artmap.com
 
MARCUS STEINWEG
 

ICH SITZE AUF DEM LEBEN CATALOGUE:THOMAS HIRSCHHORN "THE PROCESSION" KESTNERGESELLSCHAFT HANNOVER 2006

Katalogbeitag für Thomas Hirschhorn "The Procession"
Kestnergesellschaft Hannover 2006
Ich will die Fragen beantworten:

1. Was ist Wahrheit?
2. Was ist eine Wahrheitsberührung?
3. Was ist eine Lebensform?
4. Was heißt Leben, und was bedeutet es dem Leben, seinem Leben, eine Form zu geben?
5. Was ist Wahrheitsberührung als Lebensform?

Das sind die Fragen. Wichtig ist, eine Antwort auf diese Fragen zu geben. Es gibt in der Philosophie eine gewisse Hypostasierung des Fragens. Man sagt, Philosophie sei zunächst und vorallem Fragenstellen. Man verteidigt Philosophie als Frage, man hat das Fragen die “Frömmigkeit des Denkens” genannt.

Ich will das Antworten, den Mut zur Antwort – einer Antwort, die jeder denkbaren und faktischen Frage vorauseilt – als Praxis und Ethik und (warum nicht) Frömmigkeit der Philosophie verteidigen. Die Antwort, die der Frage vorauseilt, das wäre bereits eine erste Definition des Begriffs der Lebensform. Eine Lebensform hat die Struktur dieses Früher, dieser vorausgeeilten Antwort, die die Bedingung der Möglichkeit nicht nur der Frage, sondern auch jener Antworten darstellt, die auf Fragen reagieren.

Die Lebensform geht dem Frage-Antwort-Spiel voraus. Das Subjekt der Lebensform bewohnt den Raum einer Antwort, auf die Fragen und Antworten erst folgen, ohne dass der Lebensform selbst eine Frage vorausginge, deren Antwort sie wäre. Und dennoch ist der Raum der Lebensform Raum einer irreduziblen Kontingenz. In diesen Raum findet sich das Subjekt als Subjekt ursprünglich eingelassen. Es bewegt sich in ihm wie in seinem Element.

“Wenn der Ort zu dem ich gelangen will nur auf einer Leiter zu ersteigen wäre”, konstatiert Wittgenstein, “ich gäbe es auf dahin zu gelangen. Denn dort wo ich wirklich hin muß, dort muß ich eigentlich schon sein.” Schon dort sein, wo man hin will – das ist die Formel eines Denkens, das man als Immanenzdenken beschreiben kann; einer Immanenz, der es gelingt die Transzendenz (ihr Jenseits) in sich zu integrieren. Wittgensteins Denken ist ein solches Denken, das die Immanenz des Schon oder des Früher an ihre Grenze treibt, um inmitten der Evidenz der Lebensformvertrautheit eine konstitutive Unvertrautheit auszumachen, die Präsenz dessen, was nur als Absenz gegenwärtig sein kann. Wittgenstein hat von seiner Arbeit gesagt, sie sei “Klärungswerk” , Arbeit des Klärens. Bedeutet das, dass sein Ziel das Schaffen von Klarheit war? Nicht notwendig, wenn man bedenkt, dass das Produkt der Klärung zwar Klarheit ist, aber es keine Klarheit gibt, die nicht verstört.


1. Das Unvertraute

Die Frage der Lebensform auf die Frage der Wahrheit zu öffnen, bedeutet nicht weniger, als die Kontingenz und Abgründigkeit zu streifen, die dem geteilten Grund – dem geteilten Lebensgrund – den Wittgenstein Lebensform nennt, eine radikale Zwiespältigkeit oder Unentscheidbarkeit einschreibt. Wahrheit nenne ich die Grenze jeglicher Lebensform, und diese Grenze gehört der Lebensform in einem gewissen Sinn selbst an. Der Begriff der Lebensform teilt und entfaltet sich an dieser Grenze, die das Ende der Evidenz dieses seltsamen Früher anzeigt. Mit der Erfahrung von Wahrheit geht das Selbstverständliche und Vertraute der Lebensform verloren. Deshalb lässt sich sagen, dass in jeder Lebensform die Dimension des Vertrauten sich mit einer fundamentalen Unvertrautheit verbindet. Wahrheit ist, was die Reinheit und das schlichte Funktionieren einer Lebensform stört und unterbricht.

