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MARCUS STEINWEG
 

DAS INKOMMENSURABLE, DIE DIFFÉRANCE, DAS AUSSEN

1. Das Inkommensurable ist, was den Tatsachenidealismus überfordert. Das Inkommensurable übersteigt oder subvertiert jegliche Tatsachenidealität. Es widersteht der Homogenität der sozio-symbolischen Tatsachenwahrheit. Es ist das Heterogene. Heterogen nennt Bataille Kräfte, “die nicht zu assimilieren” sind: “So sind die heterogenen Elemente, die durch die soziale Homogenität ausgeschlossen sind, ebenfalls aus dem Feld der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit ausgeschlossen. Die heterogenen Elemente sind sogar dadurch definiert, daß sie als solche von der Wissenschaft nicht erkannt werden können.” Das Heterogene oder Inkommensurable ist das Irreduzible, das Nichtassimilierbare schlechthin. Es ist das den Tatsachensystemen Äußere oder Andere. Ein absolut Äußeres oder Anderes, daß wie das Blanchot'sche Außen, ein “Außen jeglicher Sprache” ist.

Die Dimension dieses Außens ist die Dimension des Schweigens, einer absoluten Stille. Das Subjekt betritt den Raum dieser Stille nicht ohne die Erfahrung einer radikalen Desubjektivierung zu machen. Es stößt an seine Grenze. Es berührt die Mauer des Nichts. Der Erfahrung des Nichts (des Inkommensurablen, des Heterogenen, der irreduziblen Alterität etc.) entspricht weniger die Erfahrung von etwas Seiendem als der Berührung des Nichts-Seienden. Sie entspricht der Erfahrung des Seins selbst sofern es irreduziblel ist auf die Ordnung des Seienden. Sie ist Erfahrung einer nicht-präsentischen Präsenz oder präsentischen Absenz. Erfahrung dessen, was im Rancièr'schen Paradigma Erscheinung heißt. Erscheinung ist, was die polizeilisch-etatistische (wie die sozio-polito-historische) Homogenität unterbricht. Die Erscheinung korrumpiert den positiven Seins-Status des etablierten Macht- und Gesellschaftsgefüges. Sie widerspricht der kommensurablen Tatsachenrealität. Dennoch besteht Rancière darauf, dass die Erscheinung nichts mit einem bloßen Simulakrum, mit der scheinhaften Verdoppelung von Wirklichem, zu tun hat. Die Erscheinung ist etwas wesenhaft anderes als blosser Schein.

2. Die différance widersetzt sich. Sie impliziert einen komplizierten Widerstand. Différance ist der Name dieses Widerstands gegen die klassische Ontologie. Wie Heideggers Sein läßt sie sich selbst nicht als Seiendes vorstellen. Eher trägt sie das Denken an den äussersten Rand seines Vorstellungsvermögens. Eher überfordert sie das Denken, um es in ihm unbekannte Zonen zu reißen. Mehr als die Spuren des Seins trägt die différance die Züge des Es gibt, dessen also, was “ist” ohne der positiven Seinsordnung anzugehören: “die différance ist nicht. Sie ist kein gegenwärtig Seiendes, so hervorragend einmalig, grundsätzlich oder transzendent man es wünschen mag. Sie beherrscht nichts, waltet über nichts, übt nirgends eine Autorität aus.”

Différance nennt Derrida eine Differenz, die dem System Identität-Differenz nicht angehört. Die différance ist nicht das Negative, das einer Position zur Selbstvermittlung verhilft. Das Denken der differance ist weder negativ noch dialektisch, noch spekulativ. Es verweist auf ein Spiel, das sich in allem der dialektischen Arbeit der Negation entzieht. Die différance eröffnet erst den Spielraum der begrifflichen Arbeit und der sie organisierenden Binaritäten. Sie eröffnet ihn, indem sie sich ihm entzieht, indem sie den Regeln des von ihr eröffneten Spiels nicht selbst noch entsprechen kann. Denn ihr eigenes Spiel, das Spiel der différance, entspricht der Regellosigkeit selber. Mit ihm ist “auf eine Ordnung verwiesen, die jener für die Philosophie grundlegenden Opposition zwischen dem Sensiblen und dem Intelligiblen widersteht. [...] Der Begriff Spiel hält sich jenseits dieser Opposition, er kündigt in der Nachtwache vor der Philosophie und jenseits von ihr die Einheit des Zufalls und der Notwendigkeit an in einem Kalkül ohne Ende.”

