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MARCUS STEINWEG
 

HYPERKRITISCHE WELT

Man muss von der kritischen Welt die hyperkritische unterscheiden. Das ist die hyperboreische Wahrheits-Welt: die Welt der wahren Kritik. Die hyperkritische Welt unterscheidet von der nur kritischen der Tatsachen-Welt, dass sie Welt der Liebe, der Bewunderung und des Einverständnisses ist. Eine im Akt der Berührung bejahte Welt der Wahrheit. Das Subjekt dieser Bejahung ist Subjekt einer hyperbolischen Liebe. Es ist Subjekt der Wahrheitsliebe. Es liebt das Andere, die anonyme Macht des Außen, die seinen Status als Subjekt der Tatsachengewißheit, als Selbstbewußtsein, Person und Individuum übersteigt. Es ist hyperkritisches Subjekt einer hyperbolischen Liebe, die Bewunderung, Bejahung und Einverständnis der Andersheit (des Inkommensurablen) in sich vereint.

“Die Philosophie”, sagt Deleuze, “ist nicht zu trennen von einer 'Kritik'. Nur gibt es zwei Arten zu kritisieren. Entweder man kritisiert die 'falschen Anwendungen': man kritisiert die falsche Moral, die falschen Erkenntnisse, die falschen Religionen usw.; so konzipiert z.B. Kant die berühmte 'Kritik': das Erkenntnisideal, die wahre Moral, der Glaube gehen unversehrt daraus hervor. Und dann gibt es eine andere Familie von Philosophen, diejenige, die von Grund aus die wahre Moral, den wahren Glauben, die ideale Erkenntnis zugunsten von etwas anderem kritisiert, gemäß einem neuen Bild des Denkens. Solange man sich damit begnügt, das 'Falsche' zu kritisieren, tut man niemandem weh (die wahre Kritik ist die Kritik der wahren Formen und nicht der falschen Inhalte [...]).”Es gibt diese beiden Kritiken: die falsche Kritik des Falschen und die wahre Kritik des Wahren, “jene totale Kritik, die gleichzeitig Schöpfung ist, totale Positivität”. Die negative und die positive Kritik, die verneinende und die bejahende, die destruktive und die dekonstruktive, die kritische Kritik und die hyperkritische Kritik. “Zuerst muß man fähig sein, zu bewundern [...] Und bei der Bewunderung findet man die wahre Kritik wieder.”

Soll man es wagen, die Hyper-Kritizität mit der Dekonstruktion kurzzuschliessen, im Namen einer neuen Aufklärung für das 21. Jahrhundert? Derrida scheint einen Augenblick zu zögern. Dieses Zögern, die Zögerlichkeit im allgemeinen, eine Art hyperbolischer Verwunderung und Bewunderung, ist das die Dekonstruktion? Im Namen einer neuen Aufklärung, das heisst auch: im Namen einer neuen Gerechtigkeit, einer neuen Emanzipation, einer anderen Demokratie und eines anderen Subjekts. Die Dekonstruktion, wenn man sie sich als Suspension der überlieferten und etablierten Realitäten und ihrer Gesetze vorstellen darf, verlangt von sich mehr zu sein als die Kritik. Die Dekonstruktion will kritischer sein als die Kritik. Sie wendet die Kraft der Analyse, die kritische Kraft, noch auf sich selbst an. Dekonstruktion ist Selbstdekonstruktion, Infragestellung der Idee des Selbst und des Subjekts durch eine Art von Selbst und Subjekt. Um verantwortlicher zu sein als die Kritik, gerechter, muss die Dekonstruktion die Kritizität des Kritischen überholen, sie muss hyper-kritisch, unnachgiebiger, verletzender und konstruktiver sein als die Kritik.

Verantwortlich zu sein bedeutet, die Unendlichkeit der Verantwortung des hyperkritischen Subjekts zu affirmieren. Im Akt dieser Affirmation bejaht die Dekonstruktion ein anderes Bild des Subjekts: ein hyperbolisches Subjekt einer anderen Freiheit, die seine objektive Eingebundenheit im Tatsachen-Universum überfliegt. Das Subjekt der Dekonstruktion ist kein negatives, nur kritisches oder reaktives Subjekt. Es ist Subjekt einer verschwenderischen Bejahung. Es bejaht sich selbst und die Unkenntlichkeit dessen, was sein Selbst angesichts des Künftigen und des absolut Vergangenen, d.h. angesichts der irreduziblen Andersheit konfiguriert. Indem das Subjekt der Dekonstruktion sich selbst bejaht, bejaht es kein selbsttransparentes Selbst. Dekonstruktion ist Unterbrechung dieses Selbst und seiner vermeintlichen Transparenz. Sie ist ”Selbstunterbrechung” in der Grammatik des doppelten Genitivs: das Selbst unterbricht sich selbst. Selbstunterbrechung ist Unterbrechung des Selbst durch das Selbst.

Die Dekonstruktion bleibt bezogen auf das, was das Selbst im Verhältnis zu sich distanziert und verdunkelt. Sie hat sich unendlich gegenüber dieser Dunkelheit verschuldet, die man das Selbst des Selbst nennen könnte, seine blinde Stelle: ”da ich nicht identisch bin mit mir.” Der ”absolut Andere in mir selbst und der absolut Andere ausserhalb meiner selbst bedeutet dasselbe.” Deshalb muss man, wie Derrida sagt, die Entscheidung, den ethischen oder politischen Akt als ”etwas Passives in einem bestimmten Verständnis von Passivität” denken: Das Subjekt der Verantwortung übernimmt als anderes Subjekt und Subjekt des Anderen Verantwortung angesichts und für die Andersheit im Allgemeinen und angesichts und für die Andersheit des anderen Subjekts. Und dennoch: das Selbst, das sich unterbricht, indem es ”sich” mit sich, mit der Andersheit des Selbst und mit dem anderen Selbst, konfrontiert, bleibt in einem gewissen Sinn es selbst. Es konstituiert sich, sein Selbst, im Moment dieser Konfrontation als konfrontatives, sich selbst entgleitendes, gegen sich verschobenes, im Werden begriffenes Selbst. Dieses Selbst, das Selbst des Werdens, ist das hyperkritische Subjekt der Wahrheit, das sich inmitten der Grausamkeit des Seienden und seiner hyperbolischen Mannigfaltigkeit konstituiert.