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MARCUS STEINWEG
 

DER SCHLAF, DIE MUTTER, DAS MEER

Sie berührte seine Stirn, indem sie die Augen schloß. Blind vor Erregung auf ihn zutrat. Seinen Kopf zwischen die Hände nahm, um sich überhastet in einen der nächsten Räume zu drehen, von denen er nicht wissen konnte, was in ihnen mit ihr geschah.

Philosophie – Es gibt Philosophie nur als Bezogenheit auf das Unbezügliche. Das Subjekt hat sich auf eine Namenlosigkeit überschritten, die es verstört.

Stolz – Stolz ist der Name für die Seinsweise der selbstaffirmativen Selbsterhebung in realer Erniedrigung und Entrechtung. Stolz zu sein bedeutet, in objektiver Unfreiheit absolutes Freisein zu riskieren. Der Stolz fordert vom Subjekt des Stolzes diesen besonderen Mut. Das ist der Mut zur Selbstüberfliegung, der Mut zum Übermut. Das Subjekt des Stolzes ist übermütiges Subjekt, Subjekt einer gewissen Unangreifbarkeit. Es bewahrt sich die Resistenz eines intakten, den Zerstörungen und Demütigungen der Tatsachenaffekte enthobenen zweiten Körpers. Der Körper des Stolzes ist der Körper der Freiheit, eine sich gegen die Negativität der Tatsachen erhebende Kraft. Diese Kraft ist selbst nicht negativ. Sie ist die aus der Widerständigkeit (aus dem Schmerz) geborene Intensität einer rückhaltlosen, wilden, entrechteten Bejahung (Blanchot). Und wie alle Bejahung hat sie das Leben – den losen Schwung der Kontingenz und ihrer Ereignisse – als Zielpunkt einer hyperbolischen Verausgabung gewählt.

Er mußte sich eingestehen, daß eine dumpfe Müdigkeit in seinem Herzen wohnte, - grenzenlos, unbeherrschbar, namenlos und absolut.

Selbstüberwindung – Der hyperbolische Mensch ist Subjekt der Selbstüberwindung, hyperboreisches Subjekt.

Nie würde es ihm gelingen, sich jenseits des Schlafs zu begegnen. Alles, was ihn anging gehörte zu dieser Trauer um den unmöglichen Tag.

Glück – Das Glück ist die Wahrheit des Subjekts.


Ikarus – Ikarus ist ausgeschert. Er ignoriert die Warnung des Vaters, das Recht der Sonne nicht zu verletzen. Während Daedalus und sein Sohn in der Luft sind – im Raum der Hybris – will Ikarus erneut beschleunigen. Als Subjekt dieser verschärften hyperbolé wird er unter den Blicken seines Vaters explodieren. Es ist eine doppelte Überstürzung, derer sich Ikarus schuldig macht. Die erste ist das Fliegen selbst, die Übertreibung, die sich mit dem reinen Flug verbindet. Die entscheidende und todbringende Anmaßung aber liegt in der Übertreibung der Übertreibung, in dieser letzten Beschleunigung, die Ikarus, einmal aufgestiegen, höher steigen und schließlich stürzen lässt.


Kraft – Das Subjekt ist Kraft der Selbsthervorbringung. Es ist autopoietisches Subjekt. Foucault definiert den Drang zur Selbstverbesserung, der das Subjekt ausmacht, als Kraft sich selbst zu setzen, sein Selbst in der Berührung der Sonne – in einem Akt der Selbstverschwendung – zu konstituieren.

Seine Erwartungen zerschlugen sich an dieser Masse, am dunklen Stoff einer gehöhlten Hoffnung, in der er seine Substanz vermutete, die ihn überschritt.


Kind – Das Kind baut sich einen zweiten transnaturalen, solaren Körper. Sein Spiel ist grund- und regellos. Es erfindet sich am Abgrund einer Gleichgültigkeit, die zur Grausamkeit des Seienden im Ganzen, gehört. Es spielt, ohne die Folgen seines Spiels abzusehen. Es rechnet nicht, es denkt weder zurück noch voraus. Es überstürzt sich, indem es spielt. Wie das Kind des heraklitischen Weltspiels bewegt es sich an der Grenze der Verrücktheit. Nietzsche ist der Denker der Unschuld seines Spiels. Nietzsche, der ”das Spieler-Kind denkt.” Versucht das Kind seine Faktizität zu erproben oder realisiert es, was die Faktizität überschreitet: das Jenseits seiner akuten Situation? Verharrt es in der Immanenz des Möglichen oder hat es mit der Durchlöcherung der Immanenz auf das Unmögliche begonnen?