Die différance entzieht sich, sie verweigert sich, sie widersteht der Metaphysik der Präsenz. Sie ist eine Art irreduzibler, d.h. widerständiger, Nicht-Präsenz, Abgrund jeglicher Präsenz, der selbst weder als Präsenz noch als präsentische Absenz denkbar wäre. Das Spiel dieses Abgrunds, das wir mit Heraklit, mit Nietzsche, mit Heidegger, das Weltspiel nennen, heißt bei Derrida Spiel der différance. Die différance öffnet den Spielraum dessen, was Heidegger die abendländische Metaphysik und Derrida die Geschichte des Logozentrismus nennt. Aus dem Abseits der okzidentalen Onto-Theologie steuert das Spiel der différance die Produktivität, die Differenzierungen, die Identifikationen, die Taxinomien und Typologien einer am Präsenzmodell – am Begriff lebendiger Gegenwart und Anwesenheit (ousía ) – orientierten Tradition. Sie ist “Ursprung” der Metaphysik, “Ursprung” des logos, der selbst nichts als Ursprung der metaphysischen Denkbewegung ist. Deshalb kann die différance nicht mehr Ursprung heißen. Sie ist “der nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der Differenzen. Folglich kommt ihr der Name 'Ursprung' nicht mehr zu.”

Das Denken der différance muß sich als Denken des “Ursprungs” des Ursprungs denken. Es weist in den Abgrund des Logozentrismus, es öffnet das Denken auf einen Raum jenseits des logos, jenseits der ratio, der certitudo, des Selbstbewußtseins, insofern dieses sich als reine Selbstaffektion vorstellt. Es ist ein Denken, das sich zwischen den Alternativen Ungewißheit (Erwartung, Hoffnung) und Gewißheit (Berechnung, Kalkül), zwischen Öffnung und Schliessung zu entscheiden weigert, indem es den Spalt (die Differenz) zwischen diesen Optionen offen hält. Es entscheidet sich für den Konflikt zwischen sämtlichen metaphysischen Optionen, die vom Modell Präsenz/Absenz abhängen: Aktivität/Passivität, Kultur/Natur, Subjekt/Objekt etc. Für den Konflikt also, den Heidegger als den Urstreit von aletheia und lethe anspricht, für den Ur-Konflikt, oder wie Derrida die différance auch nennt, für die Ur-Gewalt, die arche-violence.

3. Die hyperboreische Welt des Realen, ist, was Foucault in seinem Text zu Blanchot den “unermessliche Raum” der Berührung von Ursprung und Tod – oder wie wir sagen, von Öffnung und Verschliessung, Unverborgenheit (aletheia) und Verborgenheit oder Vergessen (lethe) – nennt: “Das reine Außen des Anfangs, auf dessen Aufnahme die Sprache ihre Aufmerksamkeit richtet, verfestigt sich niemals zu einer unbeweglichen, durchschaubaren Positivität; und das ständig neu begonnene Außen des Todes, das dieses zum Wesen der Sprache gehörige Vergessen ans Licht zieht, hat keine Grenze, von der aus endlich die Wahrheit sichtbar würde. Stets schlägt das eine sogleich ins andere um und umgekehrt; und der Tod eröffnet immer wieder die Möglichkeit eines neuerlichen Anfangs.”

Das hyperboreische Subjekt erfährt das Reale als Kompossibilität des Inkompossiblen. Die Erfahrung dieser Kompossibilität ist Erfahrung des reinen Außen, die das Subjekt in eine jeglicher Dialektik entfremdeten Fremdheitszone trägt. Bis zur Ununterscheidbarkeit treffen Aufgang und Untergang, Ursprung und Horizont in ein und derselben Sprache aufeinander: Tod und Leben in ein und “dasselbe neutrale Licht [ge]taucht – hell und dunkel zugleich.” Es ist diese Logik des Zugleichs, die Logik der Simultaneität des Ungleichzeitigen, der Ununterscheidbarkeit, der “wechselseitige[n] Transparenz des Anfangs und des Todes”, die das Denken des Außen mit dem heraklitischen Erbe einer nicht-dialektischen gegenstrebigen Fügung zu teilen scheint.

Das Fragment 20 sagt über die Menschen und ihr Verhältnis zu Tod und Leben:

“Da sie geboren sind, nehmen sie auf sich zu leben und den Tod zu haben (– vielmehr auszuruhen –) und Kinder hinterlassen sie, daß neuer Tod geboren wird.”

Die Menschen sind Subjekte des Lebens und des Todes. Sie sind Subjekte der ontologischen Kompossibilität von Tod und Leben. Der heraklitische logos ist ein anderer Name für diese Kompossibilität, die im 2. Fragment to xyno heißt, was weniger das Allgemeine als das gemeinsam Mögliche heißt. Das Subjekt des Lebens ist bereits auf den Tod bezogen. Lebend zeugt es neues Leben. Mit jeder dieser Zeugungen wird neuer Tod geboren.