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MARCUS STEINWEG
 

DIE PHILOSOPHIE UND DAS MÄDCHEN

Erstveröffentlichung in Hans-Peter Schwerfel (Hg.), "KUNST NACH GROUND ZERO", Köln 2002
Was an Antigone könnte mehr verwirren als die Tiefe ihrer Wut, die zugleich ein Akt der Liebe und des Wahnsinns ist? Wer hätte sich ihrer monströsen Ungeduld entziehen können? Wem könnte Antigone gleichgültig gewesen sein?

An Antigone bewegt, dass sie ein Mädchen ist. Ein Mädchen? Was ist das – „ein Mädchen“, und was bedeutet es für das ontologische Subjekt? Antigone ist ungeheuerlich jung. Sie ist ein Kind, dessen Spiel leicht und entschieden, grausam und unschuldig, waghalsig und spielerisch in einem ist. Indem es die Anweisungen und Ratschläge seiner Umgebung zurückweist, weigert sich das Mädchen ein anderes als sein Spiel zu spielen. Nichts wird es daran hindern, nach eigenen Regeln zu spielen. Weder die Drohungen Kreons noch die Gewissheit, dass ihr Eigensinn auf den Tod hinausläuft, der von Anfang an unvermeidlich ist. Es reicht nicht aus, von einem männlichen Phantasma zu sprechen: Die Phantasie, die man männlich nennt, dafür anzuklagen und verantwortlich zu machen, dass Antigone sterben muss. Die Figur einer Spielerin, die mit dem höchsten Einsatz spielt, produziert das Bild einer Würde, der im ontologischen Register nur der Tod entspricht. Es gibt Würde nur im Verhältnis zum Tod, zur absoluten Grenze, die die Evidenz des ökonomischen Kalküls verdunkelt, indem sie das Gesetz des Tages unterbricht. Antigone repräsentiert den Leerlauf der Ökonomien. Sie hat sich mit der Nacht verschwistert. Sie befindet sich außerhalb des Lichts und seiner Ordnung, jenseits oder diesseits der sozialen, politischen und ästhetischen Norm. Das ist der Grund ihrer Schönheit und Anmut, auf die Lacan in seinem Ethik-Seminar verweist. Antigone ist schön durch ihre Einzigartigkeit, sie besticht durch die Seltenheit einer Würde, die sich als Widerstand gegen das Prinzip der Unterwerfung konstituiert. Denn Antigone repräsentiert die Widerständigkeit selbst. Statt Vor- und Nachteile ihres Handelns zu bedenken, handelt das Mädchen in einer Bewegung des Wahnsinns, der manía, einer durch nichts zu hemmenden Wut. An Antigone verführt und überzeugt, dass sie durchdreht, ihre Rücksichtslosigkeit (sich selbst und anderen gegenüber), diese Art von Amoklauf, der den „Dienst an den Gütern“, „privaten Gütern, Familiengütern, Gütern des Hauses, anderen Gütern, die uns angehen, Gütern des Metiers, des Berufes, der Stadt“ , der gesellschaftlichen Anerkennung und des praktischen Vernunftgebrauchs unterläuft. Ihr Hyperbolismus entzieht sie der moralischen Verwertung, indem er die sozialen und politischen Kredite überzieht, sich ins Unendliche verschuldet, um sie nicht Teil dieses Systems der Rentabilität und Konsolidierung werden zu lassen. Es ist eine Schuld jenseits der Schuld mit der Antigone zu kämpfen hat, jenseits dessen, was das System als Schuld ausgibt im Geschichtsgang des christlichen Subjekts.

Hier beginnt das Märchen vom Subjekt. Eines Subjekts, das sich seine Unschuld zurückerobert und sich als rebellisches konstituiert. Je nach Blickwinkel und Perspektive wird man das Subjekt terroristisch, gewaltsam und verantwortungslos nennen. Alles, was handelt, denkt sich zu einem gewissen Zeitpunkt so. Alles, was sich weigert, sich in das Register etablierter Werte einzutragen, macht sich verdächtig, bekommt den Widerstand der sozio-politischen Mächte zu spüren. Die Alternative läge in der befremdlichen Objektivierung, die dem Einzelnen nicht mehr als die Passivität des Funktionärs, eines, wenn man so will, Beamten der aktuellen Ordnung zumutet. Wir nennen das die Entschärfung des Subjekts. Lacan spricht in diesem Zusammenhang von Amputation:
„Die Bewegung, in die die Welt, in der wir leben, hineingeraten ist, und in der die universale Ausrichtung des Dienstes an den Gütern bis in ihre letzten Konsequenzen vorangetrieben wird, impliziert eine Amputierung, Opfer, das heißt diesen puritanischen Stil im Verhältnis zum Begehren, der historisch sich festgesetzt hat. Die Ausrichtung des Dienstes an den Gütern auf universaler Ebene löst gleichwohl nicht das Problem des gegenwärtigen Verhältnisses, das, in dem kurzen Zeitraum zwischen Geburt und Tod, ein jeder Mensch zu seinem eigenen Begehren hat – es geht nicht um das Glück künftiger Generationen.“
Auf der Höhe des Kapitals zu denken (das Kapital wäre in erster Abstraktion das Gesetz dieser Ausrichtung), wie es Badiou von den Philosophen der konstitutiven Ohnmacht und des Heiligen fordert, bedeutet sich mit dieser „Ausrichtung des Dienstes an den Gütern auf universaler Ebene“ zu konfrontieren. Es verlangt, sich weder der Diagnose noch der Frage ihrer Konsequenzen für den überlieferten und künftigen Status des Subjekts zu entziehen:
„Die Philosophie hat bis vor kurzem kaum auf der Höhe des Kapitals zu denken vermocht, da sie bis ins Innerste ihrer selbst den vergeblichen Sehnsüchten nach dem Heiligen, dem Spuk der Präsenz, der dunklen Macht der Dichtung und dem Zweifel über ihre eigene Legitimität Raum ließ. Sie konnte die Tatsache nicht in Denken verwandeln, daß der Mensch unwiderrufbar ‚Gebieter und Eigner der Natur’ geworden ist, und daß es sich dabei weder um einen Verlust noch um ein Vergessen handelt, sondern um seine höchste Bestimmung – wenn auch noch in der undurchsichtigen Beschränktheit der verrechneten Zeit gestaltet. Die Philosophie hat die ‚cartesianische Meditation’ unvollendet gelassen, indem sie sich in der Ästhetisierung des Wollens und im Pathos des Endes, dem des Schicksals des Vergessens und dem der verlorenen Spur verirrt.“
Und wenn das Denken des Kapitals sich als Denken der verlorenen Spur behaupten muss, wenn eine universale abstrakte Maschine denken das Denken dessen verlangt, was sich dieser Maschine widersetzt, ohne unberührt von ihrer Arbeit, von ihren Ergebnissen und deren historischer Effizienz zu sein? Repräsentiert das Mädchen, das Antigone heißt, etwas anderes als diese Nichtrepräsentanz im System der etablierten Güter, das die Maschine der akkumulativen Sinnsteigerung, des Fortschritts, der Qualität und rentablen Investitionen ist? Auf der Höhe des Kapitals denken bedeutet Antigone zu denken als dessen unsichtbare Wahrheit und konstitutiver Taumel. Antigone „repräsentiert“ als Ausgeschlossene, was Bataille das Nicht-Repräsentierbare oder Heterogene nennt, eine „Gewalt, die nicht im Ökonomischen, überhaupt nicht in Bereichen der kalkulierenden Vernunft verwurzelt ist”, wie Habermas sagt . Das Heterogene ist der unsichtbare Abgrund des Subjekts, es konstituiert die Dimension der Subjektivität und des Grundes, ohne ihr als Element angehören zu können. Antigone steht abseits, wenn auch nicht jenseits des Kapitals.
Dieses Mädchen zu denken, bedeutet die inhärente Widerständigkeit des Subjekts zu reflektieren. Es bedeutet, was Lacan von der psychoanalytischen Therapeutik erwartet, den Versprechungen des Kapitals, der Verheißung des Glücks, der Harmonie und ontologischen Integrität zu widerstehen:
„Es gibt nicht den geringsten Grund dafür, daß wir uns zu Garanten des Bürgertraums machen. Ein wenig mehr Strenge und Festigkeit ist schon erforderlich, wenn wir der conditio humana die Stirn bieten wollen, [...] Ich stelle die Frage – muß das Ende der Analyse, das wahrhafte Ende, ich meine das, das darauf vorbereitet, Analytiker zu werden, nicht den, der sich ihr unterzieht, mit der Realität der conditio humana konfrontieren?“

Mit Deleuze lässt sich die Frage nach der conditio humana umformulieren: „Was ist das: ein junges Mädchen, eine Gruppe junger Mädchen?“ Was bedeutet das Mädchen im Verhältnis zum ontologischen Subjekt? Es scheint, als gäbe es so etwas wie die Ordnung junger Mädchen, eine Menge oder einen ganzen Haufen junger Mädchen. Wenn es so ist, dann gibt es hier wie in jeder anderen Allgemeinheit den Punkt der konstitutiven Ausnahme: ein Mädchen jenseits der Ordnung oder der Menge, den Exzess des Allgemeinen in der Singularität eines Mädchens ohne „Wir“. Dieses einsamste aller Mädchen markiert den in der Ordnung der Allgemeinheit (des Schwarms) nicht-repräsentierten, verdrängten oder unterdrückten, verheimlichten oder retouchierten Fleck, ein „Element, das innerhalb des Feldes dieser Allgemeinheit das Außen vertritt“, den „für dieses Feld konstitutiven Punkt des Ausschlusses.“ Insofern es das Mädchen als solches ist, ist es kein Mädchen mehr. Es behauptet die Wahrheit einer Menge oder Familie, indem es aus ihr heraustritt, sie überschreitet, um sich im Abseits dieser Ordnung und im Schatten jeder anderen Allgemeinheit mit sich, mit der absoluten Singularität eines Subjekts ohne Subjektivität, zu konfrontieren.