Seine Hoffnung: Es müsse die Möglichkeit geben, den Schlaf zu durchqueren, wie man ein Land durchquert. Ein Territorium mit gesicherten Grenzverläufen und algemein anerkannter Identität. Eine Reise würde ihm bevorstehen an den Anfang des ersten Tages, und sie schien ihm nicht unendlich sein zu dürfen.


Anmut – Das Subjekt der Anmut ist ein seine faktische Unfreiheit, seine normale Angst, überfliegendes Subjekt. Es berührt eine andere Sphäre als die des Zeitgemäßen. Es überschreitet den Zeit-Spiel-Raum der Aktualität. Das Subjekt der Anmut ist nicht-aktuales Subjekt des Unzeitgemäßen. Wir wissen, dass Deleuze mit Nietzsche die Kategorie des Unzeitgemässen für eine neue Erfahrung des Ewigen reserviert: das Ewige ist das Infinite. Es ist die Grenzenlosigkeit selbst. Anmut legt sich über die Züge eines Subjekts, das den Mut der Berührung des Unberührbaren aufbringt. Anmut zeichnet die Gegenwart dessen, der sich der semiotischen Niederlage öffnet. Das Subjekt der Anmut öffnet sich auf die semiotische Schliessung, auf die Sphäre der Insignifikanz. Was den anmutigen Mut vom narzisstischen Unmut unterscheidet, ist die nahezu übermenschliche Bereitschaft als Ereignis der Öffnung - statt einen neuen Horizont - eine absolute Grenze zu empfangen.


Mutter – Die Mutter existiert nicht.

Lider – Lacan hat den Glanz der Anmut auf den Lidern Antigones gefunden. Es ist der Schimmer der Widernatürlichkeit selbst.

Manchmal kam ihm diese Müdigkeit dazwischen. Nie gemiedene Müdigkeit, über die er nicht entschied. Er widmete sich ihr in Momenten lodernder Verzweiflung. Mühelos nistete er sich in ihr ein. Er schlief in ihr. In der Mitte des Ozeans auf dem Kamm der höchsten Welle. Träume aber halten kurz und seine Hilflosigkeit konnte sich jenseits des Wassers zur Ohnmacht steigern eines gespensterlosen Schlafs.


Transzendenz – Die Transzendenz ist das Wesen eines Subjekts ohne Wesen. Das Subjekt ist ekstatisches Subjekt einer primordialen Selbstüberschreitung. Es ist Subjekt dieser ontologischen Nacktheit und Armut, nichts als Subjekt der Leere, der Unbestimmtheit und Wesenslosigkeit zu sein. Dieses Subjekt taucht im Denken des 20. Jahrhundert als Subjekt des Unzuhause (Heidegger), als Subjekt des Außens (Blanchot), als Subjekt der Freiheit oder des Nichts (Sartre), als Subjekt des ontologischen Mangels oder des Realen (Lacan), als Subjekt des Chaos oder des Werdens (Deleuze/Guattari), als Subjekt der De-Subjektivierung und Selbstsorge (Foucault), als Subjekt des Anderen (Levinas), als Subjekt der différance (Derrida) oder als Subjekt des Universellen oder der Wahrheit (Badiou) auf. Es ist ein Subjekt, dessen Subjektivität sich mit der Dimension des Nicht-Subjektiven zu decken scheint. Ein Subjekt ohne Subjektivität.


Subjekt – Subjekt sein heißt, sich auf ein Außen, eine Andersheit und Unmöglichkeit hin zu überschreiten, um sich als Subjekt der Überschreitung zu affirmieren.


Sein Erwachen war kein Erwachen mehr. Er wechselte lediglich von einer in eine andere Kabine der einen, unveränderlichen Nacht.


Tatsachen – Der Tatsachen-Realismus der Tatsachen-Subjekte entspricht dem Willen der Selbstreduktion dieses Subjekts auf seinen Tatsachen- oder Objekt-Status. Das Tatsachen-Subjekt will kein Subjekt (der Wahrheit) sein. Die Tatsachen-Welt ist der Raum der Doxa, der Interessen und Illusionen, die den Kontakt zur Wahrheit des Subjekts erschweren oder verhindern. Sie ist die Sphäre der Unwahrheit. Eine Tatsachen-Wahrheit hat keinen anderen Sinn als Wahrheit zu verhindern.


Chaos – Immer geht es darum, sich auf eine aktive und riskante Weise zum Chaos zu verhalten, ohne von ihm verschluckt oder zerrieben zu werden. Man muß sich in die äusserste Nähe dessen wagen, was am meisten bedroht.