Wahrheitsberührung nenne ich die Erfahrung dieser Unterbrechung. Im Kontakt mit einer Wahrheit geht die Evidenz der Lebensform verloren. Das Subjekt fällt aus seinem Rahmen. Es kippt in eine Art von Aussen, ohne auf den Verlust der Evidenz überhaupt reagieren zu können, ohne darauf vorbereitet zu sein. Zur Wahrheits-Er-fahrung gehört das Plötzliche ihres Erscheinens. Es gibt so etwas wie eine Wahrheit nur als Wahrheitsereignis, als Einfall des Unmöglichen in die Dimension der Möglichkeit. Das wäre eine zweite Definition der Lebensform: Eine Lebensform konstituiert den Lebensraum des Möglichen. Und die Grenze dieses Lebensraums, die Unterbrechung des Stroms, des Lebensstroms, bedeutet, dass eine Wahrheit eingetreten ist. Es bedeutet, dass das Subjekt an die Grenze seiner Möglichkeiten und seines Lebens rührt.

Was geschieht mit dem Subjekt dieser Anrührung? Was bedeutet, eine Wahrheit zu erfahren? Das Subjekt der Lebensform lebt sein Leben als Möglichkeitsleben, als Möglichkeitsform. Es gleitet nahezu widerstandslos durch den Raum des Unzweifelhaften. Man kann sagen, es lebt, heisst hier, in diesem Raum der Lebensform: es funktioniert. Ich denke, dass Wittgensteins Denken immer neu von der Differenz die das Funktionieren von der Dysfunktion trennt, heimgesucht wird. Die Frage nach dem Leben, nach dem richtigen und anständigen Leben, die, wenn man so sagen kann, für Wittgensteins eigene Lebensform kennzeichnend zu sein scheint, hat sich im vornhinein in den Horizont dieses Konflikts oder dieser Differenz zwischen dem Lebbaren und dem Unlebbaren, dem Möglichen und dem Unmöglichen gestellt. Ich denke weiterhin, dass diese Differenz sich in einer anderen spiegelt, die die Unvereinbarkeit der Fakten mit dem Ethischen, mit der Dimension des Ethischen, darstellt. Ich denke auch, dass der Konflikt zwischen der Ordnung des Sagbaren und des Unsagbaren oder Unaussprechlichen oder Mystischen, sich in der Differenz Leben/Tod verlängert: “Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht”, ist einer der Kernsätze des Tractatus , den die (frühere) Tagebuchaufzeichnung vom 8.7.1916 folgendermaßen ergänzt: “Er ist keine Tatsache der Welt” .

Der Tod unterbricht nicht nur das Leben, er unterbricht die Lebbarkeit des Lebens: die Tatsachendimension. Sich auf das Unlebbare erstrecken, bedeutet den Tod in seiner vollen Unerfahrbarkeit in sein Leben und seine Lebensform zu integrieren. Eine solche Integration bringt das Subjekt und alle seine Evidenzen ins Wanken. Sie ist die Erfahrung einer elementaren, ontologischen Desintegration.