Das Mädchen ist an sich schon Überschreitung, seine Existenz ein tollwütiger Einwand, Präsenz jenseits des Erwarteten, beschleunigter Widerstand gegen die Allgemeinheit des „Systems“. Ein „übertrieben junges“ Mädchen, wie Blanchot einmal sagt, das die Grenze zum Erwachsenwerden überschritten und hinter sich gelassen hat. Unberührt vom Erwachsensein, sofern es die Wahrheit des (erwachsenen) Subjekts selbst ist. Eine „Form, die selbst außerhalb der Form liegt“ , Struktur jenseits der strukturalen Ordnung, ursprünglicher Exzess. Wir finden es im fliegenden Wechsel bedrohlicher Zustände. Zwischen Überhitzung und kaltem Fieber scheint es eine gewisse Leichtigkeit zu erreichen. Man könnte vom Zerfall der Ökonomie des Körpers sprechen. Es bedürfte einer neuen Ethik, einer Ethik der Immanenz und substanziellen Selbsterneuerung, um die Signale und Emissionen, die ein sich auflösender Körper im Moment der Verletzung und intensiven Rekomposition freisetzt (Schreie, Seufzer, Tränen usw.) in den Horizont der Frage der Verantwortung des Subjekts gegenüber sich selbst als Nicht-Subjekt (Singularität, Haecceitas) zu stellen, d. h. um die ethische Frage auf die Permanenz eines verschwindenden Körpers zu beziehen.

Der Körper des Mädchens ist der Körper des Widerstands, der Auferstehung, des Aufstands im allgemeinen (gewissermaßen gegen das Allgemeine), der Selbstaufrichtung, das heißt einer gewissen Militanz. Die Militanz des Mädchens ist affirmativer Widerstand. Sie ist keine reaktive, sie ist eine positive, konstruktive und innovative Tätigkeit, konstruktiver Widerstand, unschuldiger Eingriff ins Bestehende, „an eine Welt geknüpft“, die „kein Außen mehr kennt.“ Das Mädchen findet in der einfachen und befremdlichen Präsenz eines zweiten nahezu schwebenden Körpers die Genugtuung, die ihm das symbolische System verweigert hat. Es kommt sich leicht und überflüssig vor. Es repräsentiert nichts als diesen heiteren Überfluss, der der Ordnung der Vollzähligkeit ein Dorn im Auge ist. Seine Überzähligkeit kann triumphale Züge annehmen. Im Augenblick dieser grundsätzlichen Überschreitung des ökonomischen Kalküls nimmt es eine Stelle zwischen Aktivität und Passivität, Autonomie und Heteronomie ein. Es genießt seine Sinnlosigkeit und erfährt diesen sinnlos beschleunigten zweiten Körper als sein Leben, indem es auf ihm wie auf einem fremden Instrument zu spielen und zu proben beginnt. Es verlangsamt sich, um sich atmen zu hören. Lebt es noch, lebt es überhaupt? Dann beschleunigt es seine Atmung um den Exzess der Schwerelosigkeit zu spüren. Sein Körper kommt ihm leer und unmäßig vor. Es ist der Körper des Widerstands, des Angriffs und der Wende. Ein neuer, tropischer und katastrophischer Körper, „in der Lage neues Leben zu schaffen“ und eine „neue Politik“. Eine Serie ungeahnter Möglichkeiten scheint sich hinter jeder Regung seiner Glieder zu verbergen, die Chance eines neuen Verhältnisses zum Schrecklichen, zur Zukunft, zum Realen oder zum Chaos, zur absoluten Unbegreiflichkeit des Nichts.

Man kann dieses Nichts und seine Erfahrung mit der Erfahrung des Todes gleichsetzen, einer streng genommen unmöglichen Erfahrung (des Unmöglichen). Der Tod hat für das Subjekt des Todes keine Realität. Er ist realer als die Realität: das Reale der Realität selbst. Mit seinem Eintreten zerfällt die Realität des Subjekts zu Nichts. Der Tod, sofern er real ist, unterbricht die Realität als solche. Er ist die äußerste Spitze des Realitätssystems, indem er sich diesem System per definitionem entzieht. Man denke an die Szene, in der J. (aus Blanchots L?arrêt de mort) die sie betreuende Krankenschwester mit dieser Unbegreiflichkeit konfrontiert:
„ ‚Haben Sie den Tod schon gesehen?’ – ‚Ich habe tote Menschen gesehen, Mademoiselle.’ – ‚Nein, den Tod!’ Die Krankenschwester machte eine Geste des Verneinens. ‚Na, dann werden Sie ihn bald sehen.’“
Die Konfrontation mit dem Tod, der Affront des Todes hat hier die Figur der Ankündigung. Der Tod wird zum Gegenstand einer Botschaft, wenn auch keiner notwendig frohen Botschaft. Die Krankheit und die Erfahrungen, die sich mit ihr verbinden, machen aus J. eine Art Engel. Was sie sagt, wird zur Prophezeiung des Schrecklichen, dem sie sich selbst kaum entzieht. J., deren Jugend und Schönheit unvergleichlich sind, umkreist den Abgrund dieses Realen, ohne, zumindest für einen gewissen Zeitraum, von ihm angetastet oder ruiniert zu werden. Eine fabulöse Unangreifbarkeit lässt sie noch im Augenblick des größten Leidens schön und würdevoll erscheinen: „[und] die ganze wirre und fletschende Heftigkeit, über der sie hätte häßlich werden sollen, vermochten nichts gegen den durchwegs schönen und jugendlichen Ausdruck, der ihr Gesicht erhellte.“ Als stünde ihr ein zusätzlicher Körper zur Verfügung, der dem Schock des Realen widersteht. Der Augenblick ihrer Schutzlosigkeit ist zugleich Moment besonderer Schönheit und Würde, absoluter Freiheit und Souveränität. Wie wenig hätte man begriffen, wenn man diese Widerständigkeit mit Passivität gleichsetzte, als beugte sich das Mädchen irgendeinem ihm unbekannten und schädlichen Gesetz. Seine Erschrockenheit, die Empörung über die Sinnlosigkeit eines ritualisierten Alltags und die andauernde Unruhe verbinden sich zu einer ungewöhnlichen Souveränität der Behauptung, in der sich die Zartheit seines Wesens mit der Stärke einer elementaren Verweigerung versöhnt:
„ Es gibt nichts Bedeutenderes als eine solche Souveränität, die Verweigerung ist, und als diese Verweigerung, die [...] auch verschwenderischste Bejahung ist, die Gabe [...], das, was ohne Mäßigung und ohne Rechtfertigung entbindet, das Ungerechtfertigte, von dem aus Gerechtigkeit begründet werden kann.“

J. scheint über eine Art von Wissen zu verfügen, das sich der Ordnung des Wissbaren entzieht. Sie schwankt zwischen dem Abgrund des einmal Gesehenen und der Vulgarität des Sichtbaren, dem sie permanent misstraut. Man muss sich die Unzulänglichkeit ihres Arztes und ihrer Krankenschwester, sowie der gesamten Verwandtschaft in Erinnerung rufen, um das Ausmaß ihrer Verlassenheit zu erahnen. Man erhält den Eindruck einer intakten zerstörerischen Angst. Das Mädchen realisiert eine doppelte Fluchtbewegung: Es flieht das System der sozialen Evidenzen und Diktate, das System der Eltern, der Kindheit und der Schuld, ohne sich in der Einsamkeit dieser Fluchtbewegung einzumauern. Es begehrt einen Anderen, eine Art Zeugen oder Gefährten, der mit ihr der Vereinnahmung durch die „Sozialmaschine“ widersteht.