Nie hätte er sich diesem Licht entziehen können, das, ohne besonders hell zu sein, ein lebendiges Funkeln abwarf und eine Art von Glitzern streute in die Nacht. Nichts war befremdlicher als die dunkle Evidenz, die sie umgab. Sie hatte ihr Geheimnis daraus gemacht. Ein Rätsel, um das sie ihn kreisen ließ und in das sie sich verschloß.


Wahr – Was wahr ist, kann unmöglich gewiß sein.


Das Reale – Das Reale ist der Name für das, was dem Raum der Gewißheit nicht angehört. Das Reale nennt die Grenze und das konstitutive Außerhalb der Tatsachen-Dimension. Die Berührung des Realen ist Berührung der Inkonsistenz des Tatsachen-Systems. Das Reale ist das Maßstablose. Es geht seiner Ordnung und Mäßigung in Wertmaßstäben voraus. Es ist das Inkommensurable schlechthin.


Certitudo – Gewißheit ist notwendig Tatsachen-Gewißheit. Wahrheit ist, was die Möglichkeit von Gewißheit, das heisst von Selbstberuhigung im Tatsachen-Universum durch Tatsachenglaube unterbricht.


Einsamkeit – Das Subjekt kann sich im Realen – in der Wahrheit – nicht niederlassen. Es ist Subjekt ungeteilter Unruhe, hyperbolischer Beschleunigung, atomarer Nervostät. Subjekt der wesentlichen oder hyperboreischen Einsamkeit.


Schlafen/Fliegen – Das Subjekt des Schlafs hat sich auf die Nacht der Nicht-Evidenz, die Dunkelheit des Unmöglichen überschritten. Es überfliegt den Raum der bloßen Tatsachen und ihrer transzendental-historischen Determinanten. Schlafend, träumend, fliegend beschleunigt es dem Unbekannten, dem Inkommensurablen zu. Es wendet sich in dieser Zuwendung von der Domäne der täglichen Gewißheiten ab, von der objektiven Sphäre, die es im Bekannten hält. Fliegen impliziert alle Risiken des Abhebens, der Geschwindigkeit und des Abstürzens. Fliegen verlangt den Mut zur unbekannten Bewegung . Das Fliegen ist die Bewegungsform der Philosophie.


Doxa – Doxa ist das Wort für die Meinung, die keine Wahrheit ist. Zur Doxa gehört, dass sie als Wahrheit auftritt. Die Doxa scheint eine Wahrheit zu sein. Sie ist eine in der Realität erfolgreiche Illusion, die den Kontakt mit dem Realen unterbricht. Sie ist Tatsachen-Wahrheit, um nicht Wahrheit des Realen zu sein. Doxa ist auch ein Name für das blosse Gefühl.


Traum – Wie jeder Traum ist auch der Traum der Wahrheit, das Ereignis einer Befreiung und Entfesselung, die sich der Wahrheit des Traums nicht mehr verschliessen kann. Als ginge es darum für diese doppelte Wahrheit wachsam zu bleiben: für den Traum der Wahrheit und für die Wahrheit des Traums, jenseits der Gewißheiten und der von ihnen vertretenen Norm. Die Welt der Tatsachen ist die gemeinschaftliche Welt geteilter Evidenzen, während sich das Subjekt im Schlaf auf einsamerere, nur von ihm bevölkerte Welten öffnet, die das Universum seiner Träume sind. “Als sei der Traum wachsamer als das Wachen, das Unbewußte bewußter als das Bewußtsein” Als ginge es darum, zunächst und vorallem für seine Träume und für sein Unbewußtes Verantwortung zu übernehmen. “In Allem wollt ihr verantwortlich sein!”, sagt ein Aphorismus aus Morgenröte, “Nur nicht für eure Träume! Welche elende Schwächlichkeit, welcher Mangel an folgerichtigem Muthe! Nichts ist mehr euer Eigen, als eure Träume! Nichts mehr euer Werk!”


Um der Faszination des Todes, der Grausamkeit und Gewalt nicht nachzugeben, blieb ihm die Kraft fordernder Blicke. Er antwortete mit einer Stimme, die sie als Echo ihrer Erwartungen empfing. Vom Geheimnis ausgeschlossen, gehörte diese Stimme der Ordnung der Berührung an.


Ontologische Armut – Das Eigenste des Menschen gehört dem Menschen nicht.