Das Unlebbare leben, dem Tod einen Platz inmitten seines Lebens zuweisen: das nenne ich eine Wahrheit berühren! Und ich glaube, dass der Riß, der die Erfahrung der Lebensform zum Konflikt der Erfahrung des Erfahrbaren mit der Erfahrung des Unerfahrbaren werden lässt, zur Frage des Ethischen im allgemeinen gehört. Im Vortrag über Ethik (1929) hat Wittgenstein auf der Unvereinbarkeit der bloßen Fakten mit der Sphäre des Ethischen insistiert, um die Ethik als “übernatürlich” zu charakterisieren. Die Übernatürlichkeit der Ethik lässt sich auf die Dimension des Wunders und seines Ereignischarakters beziehen. Das “Wunder der Existenz der Welt”, die “Welt als Wunder” hat Wittgenstein vom Anfang seines Lebens bis zu seinem Tod in Atem gehalten. Sie alle kennen den Satz aus dem Tractatus: Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.” (6.44).

“Sagen Sie ihnen, daß ich ein wundervolles Leben gehabt habe!” Das sollen die letzten Worte Wittgensteins gewesen sein. Ein wundervolles Leben: ein Leben also, dass dem Appell des Unlebbaren, der Versuchung der Wahrheit nicht ausgewichen ist. Ein Leben, dass das Rätselhafte, das auch der Tod darstellt, zu empfangen, aufzunehmen und zu beherbergen versuchte. Ein Wahrheitsleben, solange wir unter Wahrheit die Grenze der Gewißheiten verstehen. Wahrheitsberührung ist diese Erfahrung des Ethischen. Berührung dessen, was sich nicht berühren läßt, Berührung des Unberührbaren, Überschreitung der Tatsachendimension. “Das Gute”, sagt Wittgenstein, “liegt außerhalb des Tatsachenraumes.”

Die Frage, die ich mir stelle, ist, inwiefern das Schwimmen des Subjekts im Lebensstrom, inwiefern sein Aufenthalt in einer Lebensform, das Subjekt nicht notwendig mit diesem Riß konfrontiert, mit dem Wunder, mit dem Ereignis, mit der Wahrheit, mit dem Ethischen und mit dem Tod; inwiefern also in der Erfahrung der Vertrautheit und Evidenz und Alltäglichkeit der Lebensform die Nacht der Nicht-Evidenz durchschlägt, das Unvertraute, das Unheimliche selbst. “Evidenz” oder Nicht-Evidenz, die, wie Wittgenstein sagt, “mir das Sicherste” – die Evidenz als solche – “unannehmbar machte.”

Die Lebensform meint zunächst die mit anderen Subjekten geteilte Realität. Die Lebensform ist der geteilte Horizont. Der Horizont ist nicht primär der phänomenologische Horizont des Sehens, der Anschauung und Vorstellung oder Erkenntnis. Er ist Horizont des Lebens, Lebenshorizont. Im Begriff der Lebensform findet sich schon der Hinweis auf die Gemeinschaft der Subjekte, auf die Subjektgemeinschaft, auf das Gemeinschaftliche des Subjekts.

Das Subjekt teilt sich mit anderen Subjekten eine Welt. Die Tatsachenwelt. In der Tatsachenwelt ist das Subjekt nicht allein. Die Tatsachenwelt ist die Zone der Gemeinschaft. Sie ist Teilhaberzone von Teilhabersubjekten, die gemeinsame Partizipanten ihrer Evidenzen, Überzeugungen und Ungewißheiten sind. Die Tatsachenzone ist der Raum der Sprache, des geteilten Logos, der soziosymbolische Raum.

Im Tractatus sagt Wittgenstein: “Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt”. Das heißt, dass das Subjekt in der Sprachgemeinschaft, in der geteilten Lebensform und ihren symbolischen Imperativen nicht aufgehen kann. Das Subjekt geht nicht auf. Es ist Grenze der Gemeinschaft. Grenze und Widerstand. Es lebt sein Leben in geteilten Horizonten. Aber es verschwindet nicht in der Gemeinschaft. Es sticht aus ihr hervor. Obwohl das Subjekt auf dem geteilten Grund der geteilten Lebensformen steht, drängt es aus diesen Formen als dieser einsame Widerstand hervor. Es durchbricht den geteilten Horizont und markiert seine Grenze. Es ist Horizont des Horizonts.