Nichts kann die Einsamkeit unterbrechen als der seltene und nahezu unmenschliche Akt der Zeugenschaft, zu dem die wenigsten Menschen fähig sind. Das Mädchen, das eine in sich übertriebene Leidenschaft steuert und dessen Sonderbarkeit ebenso beeindruckend wie beängstigend ist, verlangt aus seiner Singularität auszubrechen, um sie als solche zu bestehen. Es wiederholt das Unwiederholbare seiner Einzigartigkeit im Anderen, indem es ein Minimum an Normalität begehrt (Normalität beginnt und endet in dem Augenblick, in dem es mindestens zwei gibt, den anderen als Grenze und als Unterbrechung der Grenze von Singularität), um für einen scheuen Moment der Hingabe sein Schicksal in der Intimität des Liebesakts geteilt, wiederholt und bezeugt zu sehen. Es will sich im Blick und in der Sprache und in der Zuneigung eines Anderen verlängern. Es zerstört seine Einmaligkeit, verschwindet für diesen Augenblick der Verdoppelung im Anderen, um näher bei sich selbst zu sein. Es verlangt nach einer Pause, nach einer minimalen Verlangsamung der hyperbolischen Rhythmik, die es quält. Um atmen oder aufatmen zu können, um Luft zu holen und den Sinn seiner Überstürzung zu fixieren, begehrt es eine Art von Versöhnung mit sich, während es sich dieser „riesigen und bedrückenden Maschine“ widersetzt, die die Gesellschaft als ontologische Gemeinschaft des Kapitals, des transzendentalen Wir, der symbolischen Rituale und moralischen Handlungsanweisungen dekliniert.

Um im Strom seiner Singularität nicht ertrinken zu müssen, begehrt es eine gewisse Linderung dieser schwerwiegenden Unruhe, die es an sich erfährt. Gleichzeitig weigert es sich eine Position jenseits der elementaren Nervosität einzunehmen, die die Leidenschaft zur Störung des Systems (der Maschine und ihres „gefräßigen Laufs“ ) und der von ihm ausgegebenen Optionen ist. Denn damit „eine Entscheidung eine Entscheidung ist, muß sie das Programm unterbrechen oder mit ihm brechen, sie muß mit der einfachen Entwicklung oder Entfaltung einer Möglichkeit brechen. Darum ist eine Entscheidung das Unmögliche.“

Die Lust des jungen Mädchens streift das Unmögliche ohne es sich anzueignen, ohne das Unmögliche zu neutralisieren. Das Unmögliche ist der Name dessen, was sich nicht aneignen, internalisieren oder repräsentieren lässt, zumindest nicht ohne einen wesentlichen Verlust. Die lacanianische Behauptung, „dass Kunst als solche sich immer um die zentrale Leerstelle des unmöglichen-realen Dinges organisiere“ , impliziert den ideologiekritischen Auftrag, sich möglichst dicht an das Unmögliche zu wagen, dem Realen für den Moment einer nicht messbaren Spanne gewissermaßen in die Augen zu sehen. Der Augenblick dieser Begegnung ist notwendig erschütternd und revolutionär:
„Eine Gesellschaft, die die Stufe der Überhitzung erreicht hat, fällt nicht zwangsläufig in sich zusammen, sondern erweist sich als außerstande, einen Sinn zu produzieren, da ihre gesamte Energie von der informativen Beschreibung ihrer Zufallsvariationen in Anspruch genommen wird. Dennoch ist jedes Individuum in der Lage, in sich selbst eine Art kalte Revolution zu verursachen, indem es einen Augenblick die Flut informativer Werbung an sich vorbeiziehen lässt. Das ist sehr leicht zu bewerkstelligen. Es ist sogar noch nie so einfach wie heute gewesen, der Welt gegenüber eine ästhetische Haltung einzunehmen: es reicht aus, einen Schritt zur Seite zu treten.“
Es gibt, sagt Heiner Müller, „diese tradierte Vorstellung von Revolution als Beschleunigungsmoment. Vielleicht stimmt das gar nicht, vielleicht geht's immer darum, die Zeit anzuhalten, um Zeitverlangsamung“.

Das Mädchen interveniert, indem es zur Seite tritt. Es tritt zur Seite, es geht nicht aus dem Weg. Es lässt die Maschine, die Gesellschafts-, Gewissens- und Schuldmaschine, für einen Moment still stehen, es verweigert sich ihr. Nicht um selbst stillzuhalten und für sich zu sein, sich zurückzuziehen, den Kreis des symbolischen Kapitals einfach und unumkehrbar auf die absolute Einsamkeit hin zu überschreiten, sondern um mit erhöhter Geschwindigkeit, einem Tempo, das zwangsläufig vereinsamt, an den Ort dieser Überschreitung und seiner Verleugnung zurückzukehren. Das Mädchen interveniert, indem es sich – seine Stimme, sein Atmen, seine Entschlossenheit – gegen den Takt der Maschine beschleunigt, indem es ihren Herzschlag kreuzt, durchquert und durcheinander bringt. Um den ökonomischen Rhythmus der Maschine zu stören, muss das Mädchen für einen Augenblick selbst Maschine werden. Es wird zur Kriegsmaschine, wie Deleuze und Guattari sagen. Es wird zum Fahrzeug seiner selbst. Eines rasenden Selbst, das sich in der Zukunft seiner Selbstbeschleunigung erwartet, ohne sich zu kennen, ohne vertraut mit sich zu sein.
Der Körper dieser Geschwindigkeit und ihrer vektoriellen Überspitzung ist der leichte fliegende Körper. Es ist der Körper der Heiterkeit. Es ist nicht der „bleierne“ und schwerfällige im ökonomischen Sinn überflüssige Körper des maschinellen Subjekts. Dieser zweite Körper wird tatsächlich als Hindernis und Störung erfahren. Der andere Körper des Mädchens bedeutet ebenfalls eine Unterbrechung und einen Überfluss. Aber diese Unterbrechung ist mehr als einfach negativ. Das Mädchen arbeitet gegen die Maschine, um nach erbrachter Leistung im Schatten seiner Verneinung weiter zu tanzen. Wir stellen es uns als jene Tänzerin vor, von der Badiou mit Mallarmé sagt, dass sie als Metapher für die philosophische Bewegung, d.h. „für die ereignishafte Dimension des Denkens“ eine intensive Beschleunigung in Gestalt „zurückgehaltener Intensität“ darstellt: Sie riskiert „das mirakulöse Vergessen ihres ganzen Wissens als Tänzerin“. Das Mädchen, dessen Regungen von der Geschichte, wo sie sich als „männliche“, phallokratische, paternalistische oder fraternalistische Bewegung artikuliert, missverstanden, ignoriert, unterdrückt oder bekämpft werden, öffnet sich der Nacht, indem es die bloße Verneinung zu verneinen beginnt, das Opfer selbst opfert, um für den Augenblick dieses zweiten Opfers ein affirmatives Bild der eigenen Souveränität und Freiheit zu entwerfen.

Die Intervention des Mädchens ist eine Art konstitutiver Drift. Sie praktiziert die Verunsicherung der normativen gesellschaftlichen, politischen etc. Verhältnisse, ohne sich ihnen zu entziehen. Sie kompliziert die Lage, indem sie ein Übermaß an Fragen aufwirft, einen Schwarm von Antworten auf unmögliche Fragen erfindet, neue Ebenen und Horizonte der Ratlosigkeit produziert. Die Situation vervielfältigt sich, wird unübersichtlich und kollabiert. Man sollte die „Poesie der angehaltenen Bewegung“, die Poesie der Verweigerung und des einfachen nahezu indifferenten Widerstands, die Houellebecq mit dem Mai 68 assoziiert, mit der Poesie der Beschleunigung des anderen Mädchenkörpers in Verbindung bringen:
„Für einige Tage hörte eine riesige und bedrückende Maschine auf magische Weise auf, sich zu drehen. Es herrschte Unschlüssigkeit, Ungewißheit; ein Schwebezustand trat ein, im Land breitete sich eine gewisse Ruhe aus. Natürlich fing die Sozialmaschine dann wieder an, sich zu drehen – noch schneller, noch unerbittlicher (der Mai 68 hat nur dazu gedient, mit den wenigen moralischen Regeln zu brechen, die ihrem gefräßigen Lauf bis dahin noch im Wege standen). Nichtsdestotrotz gab es einen Augenblick des Stillstands, des Zögerns, einen Augenblick metaphysischer Ungewißheit.“

Das Zögern der Maschine stellt keinen Widerspruch zur Selbstbeschleunigung des Mädchens dar. Es ist Ergebnis eines neuen unregelmäßigen Tempos, das man von der Betriebsgeschwindigkeit des sozialen Körpers unterscheiden muss. Man kann die Aktivität des sozio-politischen Körpers mit Virilio als zensorische Ausbremsung der singulären Regungen definieren, als polizeiliche Transkription der exzessiven Tempi in die gravitätische Trägheit des Systems. Das System bewegt sich, es dreht und überdreht sich. Aber der größte Teil dieser Bewegung ist stabilisierend, hält es an seinem Ort:
„Schwerkraft, Gravitas, ist das Wesen des Staates“, so wie jedes anderen Systems. „Das bedeutet nicht, daß der Staat keine Geschwindigkeit kennt, sondern daß er darauf angewiesen ist, daß noch die schnellste Bewegung nicht mehr der absolute Zustand eines sich bewegenden Körpers ist, der einen glatten Raum besetzt, sondern zum relativen Merkmal eines ,bewegten Körpers‘ wird, der in einem eingekerbten Raum von einem Punkt zum anderen geht. In diesem Sinne ist der Staat unaufhörlich damit beschäftigt, die Bewegung aufzulösen, wieder zusammenzusetzen und zu transformieren oder die Geschwindigkeit zu regulieren.“

