarkeit zu erhalten, und er hütet zugleich das Leben des Mannes vom Lande, das sich im Abgrund des Unmenschlichen zu versenken droht. Solange dem Leben der Zugang zum Gesetz verweigert bleibt, solange ist es menschliches Leben, bezogen auf das Unlebbare, und dennoch lebendig, unversehrt und intakt. Als hätte sich jedes Leben der Grenze des Lebbaren anzuvertrauen, indem es im Kontakt zu dieser Grenze, den Tod auf Distanz hält, während es die Spitze seiner Möglichkeiten berührt.