Was aber ist der Sinn einer Wahrheitsberührung? Was überhaupt ist Wahrheit? Was bedeutet Wahrheitsberührung als Lebensform? Ich nenne Wahrheit den Raum dieser Grenze. Wahrheitserfahrung ist Berührung der Grenze. Das Subjekt ist Wahrheitssubjekt als Subjekt dieser Berührung. Es berührt, indem es an eine Wahrheit rührt, in einer auch missverständlichen Weise sich selbst. Ein Selbst, dass es streng genommen, nicht gibt. Es tritt mit einem (unmöglichen) Jenseits in Kontakt.

Wahrheitsberührung als Lebensform heisst, dass es einen zweiten, einen anderen Begriff der Lebensform gibt, als denjenigen des geteilten Horizonts, der geteilten Sprache. Dieser andere Begriff der Lebensform meint die Durchbrechung und Begrenzung der Lebensform als Horizont und Übereinkunft und zielt auf das Subjekt der Wahrheitsberührung als Subjekt der Grenze der Welt. Dieses Subjekt kann nicht weiterhin auf den gemeinschaftlichen Grund einer praktischen Sprach- und Handlungsgemeinschaft vertrauen, auf die Konsistenz eines gemeinsamen “Bezugsystems” , auf die Selbstverständlichkeit seiner Welt. Es macht die Erfahrung einer über ihren Grund hinausschiessenden Unvertrautheit und Inkonsistenz.

Der Raum dieser Unvertrautheit oder Unheimlichkeit ist nicht die Zone des Zweifels. Es gibt etwas, was noch den Zweifel unmöglich macht, was den Zweifel unendlich begrenzt. Das ist die Evidenz des Grundlosen und Unvertrauten. Die Evidenz der Nichtevidenz.

In den späten Fragmenten zur Gewissheit ist Wittgenstein die Grenze abgelaufen, die das Universum der Vertrautheit von der Dimension der Unvertrautheit scheidet. Und er hat gesehen, was eine der höchsten Herausforderungen des Denkens darstellt: dass die Trennlinie, die zwischen der Tatsachenwelt und der Unwelt des Unvertrauten verläuft, nur als Unentscheidbare denkbar ist.

Während die Lebensform als Horizont von dem Gefühl und der Vertrautheit, Verlässlichkeit und der Gewißheit und Sicherheit begleitet wird, – von dem Glauben zu wissen – bedeutet Wahrheitsberührung als Lebensform, dass das Subjekt dieser Berührung an den Abgrund des Unvertrauten rührt. Alle “Schwierigkeit”, sagt Wittgenstein, liegt darin, “die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen.” Der Begriff der Lebensform weist in diese Ambivalenz: vertraut im Unvertrauten zu sein. Einmal ist Lebensform der Name der Ordnung der Übereinstimmung der Teilhabersubjekte dieser Ordnung. Ein anderes mal konfrontiert uns die Lebensform mit der Unmöglichkeit von Übereinkunft und Gemeinschaft, mit dem Einbrechen der geteilten Horizonte, mit dem Entgleiten von Welt. Die Lebensform der Wahrheitsberührung verlängert das einfache Lebensformsubjekt auf die der gemeinschaftlichen Teilnahme an Sprachspielen vorausspringende Erfahrung der Kontingenz und Abgründigkeit des Spiels.

Der Struktur dieses Spiels – dem irreduziblen Schwanken zwischen Grund und Abgrund, Evidenz und Nicht-Evidenz, Notwendigkeit und Kontingenz – kann man noch in einem anderen Spielbegriff begegnen, der den ganzen Bogen des abendländischen Denkens durchmisst. Heraklit, Nietzsche, Heidegger, Eugen Fink und Kostas Axelos haben diesem Begriff die Permanenz, Einfachheit, Intensität und Selbstverständlichkeit eines ontologischen Bilds gegeben. Weltspiel ist der Name für den Seinsgrund, der zugleich Abgrund ist, denn, es ist ein Kind, sagt Heraklit im Fragment 52, das über den Logos wacht.