Es entspricht der Ethizität von Kunst und Philosophie sich zu überfordern, die Strapazen einer beschleunigten Verantwortung zu riskieren, die Staatsgewalt, die Moral, den Glauben und den gesunden Menschenverstand zu kompromittieren. Indem es dem Unbekannten zuschnellt, riskiert das Mädchen-Subjekt alles. Es weigert sich der Entschärfung seines Körpers zuzustimmen, die Monstrosität der singulären Behauptung, die dieser Körper notwendig darstellt, einzuschränken oder zu mortifizieren: Das Mädchen lebt, selbst wenn es als Tote oder Auferstandene (wie J.) im Raum der getöteten Leidenschaften für die Differenz als solche existiert. Sein Körper ist ein Differenz-Ereignis von besonderer Durchschlagkraft. Man begreift nicht, dass er für sich ein fliehender Körper, ein Projektil und eine azephalische Unwahrscheinlichkeit ist. Virilios Unterscheidung zwischen dem Maschinen-Menschen des Altertums, dem Relais-Menschen des 18. Jahrhunderts und dem Projektil-Menschen des 19. Jahrhunderts – das Mädchen wird Bombe oder Sprengkörper–, lässt sich als Historisierung der ontologischen Subjekt-Kategorie verstehen. Ein gewisser Zuwachs an Militanz und Aggression wird gewöhnlich mit dem neuzeitlichen cogito und seiner „kopernikanischen Mobilmachung“ verbunden. Meistens, wie auch bei Virilio, überschneiden sich die Analyse und Diagnostik des „Angriffsmenschen“ mit dessen kritischer Zurückweisung – in dieser Zurückweisung überschneiden sich die unterschiedlichsten Ansätze metaphysikkritischen Denkens: Heidegger, Lévinas, Gadamer usw. Vielleicht haben Badiou und Zizek am deutlichsten gezeigt, dass Verantwortlichkeit den aggressiven Zug des modernen Subjekts anstatt auszuschließen, notwendig einschließt. Verantwortung impliziert die Gewaltsamkeit einer gewissen Autoautorisation.

Anstatt „seinen eigenen Kopf“ zu haben oder schlicht keinen, behauptet das Mädchen die Kopflosigkeit selbst als Kopf. Diese Kopflosigkeit ist sein Kapital! Man muss wissen, dass zur Verantwortung, als Bedingung ihrer Möglichkeit, eine transzendentale (souveräne) Kopflosigkeit und Selbst-Beschleunigung gehört. Wenn es Kunst und Philosophie nur als Erinnerung eines Gedächtnislosen gibt, dann muss das ethische Subjekt (der Künstler oder Philosoph als Agent des ethisch-künstlerischen Akts) für den Augenblick der Entscheidung amoralisch und gewissenlos wie dieses antigoneische Mädchen sein. Denn es gibt Ethik und Verantwortlichkeit nur jenseits des Gewissens und der Moral:
„Soweit das schlechte Gewissen das Subjekt in den Narzissmus hineinzieht, arbeitet es gegen die Verantwortung, weil der Narzissmus eben jenen primären Bezug zur Alterität ausschließt, der uns überhaupt lebendig macht.“
Selbst das politische Urteil gründet in der Verweigerung gegenüber dem Gewissen. Es „gründet“ in einer Art bewusster Bewusstlosigkeit des politischen Subjekts. An die Stelle des Gehorsams und der Pflicht tritt die gefährliche, oft missbrauchte Poesie der Beschleunigung, die Unschuld des Werdens, absolute Nicht-Erinnerung als Abenteuer der Freiheit, das zugleich Wagnis einer neuen Verantwortung und ethischen Leidenschaft ist. Deleuze und Guattari sagen vom Krieg, dass er das Scheitern des Werdens, der Mutation oder der „Kriegsmaschine“ ist. Sind die faschistische Beschwörung des Künftigen und der ökonomische Liberalismus nicht schreckliche Mutanten jener Poesie der Mutationen, des Werdens, der Beschleunigung und ihres Freiheitswillens, die der deleuzianische Diskurs mit der Figur des Nomaden assoziiert?


2. Noch einmal für Antigone

Von der Philosophie erwartet Badiou, was Antigone von sich erwartet: das „eigene Begehren aufrechtzuerhalten“, der „gegenwärtigen Welt“ und der sie organisierenden kapitalistischen Moral zu widerstehen. Lacan hat diese Forderung zur Maxime der psychoanalytischen Ethik gemacht:
„Ich behaupte, daß es nur eines gibt, dessen man schuldig sein kann, zumindest in analytischer Perspektive, und das ist, abgelassen zu haben von seinem Begehren.“
Abzulassen von seinem Begehren (céder sur son désir) bedeutet, aus Motiven zu handeln, die einem positiven Register des Guten entnommen sind. Es bedeutet, sich auf der Seite einer sozialen, politischen, ökonomischen, kulturellen und ontologischen Überlieferung aufzuhalten, die das Begehren ausklammert, einschränkt und relativiert, indem sie das Subjekt drängt, eine vorhandene oder positive Option zu realisieren. Indem sie vom Subjekt erwartet das Erwartete zu tun, verlangt die Überlieferung den Ausschluss oder die Neutralisierung dessen, was ihren Geltungsanspruch erschüttert und destabilisiert. Die Ethik der Psychoanalyse fordert die Unterbrechung dieser Erwartung (der Ethik des Guten). Sie erwartet vom Subjekt, das System der Erwartung zu enttäuschen, um etwas Neues, Unerhörtes und Überraschendes zu tun. Sie berührt das Subjekt an seiner empfindlichsten Stelle, von wo aus es sich als Subjekt im Akt der Subjektivierung zu verlieren droht. Was also ist das für ein Begehren, das die Philosophie aufrechterhält, indem es das Subjekt des Begehrens an die Grenze seiner Vermögen trägt? Ein Begehren, das eine wesentliche Belastung einschließt, die Entschlossenheit auf einen gewissen Komfort zu verzichten, ein elementares Opfer zu bringen, um die Ermöglichung einer (politischen) Absicht zu realisieren:
„Es gibt Augenblicke, in denen uns etwas so sehr entzückt, daß wir bereit sind, alles zu vergessen oder zu verleugnen, unser eigenes Wohlergehen und alles, was damit verbunden wird, Augenblicke, in denen wir davon überzeugt sind, daß unser Dasein nur insofern etwas wert ist, als wir fähig sind, es zu opfern.“
Um Subjekt zu sein, muss das Subjekt sich als Subjekt opfern können. Es muss ein Begehren lebendig halten, das seine Konstitution als Subjekt im Augenblick ihrer Neubestimmung auf unvorhersehbare Weise kompromittiert. Es muss Begehren dieser Lebendigkeit, Begehren des Lebens und Begehren dessen sein, was das Leben fordert: „nicht ohne eine gewisse Grausamkeit gegen sich selbst.“ Es muss zwischen falschem und authentischem Begehren unterscheiden. Es muss dem Druck der Neutralisierung, Objektivierung, Erstickung und Reduktion seines Begehrens durch die Institutionen der Macht, der öffentlichen Meinung und ihrer kategorialen Zwänge widerstehen. Es darf sich nicht in den Forderungen der Gesellschaft und ihrer Moral entfremden. Es überschreitet seine Zeit und es durchquert die Vergangenheit, die Geschichte im allgemeinen und das onto-imperiale System der Symbole und Signifikanten, das sie archiviert. Es muss sich vergessen, um näher bei sich zu sein. Es ist Subjekt dieser riskierten Amnesie: akutes oder gegenwärtiges, problematisches oder prekäres, mit „sich“ absolut inkommensurables Subjekt. Die psychoanalytische Ethik rührt an ein Selbst jenseits des „Selbst“, jenseits dessen, was man in der Reproduktion einer gewissen sozio-ontologischen (Selbst)Täuschung das „Selbst“ nennt. Sie verpflichtet das Subjekt dazu, die Distanz zu minimieren, die es als falsches Subjekt von sich – vom authentischen Mangel, der sein Sein ausmacht – trennt. Sie verpflichtet es zu einer Unmöglichkeit, insofern sie im Moment dieser Verpflichtung die Irreduzibilität oder Absolutheit dieser Distanz erklärt. Sie fordert vom Subjekt sich mit dem Unmöglichen zu identifizieren.