Diaphora – Die hyperboreische Welt ist Welt der Wahrheit, solange wir unter Wahrheit die Zone der Inkommensurabilität, des Austrags des Konflikts von Licht und Dunkelheit, Erinnerung und Vergessen, Öffnung und Verschliessung, aletheia und lethe verstehen. Die hyperboreische Wahrheitswelt ist die Sphäre dieses Konflikts, der Raum der diaphora, der als Hypo-, Inter- und Hyper-Sphäre das Universum der Tatsachen von allen Seiten her begrenzt. Diaphora ist das griechische Wort für den Ur-Streit, für, wie Deleuze sagt, den “Wettstreit zwischen der Immanenz und der Transzendenz”. Die diaphora umreißt das Umrißlose, das Unermessliche, die primordiale Ungeordnetheit des Seienden in seiner ungezählten Mannigfaltigkeit. Wahrheit ist deshalb weder Aussagen-Wahrheit, noch beugt sie sich, wie die Richtigkeit (orthotes), dem Gesetz der Zählbarkeit, dem Kalkül.


Subjekt – Subjekt zu sein bedeutet, mit einer Wahrheit in Kontakt treten. Es gibt so etwas wie ein Subjekt nur als Wahrheits-Subjekt.


Wahrheitsberührung – Eine Wahrheitsberührung geschieht, wenn das Subjekt über sein aktuales Selbst hinauszubeschleunigen beginnt und sich im Kontakt mit dem Nicht-Kontaktierbaren im uferlosen Meer der Unentscheidbarkeit verliert.


Hyperbolismus – Das hyperbolische Wahrheits-Subjekt ist Subjekt der Überschreitung der Überschreitung. Es riskiert einen Wahrheits-Kontakt, der seine Selbsteinschließung im Gewißheits- und Gewissenshorizont ebenso der kritischen wie der schlicht rebellischen Intelligenz verhindert. Es widersteht dem Appell zur Selbsteinschreibung in das System der Anerkennung ebenso wie der Versuchung sich im Phantasma einer reinen Äusserlichkeit oder Reinheit zu reflektieren. Das hyperbolische Subjekt übertreibt sich auf den Streit, die Differenz, von Anerkennung und Übertreibung. Es bezieht sich auf das Unbezügliche. Es autorisiert sich als Stätte eines absoluten Konflikts.


Primordiale Verrücktheit – Was die Wahrheit von der Gewißheit unterscheidet ist, dass sie als solche verrückt ist. Der Raum der Wahrheit (der Diaphora, der Unentscheidbarkeit, des Chaos), ist der Raum einer irreduziblen, einer primordialen Verrücktheit, in die sich das Subjekt ursprünglich eingelassen findet. Subjekt zu sein bedeutet, sich in ein explizites Verhältnis zu dieser Wahrheit zu setzen, die ebenso Unwahrheit, gleichermassen lethe (Verborgenheit) wie aletheia (Unverborgenheit) “ist”. Es ist dieses gleichermassen, diese ungeheure Gleichzeitigkeit und Ebenbürtigkeit oder “Gleichursprünglichkeit der Wahrheit und der Unwahrheit”, die das Subjekt von Anfang an in Atem hält.


Abgrund – Kunst und Philosophie sind (auto)aggressive Halsüberkopf-Bewegungen. Das Subjekt der Kunst, das Subjekt der Philosophie, hat keine Zeit. Es gibt Kunst und Philosophie nur als riskante Selbstüberstürzung. Als blinde, gewaltsame, unberechenbare Bewegung. Kunst und Philosophie sind exakte Übertreibungen. Und “Übertreibung und Genauigkeit sind vielleicht ebensowenig unvereinbar wie Übertreibung und Gerechtigkeit”. Das Subjekt dieser neuen Präzision ist ein Subjekt ohne Subjektivität. Es erfährt sich als Subjekt des Ozeans und als Subjekt der Wüste. Die Wüste, der Ozean, sind die hyperboreische Unendlichkeits-Zone. Hier verliert sich jeder Horizont. Das ozeanische Wüstensubjekt ist horizontloses Subjekt einer primordialen Entgrenzung. Es erfährt die Grenzenlosigkeit als eigentliche Grenze. Es wird durch eine Art von Infinität begrenzt. Das Infinite ist nicht das theologische Ewige. Es ist die Grenzenlosigkeit des Faktischen. Das Faktische aber ist nicht das Tatsächliche. Das Tatsächliche ist nur das eingegrenzte Faktische. Seine Umgrenzung. Das Faktische selbst ist grenzenlos. Hier bewegt sich, hier taumelt, hier entscheidet das hyperboreische Wüsten-Subjekt ohne heimisch zu werden. Heidegger nennt den hyperboreischen Wüstenraum das Unheimliche. Die Unheimlichkeits-Zone als Unheimischkeits-Sphäre ist der Abgrund.


