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MARCUS STEINWEG
 

EUROPÄO-AMERIKANISMUS DER FREIHEIT (2005)

The Rambler
Die Affirmation der Gegenwart darf sich nicht in der Anerkennung ihrer Erscheinungsformen und Machtdispositive verneinen. Der neue Realismus verlangt von seinem Subjekt, sich in der Realität über die Realität hinaus zu beschleunigen, um realer als die (alte) Realität zu sein. Das Denken “ist ‚an Ort und Stelle’, es intensiviert [...] sich in sich selbst.” Das Subjekt bestätigt sich, indem es sich der hyperboreischen Zone einschreibt, um im Akt dieser Einschreibung den Exzess seiner bisherigen Gestalt zu riskieren.

Sich dem Hier-und-Jetzt zu öffnen, ohne sich ihm auszuliefern, ist das nicht die strukturale Eigenart einer bestimmten Utopie? Inwiefern ist ein gewisses Amerika und der Traum, den manche von ihm träumen – Amerikaner oder nicht – mit dieser Unmöglichkeit verbunden, mit der Ambivalenz eines Ortes, der kein Ort, sondern Nicht-Ort, unmögliche Ortschaft ist? Inwiefern kreuzt sich in “Amerika” das reale, relative, identifizierbare raum-zeitliche Amerika mit seinem eigenen Traum, der amerikanischen Utopie eines absoluten Amerika, das als Mutterland der Hoffnung noch den europäischen Horizont beherrscht? Wenn Amerika den Horizont Europas bildet und Europa der verdrängte Ursprung Amerikas ist, lässt sich dann die Hochzeit von Horizont und Ursprung als ein Werden feiern (das Europa-Werden Amerikas und das Amerika-Werden Europas), dessen Unvorhersehbarkeit zur geteilten Geschichte des europäischen wie des amerikanischen Bewusstseins gehört?

Das transzendentale Subjekt ist eine europäische Erfindung. Seine Wahrheit aber ist transeuropäisch: Bevor Europa die Nachricht der neuen Welt erreicht, hat es sich schon in den Horizont eines gewissen “Amerika” gestellt. Die Wahrheit Europas ist “amerikanisch”, solange wir unter “Amerika” (unter der ontologischen Struktur, die wir hier “Amerika” nennen) die Tendenz zur Deterritorialisierung und Selbstentgrenzung verbinden. Sie treibt das Subjekt im Gang seiner Geschichte über sich hinaus und lässt es eine Kette unbestimmter revolutiver Erfahrungen machen. “Gründete die amerikanische Demokratie denn nicht auf der Demokratie des Exodus, auf affirmativen und nicht-dialektischen Werten, auf Pluralismus und Freiheit?”

Das Subjekt, sagen Deleuze und Guattari, das Subjekt dieses gewissen “Amerika”, überfliegt sich. Es ist “absolutes Überfliegen”, indem es sich mit dem verbindet, “was es hier und jetzt im Kampf gegen den Kapitalismus an Realem gibt.” Utopie, nachdem man sie als “libertäre, revolutionäre, immanente” Utopie, von den “autoritären Utopien” der Transzendenz unterschieden hat, bezeichnet die “Verbindung der Philosophie oder des Begriffs”, d.h. des überfliegenden Subjekts, “mit dem vorhandenen Milieu.” Den emanzipatorischen Diskurs in seiner elementarsten Form und Notwendigkeit zu bejahen, bedeutet immer auch diese immanente “Utopie” (die Zurückhaltung gegenüber dem Wort ist bekannt und notwendig) oder Hoffnung zu bejahen. Es bedeutet, an einer “messianischen Erfahrung” festzuhalten, von der Derrida sagt, das sie “hier und jetzt” stattfinde.

Die Utopie, die Revolution und das Messianische treiben das Denken in die komplizierten Herzregionen des Kapitals. Das Kapital ist vielleicht nichts anderes der zentrale Muskel des symbolischen Systems. Es stellt noch die Mittel seiner Infragestellung bereit: Wer könnte behaupten, dass er sich in vollendeter Kopflosigkeit gegen das Kapital behauptet, ohne ein gewisses Haupt (caput), ohne die Souveränität, die Autorität und Durchschlagkraft eines gewissen Kapitals? Dem Prinzip des Kopfes, der Führung und gerichteten Steuerung kann mit notwendiger Prinzipienlosigkeit, kopfloser Anarchie und spekulativer Verausgabung begegnet werden. Dennoch handelt es sich bei dieser Begegnung um eine, wenn auch asymmetrische, Autoaffektion – um die in irreduzibler Unentscheidbarkeit riskierte Selbstbefremdung des Kapitals. Die Poesie des Kapitals hat ihre eigene Mehrstimmigkeit. Sie lässt sich nicht in das System der kalkulierenden Investitionen samt seiner liberalen Utopie einschreiben, ohne dieses System mit ihrer überbordenden Tendenz zur spekulativen Kapitalvernichtung zu verstören.

Richard Rorty beschränkt den Pragmatismus auf die liberale Utopie, deren fundamentales Anliegen darin besteht, Grausamkeit zu minimieren. Anders als bei Deleuze hat dies den Nachteil, die pragmatischen Hypothesen auf das reterritorialisierte Amerika zu reduzieren: auf die USA und die liberalistische Wohlstands-Ideologie, den sogenannten freien Markt, die religiöse Gewissensmoral, den sozialen Pluralismus als Grundlage des fatalen winner-loser-Kalküls. Das reterritorialisierte Amerika ist nicht das Amerika der Freiheit. Es ist das des staatlichen, innen- und außenpolitischen Kalküls. Es ist das Amerika der militärischen, ökonomischen, kulturellen, sozialen, religiösen und moralischen (d.h. im Rancier'schen Sinn polizeilichen) Selbstverwaltung.