Die Ethik des Begehrens impliziert einen Aufruf zum Vergessen, indem sie das Unbewusste als topologische Matrix ethischer Entscheidungen erschließt: Das Unbewusste wird nicht erinnert. Es wird realisiert. Es realisiert sich im Akt der Lossagung des Subjekts vom Gedächtnis als seiner symbolischen Norm. Der Ethik des Begehrens entspricht eine neue Logik der Gedankenlosigkeit und der Flucht, die ohne irrational zu sein, den singulären Zukunftsplan des Subjekts um eine neue Rationalität und eine neue Dimension des Logischen erweitert. Um authentisch im analytischen Sinn zu sein, schafft sich das Subjekt ein mit seinem Begehren kompatibles Gesetz. Anstatt einer Möglichkeit im Vorhandenen wählt es das Unmögliche, ein Reales jenseits der ökonomischen, politischen, historischen, sozialen, semantischen Realität:
„Für die Psychoanalyse besteht die Ethik darin, das Begehren in einen Abgrund, einen Zusammenbruch der Bedeutungen zu stürzen.“
Das Subjekt widersetzt sich der Welt der Güter und Tatsachen, um ein eigenes Faktum, eine eigene Wahrheit und ein sie bezeugendes Ereignis zu kreieren. Die Ethizität des philosophischen Begehrens bewahrheitet sich im Augenblick der Überschreitung der sozio-historio-politischen Norm. Sie bringt eine eigene Ökonomie des Widerstands, der Verweigerung, der Entschlossenheit und „logischen Revolte“ (Rimbaud) hervor. Der kairos, der Moment der Freiheit, sagt Antonio Negri, sei der „Augenblick, in dem der Pfeil des Seins von der Sehne schnellt, der Moment der Öffnung, der Erfindung des Seins am Rande der Zeit. Wir erleben in jedem Moment diesen Randbereich des Seins im Werden.“

Die Freiheit des politischen Subjekts artikuliert sich in einer unkontrollierten aber bestimmten Bewegung der Flucht. Das Subjekt intensiviert seine Beziehungen zum Unkontrollierbaren, das als Abgrund der Freiheit seine Entschlossenheit ins Unermessliche trägt: Philosophie als politische ist Aufstand oder Revolte, Anspruch auf Allgemeinheit und kritische Distanzierung von der aktuellen Lage, d. h. der gegenwärtigen Welt und ihrem reduzierten Verständnis von Freiheit als einer im engen Sinn ökonomischen Praxis, „die an das gebunden ist, was ihr im Netz der Warenzirkulation zugedacht ist.“ Sie entspricht einer „Bewegung“, die, wie Badiou mit Mallarmé sagt, „immer teilweise eine Wette, eine gewagte Verpflichtung ist, eine Figur, bei der es immer zum Moment ohne Gewähr oder zum Sprung ins Unberechenbare kommt, die also eine Verpflichtung des Denkens ist und als solche immer mit einem untilgbaren Anteil an Zufall einhergeht. Und in diesem Sinn fällt auch die Philosophie unter diese mysteriöse Maxime des Satzes, daß jedes Denken einen Würfelwurf vollführt.“

Obwohl Badiou die philosophische Entschlossenheit – die Entschlossenheit für die Philosophie als solche ist, für eine gewisse platonische Geste und für das moderne Subjekt – mit einer Verlangsamung des Denkens, mit der Restitution des Begehrens nach Kontinuität, Systematizität und Wahrheitsanspruch konnotiert, sollte man die Intensität dieser geforderten Ausbremsung als Moment einer wesentlichen Beschleunigung denken, die mehr beschleunigte Verlangsamung als verlangsamte Beschleunigung ist:
„Unsere Welt ist von Geschwindigkeit und Inkohärenz geprägt. Die Philosophie muß das sein, was uns gestattet, diese Geschwindigkeit oder diese Inkohärenz zu unterbrechen oder in sie einzuschneiden und zu sagen, daß dieses gut sei und jenes nicht – und die Zeit, zu der wir dies sagen müssen, bricht immer an.“
Das Denken zu verlangsamen kann nicht bedeuten, es auf eine falsche Weise behutsam, sensibilistisch und kraftlos zu machen. Es bedeutet, die Subjektkategorie zu stärken, umzugestalten und zu redefinieren. Es verlangt von der Philosophie ihre Kräfte und ihre Wachsamkeit für die Erfindung einer „neuen Rationalität“ und einer „neuen Gestalt des Subjekts“ zu investieren. Die Philosophie muss aufhören sich selbst zu misstrauen. Sie muss ihre Tendenz zur Larmoyanz bekämpfen, das „Regime der kindlichen Weinerlichkeit“, das der Anti-Ödipus mit der Figur des Ödipus und seinem „Mama-Papa“ konnotiert. Sie muss die Klagelieder um ihr vermeintliches Ende und den Tod des Subjekts unterbrechen, um im Raum dieser Unterbrechung „ihre eigene wesentliche Langsamkeit“ zu „entwickeln“, um auf die Geschwindigkeit oder Schnelligkeit, wie Heidegger sagt, der kapitalistischen Umdrehungen (der globalen Zirkulation der Waren und Werte) zu reagieren. Sie muss sich für eine andere Geschwindigkeit als die des Kapitals entscheiden. Für einen Rhythmus, der eine autonome Unverhältnismäßigkeit und Beschleunigung generiert und im strengen Sinn kein Rhythmus mehr ist. Eher die Unterbrechung der zirkulären Rhythmik der Wiederkehr, die den Takt aller Äquivalenzsysteme beherrscht. Die Philosophie zu verlangsamen, verlangt, einen unerhörten Ton in sie einzuführen, eine Art Widerstand, um sie auf eine neue und überraschende Weise sprechen zu lassen. Es verlangt von ihr, sich im richtigen Sinn zu beschleunigen und zu beunruhigen, sich gegen den rationalistischen Sicherheitsdiskurs, den liberalen Optimismus, die „Dummheit des Theologischen“ (Badiou), die szientistische Vulgata, ihre Esoterik und ihren Tatsachenobskurantismus gleichermaßen aufzubringen. Damit es weiterhin eine Chance für ein philosophisches Subjekt, damit es Fluchtlinien, Perspektiven und Alternativen zur kapitalistischen Welt des Guten gibt. Damit Verantwortung möglich ist, in einer Situation, die man überstürzt mit dem „Ende der Geschichte“, mit dem globalen Erfolg des ökonomischen Liberalismus und des westlichen Demokratiekonzepts assoziiert. Eine Assoziation, die umso fataler ist, als sie einen Aufruf zur Untätigkeit einschließt, indem sie das Subjekt mit der quietistischen Verwaltung des gegenwärtigen Zustands betreut, anstatt es als Subjekt möglicher Veränderungen der aktuellen ökonomischen, nationalen und globalen Ordnung zu respektieren.

Was macht Antigone am Leichnam ihres Bruders, in dem Moment, als ein gewaltiger Wind aufkommt, die Ebene verdunkelt und den Himmel verhängt? Was treibt ein verrückt spielendes Kind im Augenblick der Katastrophe? Es verändert seine Stimme und gibt Laute von sich, die von einem Vogel stammen könnten. Es ist zum Vogel geworden, um einen Toten zu beweinen. Ein klagender Muttervogel, der weiterhin ein junges Mädchen ist. Wir können uns Philosophie nicht anders als diesen nackten Vogel vorstellen, der zu Gewalt und Liebe gleichermaßen fähig ist.
Was erzählt das deleuzianische Denken der Immanenz von der Philosophie und ihrem Verhältnis zu den Mädchen, die umherfliegende Vögel sind? Es sagt, dass jede philosophische Bewegung und jede künstlerische Behauptung ein solches Ereignis der Zerreißung und Selbstzerreißung darstellt. Anstatt Kommunikation, Reflexion oder Kontemplation zu sein, ist Denken antigoneisch in diesem grundsätzlichen Sinn. Antigone treibt es an seine Grenze und über diese Grenze hinaus. Das ist die tragödische Ate, die Zone des Unheils, des Verderbens oder der Verblendung: „die Grenze, die vom menschlichen Leben nicht zu lange überschritten werden kann.“ Vor allem nicht, ohne dass sich etwas verändert, dass alles sich ändert, dass mit Antigone und jedem, der mit ihr in Berührung kommt, etwas passiert. Denn, die „Grenze“, sagt Lacan, „an der wir hier sind, ist eben die, an der die Möglichkeit der Metamorphose anzusiedeln ist, die, im Werk Ovids verborgen und durch die Jahrhunderte getragen, alle ihre Kraft und Virulenz an dieser Wende der europäischen Sensibilität wiedergewinnt, die die Renaissance ist, um dann im Theater Shakespeares zu zerbersten.“ Das Subjekt dieser Grenze, das antigoneische Subjekt, ist metamorphotisch. Ein Subjekt der Verwandlung und unaufhörlichen Turbulenz. Ein allerlei Anomalien ausgesetztes Subjekt, dessen Stärke in einem Frau-Werden liegt, das gegenüber den Forderungen der gesellschaftlichen Meinung Ruhe bewahrt. Die Philosophie setzt sich der Lust seiner kriegerischen Stimme aus, um selbst kriegerisch zu sein, gewaltsam und liebend, wie man es von ihr erwarten kann. Es scheint unmöglich, der Versuchung nicht nachzugeben, die dieses junge Mädchen darstellt. Eine Versuchung, die darin liegt, sich von ihm in ein Mädchen-Werden reißen zu lassen, das ein Tier-Werden und Kind-Werden einschließt, das Ereignis einer unbeherrschten und in jedem Fall verstörenden Sensation. Es gibt keine Philosophie, die nicht auf der Wahrheit dieser schwindligen Liebe gründet. Auf einem Liebesakt, der zugleich besitzergreifend und fordernd, aggressiv und hingebungsvoll ist. Anstatt das Wesen der Philosophie in der zögerlichen Annäherung an den geliebten Gegenstand zu suchen, könnte es in der schnellen, ruckartigen und unnachgiebigen Besitzergreifung liegen. Man hat Plato für die Gewalt und für die Behutsamkeit der philosophischen Liebe gleichermaßen verantwortlich gemacht.