Weltspiel – Im Weltspiel ergreift sich das Subjekt als Subjekt der Unschuld. Heraklit, Nietzsche und Deleuze verbinden dieses Spielersubjekt mit dem Bild des Kindes. In ihm verdichten sich alle Notwendigkeiten des überlieferten Logos, der Vernunft als Weltvernunft. Es gibt Verantwortung, Schönheit, Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit nur als Übertriebenheit, als regelloses Spiel der Unschuld, als Exzess.


Entschärfung – Um eine Formbehauptung oder Wahrheitsbehauptung zu sein, müssen Kunst und Philosophie sich der “Ordnung des 'Politikmachens'” verweigern. Das ist die Ordnung des Möglichen, der Pragmatik und ihrer praktischen Klugheit, der situativen Intelligenz. Es ist die Ordnung der phronesis, wie Aristoteles sagt. Die Dimension der diplomatischen, lebenstüchtigen, umsichtigen, besonnenen Vernunft. Phronesis nennt Aristoteles die Intelligenz im Partikularen, in der Unfreiheit. Intelligenz, die im Verhältnis zu der Situation, in der sie entscheidet und handelt, operiert. Sie ist (Gadamer hat es wiederholt betont) das Prinzip der Hermeneutik: diplomatische, wägende und abwägende Vernunft. Das nähert sie der pragmatischen Schätzung der Doxa, des gesunden Menschenverstands. Zu Kunst und Philosophie gehören absoluter Widerstand gegenüber der Doxa und der Phronesis. Denn sie zwingen das Subjekt in die Verlangsamung, in eine Art von Selbst-Ausbremsung. In den Gewaltverzicht. Philosophie und Kunst wollen das Subjekt als Behauptungs-Gewalt aufrichten, die den Entschärfungen der Doxa und der Phronesis resistiert. Eigentlich entscheidet und handelt das Subjekt nur, indem es seine Situation vernachlässigt, ignoriert und überschreitet, indem es die Tatsachen-Textur durchsticht. Subjekt ist nichts als der Name dieser Durchstechung und der Hyperbolé, der Hybris, die sie notwendig darstellt. Deshalb das Misstrauen gegenüber dem Subjekt einer solchen Selbstautorisierung: weil das Subjekt sich (ver)weigert. Weil es seiner Entschärfung durch den Geist der Tatsachen resistiert.


Horizontüberschreitung – Wahrheit wird von Philosophie und Kunst nicht begründet. Wahrheit lässt sich nur behaupten. Wahrheit ist unbegründbar. Wahrheit ereignet sich, wenn das Subjekt sich der symbolischen Ordnung, seiner sozio-kulturellen Integrität ebenso wie den Phantasmagorien des Imaginären entfremdet. Es gibt Wahrheit in dem Moment, in dem Philosophie und Kunst das Unmögliche in der Riskanz der Horizontüberschreitung berühren.


Wahrheitskonstitution – Philosophie und Kunst behaupten keine Tatsachen. Sie konstituieren Wahrheiten, die die Ordnung der Tatsachen korrumpieren.


Anderswo – Das ist der Utopismus der Wahrheit, dass sie als solche verrückt ist: anderswo. Dass sie das Register der Tatsachen sprengt. Dass sie an einem anderen, in diesem Register nicht verzeichneten Ort insistiert.


Ruhelos – Es gibt Subjektivität nur im Modus einer gewissen Aufgeregtheit. Das Subjekt der Autopoiese ist Subjekt einer absoluten Turbulenz.


Nachbarschaft – Philosophie und Kunst sind riskante Liebesbewegungen, Bewegungen des Überschwangs, der Selbstüberstürzung und Selbstverschwendung, die objektive Differenz bejahen, um absolute Nachbarschaft zu affirmieren.


Selbstaufrichtung – Liebe zur Selbstaufrichtung ist Liebe zur Wahrheit des Subjekts, das die Traumfigur eines sich zu sich bekennenden Begehrens, einer unsentimentalen Leidenschaft und träumerischen Liebe zum Realen ist. Das Subjekt dieser Liebe will seine Souveränität in faktischer Nicht-Souveränität behaupten. Den Kontakt mit dem Realen erfährt es als Schmerz. Der Schmerz ist die Erfahrung der Öffnung – das Subjekt überschreitet sich und die Grenzen seiner Innerlichkeit um in einen expliziten (verantworteten) Kontakt mit dem Außen zu treten – in der das Subjekt die Grenze von Offenbarkeit, Aletheia, Unverborgenheit erfährt. Der Schmerz ist kein Symptom, der auf eine causa verwiese. Es gibt kein etymon des Schmerzes, der Schmerz hat weder Sinn noch Kern.