Das junge Mädchen ist auf der Flucht, wie Deleuze und Guattari sagen. Es sucht sich seine Waffe. Man wird sich ihm nicht in den Weg stellen, ohne von ihm mitgerissen zu werden. Das Denken verliert seine Unschuld an ein Kind, das es zuletzt selbst ist. Außerhalb des Schutzraums der symbolischen Ordnung gibt es sich der gedankenlosen Liebe zum eigenen Werden hin. Diese Liebe lässt es vergessen, was es wusste, und macht es blind für die Ökonomie der Zwecke und des Profits. Es ist reine Liebesbewegung oder reines Werden. Seine „Gleichgültigkeit gegenüber dem Gedächtnis“ wird zur Voraussetzung der Infragestellung der überlieferten Moralismen und der von ihnen geprägten Norm. Die Ethizität des fliehenden Mädchens ist unzweifelhaft an das Moment der Durchquerung der ethischen Systeme gebunden, der Regulative der Offenbarung und der Dispositive der Macht. Indem es die Erinnerung hinter sich lässt, verliert es auch seine Zukunft und bildet in dieser „ekstatischen“ Verlassenheit die Kriterien einer verantwortlichen Leidenschaft aus, um sich am Ende dieser Bewegung in einer tieferen Gleichgültigkeit zu zerstreuen: „Das Unwahrnehmbare ist das immanente Ziel des Werdens, seine kosmische Formel.“ Die Ethik der Immanenz versammelt diesen Kanon dreier Tugenden: „unwahrnehmbar“, „ununterscheidbar“ und „unpersönlich“ zu sein.

Man wird von Kunst und Philosophie nicht erwarten zu schweigen. Heute nicht, in Zukunft nicht. Man erwartet von Kindern nicht, dass sie still halten, im Restaurant zwischen den Tischen oder anderswo. Man lässt sie umherlaufen und kreisen, wie es ihnen gefällt. Es gibt Leidenschaften, die sich weder stoppen noch unterbrechen lassen. Aggressive oder kindliche Leidenschaften, die eine wesentliche Gleichgültigkeit transportieren. Am Anfang der Liebe und am Anfang jeder Verantwortung findet sich eine dunkle Stelle, die die Liebe an eine ursprüngliche Blindheit bindet. Jeder weiß, dass Eltern von ihren Kindern erzogen werden, dass man unerzogen sein muss, um erzieherisch effizient zu sein.
Man erwartet von Kunst und Philosophie eine Unterbrechung, einen Schnitt oder Einschnitt in das Gewebe der ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse. Die Arbeit, die sich der Verantwortung angesichts und innerhalb dieses Gewebes nicht entzieht, muss eine Intervention darstellen. Sie ist zur Gewaltanwendung gegenüber dieser selbst gewaltsamen Textur aufgerufen, die heute über Bedeutung und Bedeutungslosigkeit entscheidet, zur Unterbrechung des herrschenden Systems, des hegemonialen Archivs und der dominanten Gedächtnisnorm, die es verwaltet, indem es sie gegen alle Widerstände in Schutz nimmt und in allen ökonomischen Registern stabilisiert. Man könnte, indem man die erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen vernachlässigt, indem man also ungeduldig ist, diese Gewaltanwendung als einen Akt der Überstürzung und der Ungeduld gegenüber der Geduld und sich selbst generierenden Stabilität dieser umfassenden Struktur oder Matrix interpretieren. Dieser ungeduldige Eingriff, die Ungeduld selbst und die damit verbundene, gleichermaßen absichernde wie vorausgreifende Voreiligkeit ist unerlässlich. Dennoch ist es notwendig, diese Intervention, die ein Akt der Überstürzung, der Unregelmäßigkeit und Vergesslichkeit sein muss, als Produkt der Matrix selbst anzuerkennen. Die Intervention präzisiert die Matrix, indem sie sie gewissermaßen „von Innen“ (es gibt kein Außen der Immanenz) justiert, neu einstellt oder reprogrammiert. Die Präzisierung der Matrix bedeutet eine Art doppelter Beschleunigung des Systems. Doppelt deshalb, weil sie das System zwingt, sich über sich hinaus zu beschleunigen, und weil es diesen Exzess mit einer weiteren Übertreibung verbindet, die man den Exzess des Stillstands oder der absoluten Verlangsamung nennen kann. Erst dieser weiter gefasste Begriff von Beschleunigung, der den Hyperbolismus der Beschleunigung mit dem der Verzögerung kooperieren lässt, entspricht der Struktur einer gültigen Intervention.

Die Matrix markiert den Ort des Aufeinandertreffens der beiden Exzesse, die Stelle, an der die „unendliche Langsamkeit der Erwartung“ mit der „unendlichen Schnelligkeit des Ergebnisses“, das heißt der Unterbrechung oder Störung dieser Erwartung, zusammenstößt. Deleuze und Guattari sagen, dass „es keine Bewegung gibt, die nicht unendlich ist, dass die Bewegung des Unendlichen nur durch Affekt, Leidenschaft, Liebe geschieht, in einem Werden, das ein junges Mädchen ist [...].“
Die Kunst ist ein Name für dieses junge Mädchen, das den Konflikt zweier Bewegungen erträgt. Es „wird nicht durch Jungfräulichkeit definiert, sondern durch ein Verhältnis von Bewegung und Ruhe, Schnelligkeit und Langsamkeit, [...]. Es ist eine abstrakte Linie oder Fluchtlinie.“ Es kann die ihm entgegengebrachten Erwartungen nur enttäuschen. Es beantwortet keine Fragen. Es ist eine allzu flinke, allzu bewegliche Enttäuschung der Moral. Um Mädchen zu sein, passt es sich nicht an, sprengt es den Erwartungshorizont, um die Singularität einer blinden Verantwortlichkeit auszubilden, die „absolute Ungeduld eines Wunsches nach Gedächtnis“. Anstatt den Schutz und die Anerkennung des Systems zu begehren, begehrt das Mädchen eine Art beschleunigtes System. Es begehrt einen Riss, ein Erzittern, ein Beben des Archivs und der von ihm verwalteten Signifikanten, eine Veränderung und allgemeine Mobilisierung des sozialen Körpers usw., indem es auf der Linie eines sinnlosen Begehrens dem Begehren des Sinns nachgibt und einer Verantwortlichkeit entgegenfliegt, deren Kriterien noch erfunden werden müssen. Es fliegt vor- und rücksichtslos, um seine singuläre Subjektivität auszubilden. Obwohl diese Produktion informationsgebunden und gesellschaftsbestimmt ist, erschöpft sie sich nicht in der bloßen Überschreitung der etablierten Norm. Eine tiefere Gleichgültigkeit schützt das Mädchen davor, sich in der Logik der Überschreitung einzuschließen, das heißt Selbstberuhigung zu suchen im perversen Akt des Verbrechens oder des sadistischen Glücks. Seine hysterische Disposition (das Subjekt als Subjekt ist hysterisch ) treibt es immer ein Stück weit über die Perversion hinaus. Es produziert einen Überschuss an Freiheit, der eine Unendlichkeitszone einrichtet und eine Art Wahrheitsbegriff generiert.

Man muss eine gewisse Gleichgültigkeit zur Vorraussetzung der ethischen Haltung machen. „Gleichgültigkeit gegenüber dem Gedächtnis“ meint nicht nur, den Augenblick zu benennen, in dem die Negation der Moral mit ihrer eigenen Negation zusammenfällt (Negation der Negation). Es bedeutet zunächst, dass dieses Ereignis in einem unbekannten Maßstab exzessiv und seine Realisation nur als Leistung einer absoluten Gedächtnis- und Gedankenlosigkeit möglich ist. Es bedeutet, die Kunst – und jede verantwortliche Position – mit einem unvernünftigen und rücksichtslosen Mädchen in Verbindung zu bringen. Es bedeutet den Kontakt mit einer antigoneischen Göre zu riskieren, ein Berührtsein, das wie jede Erfahrung nur als Gewalterfahrung möglich ist. Sodass man gezwungen ist, die Ethik des fliehenden Mädchens, der Vergesslichkeit oder der absoluten Ungeduld als eine Ethik der Gewalt zu deklarieren. Die Ethik der Gewalt ist nicht für Gewalt. Sie weigert sich eine gewisse Irreduzibilität von Gewalt zu leugnen. In den Worten Balibars:
„In short, there is no non-violence. We should bear this in mind, I think, as we struggle against every form of violence“.
Die Ethik der Gewalt ist Risikoethik, für die sich noch nicht alles entschieden hat: formale Ethik (im Sinn des lacanianischen Kantianismus), Ethik des Werdens oder Liebesethik im unsentimentalen Sinn, in dem Bataille Emily Brontës Wuthering Heights die vielleicht „schönste, die am tiefsten gewaltsame aller Liebesgeschichten“ nennt.

Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Gedächtnis ist ein Akt der Gewalt. Einer blinden, unerträglichen, nicht-intentionalen Gewalt. Sie verliert das Kriterium der Zweckmäßigkeit für die ebenso minimale wie unendliche Zeitspanne, die der Augenblick der Entscheidung als Augenblick des Wahnsinns ist, wie Kierkegaard sagt. Sie erinnert daran, dass es ein Jenseits des Gedächtnisses, der sozio-politischen Archive und Systeme gibt, dass, wie Zizek feststellt, der „unbedingte/absolute Akt des Selbstbewußtseins selbst unbewußt sein muß“ , dass es keine Kunst und keine Liebe ohne eine gewisse Kopflosigkeit gibt. Alles verdichtet sich für Deleuze/Guattari und Lacan (in seinem Ethik-Seminar von 1959/60) im Bild dieses kopflosen Mädchens, das am Rand der Bedeutungslosigkeit schlendert, am Rand der Null-Linie oder Nullebene, um schließlich etwas Absolutes zu tun. Man kann von ihm sagen, was Bataille von der Menschheit im Allgemeinen sagt, dass es „überhaupt nicht anders existieren zu können“ scheint „als am Rande des Schreckens“, dass seine Erfindungen, sein Protest, seine Wut, sofern sie dem Entsetzen entstammen, eine Art von Selbstzerreißung bedeuten, in der es „seine Seele verliert“ (Artaud), dass die Faszination eines Lebens, das sich „der Zerstörung der etablierten Autorität widmet“, ein unauslöschliches Bild des souveränen bzw. revolutionären Subjekts zeichnet, dessen Würde mit seinem Status als Subjekt verbunden ist.

Heimgesucht vom eigenen Begehren, von der Gewalt einer unverzichtbaren Forderung an sich selbst, betritt die Philosophie als junges Mädchen einen Raum, den es nicht gibt. Sie erfindet eine neue Ebene und gründet ihr eigenes Gesetz. Sie kommt von Nirgendwo, aus dem Nichts (ex nihilo), um sich im Nirgendwo niederzulassen. Denn den Raum, den sie hinter sich lässt, indem sie ihn für den Augenblick des Wechsels oder der Passage und nur für diesen Augenblick verlässt, ist ein stummer Raum, in den keine Stimme zurückfällt und aus dem kein Echo mehr dringt. Für diesen einen prekären Moment ist das Mädchen ohne Geschichte. Es hat den Rücken frei und einen nahezu unverstellten Blick. Einen Blick ohne Blickfeld, der sich im Leeren wie in einem Abgrund verliert. Die Orientierungslosigkeit des Mädchens entspricht der von Derrida hervorgehobenen Logik der „Unmöglichkeit einer Duldung der gründenden Instanz“:
„[Die] Stiftung oder Gründung kann nicht selber noch gegründet sein. Sie waltet über einem lautlosen Abgrund; und das Wissen darum kann nicht geduldet werden. Ein Wissen, das im übrigen per definitionem kein Wissen ist.“ So dass das Mädchen verleugnet wird, die Gewalt und die Vergesslichkeit, die sich mit ihm verbindet, das leise Knacksen des Systems. Weshalb auch die Unterscheidung zwischen der unbemerkt gebliebenen Erosion und der radikalen Zäsur („Lieber ein unmerklicher Bruch als ein signifikanter Einschnitt“, sagen Deleuze und Guattari ) zumindest missverständlich ist. Der signifikante Einschnitt ist, bevor er offizialisiert und entschärft wird, ein notwendig unmerklicher, gedächtnisloser Bruch. Er ist ein weiterer Name für die Spur eines Ereignisses, das eine Architektur (ein Ideen-, Vernunft- oder Staatssystem) unmerklich gegen sich selbst arbeiten lässt, einer Spur, die im Augenblick ihrer Identifikation und Lokalisierung bereits verschwunden ist. Auf dieser Spur der Zersetzung hält sich jede authentische Intervention.
Der Riss, diese feine, schwer wiegende Verletzung, in der sich die Logik des ursprünglich verschwundenen Ursprungs ankündigt, das Paradoxon, „das darin besteht, dass die Begründung des Gesetzes – dass das Gesetz des Gesetzes, die Einrichtung einer Einrichtung, der Ursprung der Konstitution – ein ‚performatives' Ereignis ist, das nicht dem durch es begründeten, eröffneten oder gerechtfertigten Ganzen zugehören kann“ , verweist auf die „tiefe Identität von Justiz, Verlangen und junger Frau oder Mädchen“, wie sie Deleuze und Guattari in den Erzählungen und Romanen Kafkas bestätigt sehen. Anstatt nur opponent zu sein, insistiert das Mädchen als verdrängter Erreger des juridischen Systems. Es zerbricht eine Ordnung nur, um ihr eine weitere folgen zu lassen. Es repräsentiert nichts als die Gewalt der Setzung von Gesetzmäßigkeit im Allgemeinen. Es bleibt vor dem Gesetz und abseits der Ordnung, ihr äußerlich, von ihr ausgeschlossen, insofern es ihre außerordentliche Ermöglichung riskiert. Das Gesetz will mit dem Mädchen nichts zu tun haben, obwohl es sich ihm verdankt.
„Die Rolle der Mädchen oder jungen Frauen gelangt zum Höhepunkt, wenn sie ein Segment zerbrechen, aufreißen, wenn sie das soziale Feld, in dem das Segment sich befindet, gleichsam aufsprengen oder leckschlagen, so daß es ausläuft.“

Wir wollen von hier aus den Versuch einer Engführung der Logik des „Ursprungssupplements“ (Derrida) mit dem Lacanianismus des „verschwindenden Vermittlers“ (Zizek) wagen. Das Mädchen traut sich an den Punkt der „absoluten Nicht-Erinnerung“. Dorthin, wo es, wie Derrida sagt, nur noch Asche gibt: „Zerstörung der Erinnerung“, „absolut radikales Vergessen“. Die Bewegung, die sich mit ihm verbindet, ist der Exzess. Ein komplizierter Exzess, der seine Situation und die Situation aller, die mit ihm zu tun haben, mit einer gewissen Unmäßigkeit und Fragwürdigkeit belastet, der niemand sich entziehen kann. Das Bild des jungen Mädchens zeigt, dass Kunst und Philosophie nur als Berührung des Unberührbaren existieren, dass das Subjekt dieser Erfahrung (der "Chaotide", wie Deleuze und Guattari sagen) ein Subjekt der Selbstbeschleunigung an diesem Abgrund der Nicht-Erinnerung ist, ein Subjekt, das sich in der Berührung des Abgrunds verausgabt, um dieser Verausgabung eine präzise Form zu geben. Das ist das Werk, das Kunstwerk oder der Text als Dokument dessen, was sich als solches der Dokumentierung und Repräsentation entgegenstellt. Das Werk repräsentiert nichts. Es ist die Analogie, der Platzhalter des Unmöglichen. Für Kunst gilt, was für die Liebes- und Lebensbewegung im allgemeinen gilt: im Hier und Jetzt auszuhalten ohne zu verzweifeln. Den Zynismus und seine Negativität ebenso zurückzuweisen wie die Indifferenz derer, die auf das Vergangene, die Geschichte, das Gedächtnis, das Ressentiment, die Überlieferung vertrauen. Kunst und Philosophie sind niemals negativ. Man muss es riskieren zu bejahen: „On n’échappe pas au spectacle du bonheur“ (Blanchot). Man muss riskieren – was das Schwerste ist – glücklich zu sein. Inmitten der gleichgültigen Härte des Lebens, inmitten der „sanften Gleichgültigkeit der Welt“ (Camus).

Kunst ist eine Widerstandsbewegung, aber sie ist weder passiv noch reaktiv. Kunst reagiert nicht. Sie handelt. Sie handelt im Verhältnis zum Wirklichen, zur Wirklichkeit des Sozialen, des Politischen, der Ideologien der Zeit. Wenn sie irgendeinen Sinn hat, dann als diese schwebende Selbstbehauptung über dem Abgrund der eigenen Ohnmacht. Die Künstlerin, der Künstler sind ohnmächtig. Aber ihre Ohnmacht macht sie erst frei! Es gibt Souveränität nur für ein faktisch nicht-souveränes Subjekt. Frei zu sein, bedeutet nicht, alle Möglichkeiten zu haben. Es bedeutet den Möglichkeitsraum zu durchqueren, um bereit für das Unmögliche zu sein. Es bedeutet, das Unmögliche zu bejahen, wie das liebende Subjekt die Unwahrscheinlichkeit seiner Liebe zu einem ihm fremden Subjekt bejaht. Das Subjekt der Freiheit riskiert die sensibelste und problematischste aller Berührungen. Es sucht den Kontakt zum Fremden. Es berührt das Nichts, die absolute Unordnung, das Chaos. Nicht, um selbst „chaotisch“ zu sein! Die Anstrengung liegt darin, das Unmögliche möglich werden zu lassen. Das ist auch die Arbeit der Liebe, der Liebesbewegung, die nur als Überschwang auftritt, als elementare Unkontrolliertheit des liebenden Subjekts. Und dennoch, muss dieses Subjekt - ohne sich zu disziplinieren oder einzuschränken, d.h. „vernünftig“ zu sein - ein Minimum an Verantwortung für das Unverantwortbare seiner Selbstbeschleunigung als liebendes riskieren. Es muss bestätigen, was es nicht versteht. Zur Produktion, zum Kunstmachen wie zur Philosophie gehört, was man die eigentliche Erfahrung der Liebe nennen könnte: man konfrontiert sich mit dem Unbekannten und bejaht diese Konfrontation.

3. Jenseits der Grausamkeit?

In dem Augenblick, in dem wir uns Antigone zuwenden, sind wir von ihrer Grausamkeit berührt. Wo sie auftaucht, hinterlässt sie eine Spur nackter Entschlossenheit, die nicht nur die zartesten Gemüter erregt. Die Faszination Antigones hat mit ihrer monströsen Unnachgiebigkeit zu tun. Antigone handelt in voller oder ungeteilter Souveränität. Antigone ist omos, sagt der sophokleische Chor. Was Lacan mit inflexibel übersetzt und was zunächst roh, ungekocht, aber auch wild und grausam, schonungslos, widerspenstig, trotzig, schroff und unzivilisiert heißt. Dass sie sich weigert, nicht zu handeln, nicht Subjekt zu sein, macht sie zur Protagonistin einer erschütternden Grausamkeit. Nach dieser Grausamkeit und ihrem Verhältnis zur Souveränität und zur Würde, zur Anmut und Schönheit, Verantwortung und Ethizität des antigoneischen Subjekts zu fragen, gehört zum Unerlässlichen der antigoneischen Herausforderung der Philosophie. Mit Antigone stehen die Prinzipien der Tätigkeit (Selbstbewusstsein, Autonomie, Freiheit, Verantwortung, Transparenz etc.) und Untätigkeit (Kontextualität, Situativität, Determination, Passivität, Animalität usw.) zur Diskussion. Zwei Vorträge Derridas, Die unbedingte Universität (1998) und Seelenstände der Psychoanalyse (2000), entwickeln den Konflikt von Souveränität und ihrer notwendigen Dekonstruktion. Sie lassen sich aufeinander beziehen, insofern die Universität, die Derrida sich erträumt, die Aufgabe hätte, eine Alternative zur ungeteilten Souveränität, zur Ethik der Grausamkeit und des Todestriebs, zumindest nicht auszuschließen: Dafür braucht sie eine gewisse Souveränität. Die Universität muss unbedingt, bedingungslos und autonom, d.h. auf eine souveräne Weise unabhängig sein, um bevorzugter Ort der Befragung der Prinzipien der Autonomie und der Souveränität zu sein. Sie ist mit der „Konnotation der Macht- und Wehrlosigkeit“ versehen, und muss dennoch eine „Ausnahmeart der Souveränität“ für sich beanspruchen, eine „ganz spezifische Form der Souveränität“:
„Die Dekonstruktion des Begriffs einer unbedingten Souveränität ist zweifellos notwendig und im Gang, denn dieser Begriff zehrt vom Erbe einer kaum säkularisierten Theologie. Der Wert der Souveränität ist heute nicht allein im offenkundigsten Fall der vermeintlichen Souveränität von Nationalstaaten, sondern auch sonst (denn sie ist überall zu Hause – und hält sich für unersetzlich – in den Begriffen des Subjekts, des Staatsbürgers, der Freiheit, der Verantwortung, des Volks etc.) in voller Auflösung begriffen. Aber es gilt darüber zu wachen, daß diese notwendige Dekonstruktion den Anspruch der Universität auf Unabhängigkeit, das heißt auf eine ganz spezifische Form der Souveränität [...] nicht oder nicht allzusehr preisgibt.“

Die Frage der Universität führt unmittelbar in eine Aporie, die vielleicht allgemeiner ist als man zunächst glaubt. Die Souveränität im allgemeinen, wie wir sagen können, teilt sich in sich, indem sie mindestens die Unterscheidung zwischen der ungeteilten oder unbedingten Souveränität und dieser spezifischen anderen Souveränität der universitären Unabhängigkeit zuzulassen scheint. Eine Unabhängigkeit, die Derrida wiederum mit einem gewissen „Unbedingtheitsprinzip“, einer „bestimmten Unbedingtheit im allgemeinen“, einer „Unbedingtheit ohne Macht und Vermögen“, das heißt unter anderem mit der bedingungslosen Freiheit alles fragen und öffentlich aussprechen zu können verknüpft.

Man sieht, wie grundsätzlich die Frage der Souveränität für alle weiteren, nicht nur akademischen Fragen nach der Autorität als solcher und ihrem Verhältnis zur Freiheit und zur Legitimation der Freiheit ist, nach einer selbst nicht mehr legitimierten Freiheit zur Selbstlegitimation derjenigen, die das Wort ergreifen, die sich zu Wort melden, um zu sprechen, an der Universität oder anderswo, überall dort, wo es Öffentlichkeit, geteilte Vernunft, kollektive Rede, Kommunikation im allgemeinen gibt.
Um sich am öffentlichen Diskurs zu beteiligen, an der Entscheidung einer Gruppe oder eines „demokratischen“ Kollektivs gehört auch Mut. Der Mut zur Meldung und, wenn es erforderlich ist, zur Zwischen- oder Wechselrede, der Mut, sich selbst aus Verantwortung und aus Freiheit mit der Autorität zu sprechen zu versehen. Ein Mut, der allerlei Unwägbarkeit und Risiken einschließt, insofern er nicht folgenlos bleibt, nicht folgenlos bleiben kann, also effizienter und praktischer oder gar pragmatischer Mut ist, der das Subjekt die Dimension des einfachen Wissens und seiner vorgeblichen Neutralität auf die Dimension der Handlung oder der Performanz, oder wie wir auch sagen würden, einer gewissen Grausamkeit hin überschreiten lässt. Denn dieser Mut arbeitet im Wagnis der Selbstermächtigung, der Widerstandskraft im allgemeinen und der Unbeugsamkeit der politischen Dissidenz. Eines Subjekts, das sich weigert vor dem Gericht der öffentlichen Meinung, der Geschichte, des Gewissens oder der staatlichen Autorität bestehen zu müssen, indem es ein neues, singuläres Prinzip der Souveränität und autonomen Selbstgestaltung formuliert. Derrida kann diese Souveränität mit einem „Prinzip unbedingten Widerstands“ und der notwendig politischen „Dissidenz im Namen eines höheren Gesetzes und einer Gerechtigkeit des Denkens“ konnotieren: Daraus folgt,
„daß dieser unbedingte Widerstand die Universität zu einer ganzen Reihe von Mächten in Opposition bringen könnte: Zur Staatsmacht (und also zur Macht des Nationalstaats und dem Phantasma seiner ungeteilten Souveränität; darin wäre die Universität von vornherein nicht bloß kosmopolitisch, sondern universal, weil sie noch über das Weltbürgertum und den Nationalstaat im allgemeinen hinausreicht), zu ökonomischen Mächten (den Unternehmen und dem internationalen Kapital), zu medialen, ideologischen, religiösen und kulturellen Mächten etc., kurzum: zu allen Mächten, welche die kommende und im Kommen bleibende Demokratie einschränken.“
Derrida versucht an ein bestimmtes Jenseits, an ein genau genommen unbestimmtes und unbedingtes oder bedingungsloses Jenseits der politischen, ökonomischen, medialen etc. Mächte und Gesetze zu appellieren, an ein Jenseits dessen, was man den Niederschlag oder die Effizienz der allgemeinen Souveränität, der Grausamkeit oder des Todestriebs in der Geschichte, im politischen Raum der Handlungen und Tatsachen und ihrer institutionellen Verwaltung, nennen kann. Es gibt oder muss da etwas geben, was sich diesen partikularen Formen der Souveränität und ihrer Grausamkeit, der souveränen Grausamkeit entzieht, was sich weder einfangen, noch einsperren, neutralisieren, reduzieren oder abschwächen und assimilieren lässt. Ein absolutes oder universales Jenseits der souveränen Macht und ihrer Herrschaft, ein „Jenseits, das weder mit den Trieben noch mit den Prinzipien etwas zu tun hätte“ und folglich ein „Jenseits des Jenseits des Lustprinzips, das Jenseits des Todestriebs, das Jenseits des Bemächtigungstriebes“ ist. Um die Frage nach der Möglichkeit dieses Jenseits auf die Möglichkeit des Unmöglichen und das Jenseits dieser Möglichkeit hin zu öffnen, muss man nach dem Verhältnis dieses Jenseits zur Handlung, zur politischen und ästhetischen Entscheidung fragen.