Wir wissen von der Wichtigkeit die Kinder und das Bild des Kindes in Wittgensteins Leben und Werk spielen. Es ist klar, dass, wenn vom Spiel und vom Spielen die Rede ist, das Kind oder die Kinder nicht weit sein können. Ich will von diesem Bild des Kindes und dessen unschuldigem Spiel, vom Weltspiel, zur Kategorie des Sprachspiels und zum Begriff der Lebensform wechseln. Die Unschuld des Kindes – das Bild oder Phantasma einer solchen Unschuld – hat zu einem anderen Phantasma und einer anderen Unschuld zumindest privilegierte Beziehungen: zur Animalität. Im Paragraphen 357 der Untersuchungen zur Gewissheit macht Wittgenstein die Unterscheidung zwischen der “beruhigten Sicherheit” und der “noch kämpfenden”, um schliesslich die beruhigte Sicherheit mit dem Begriff der Lebensform zu konnotieren: “Ich möchte”, sagt Wittgenstein, “diese Sicherheit nicht als etwas der Vorschnellheit oder Oberflächlichkeit Verwandtes ansehen, sondern als (eine) Lebensform”, wobei er den unbestimmten Artikel “eine” in Klammern setzt. Wittgenstein fährt fort (§ 359): “Das heißt doch, ich will sie als etwas auffassen, was jenseits von berechtigt und unberechtigt liegt; also gleichsam als etwas Animalisches."

Die beruhigte Sicherheit wird hier durch drei Momente bestimmt:

1. als (eine) Lebensform
2. als etwas, “was jenseits von berechtigt und unberechtigt liegt”
3. als “etwas Animalisches”.

Ich denke, dass der Gebrauch solch wankender Formulierungen wie “etwas” (die beruhigte Sicherheit sei “etwas ...”) und Wittgensteins Schwanken, ob er dem Begriff Lebensform den unbestimmten Artikel “eine” voranstellen soll (faktisch tut er es, aber er setzt ihn in Klammern) zur Bestimmung der Lebensform und ihres Begriffs alles andere als zufällig ist. Es scheint, dass die Begriffe der Lebensform und der beruhigten Sicherheit eine Art Unbestimmtheit mit sich bringen. Als seien diese Begriffe nicht dazu gemacht, Ruhe und Sicherheit ins Denken zu bringen (in Wittgensteins Denken und ins Denken allgemein).

Die beruhigte Sicherheit als Lebensform liegt jenseits von berechtigt und unberechtigt, wie ein Tier, wäre man versucht zu sagen, “als etwas Animalisches”. Was also wäre die noch kämpfende Sicherheit? Läge hier der Ursprung von Wittgensteins Begriff der Lebensform der Wahrheitsberührung? Offenbar hätte Wittgenstein die noch kämpfende Sicherheit mit dem Motiv der Unruhe, mit einer elementaren Ruhelosigkeit und Unvertrautheit verbunden. In einem Folgeparagraphen (im § 511) wird die “Sicherheit” vom “Wissen” geschieden: Es gibt eine Sicherheit (zum Beispiel wie sie im unmittelbaren und unzweifelhaften und vertrauten Griff nach einem Handtuch zum Ausdruck kommt), die durch keinerlei Wissen getrübt zu sein scheint. Wieder muss das Bild der animalischen Evidenzen – der selbstverständlichen Instinkthandlungen, die jenseits von berechtigt und unberechtigt, jenseits von gut und böse, liegen – die Folie abgeben, auf der Wittgenstein den Zusammenhang von Lebensform und Sicherheit denkt.

Ich denke er will sagen: auf die beruhigte Sicherheit der Lebensform, kann man wie auf ein Tier oder ein Kind vertrauen. Das Tier schwebt zwischen Grund und Abgrund, zwischen Logos und Chaos. Und auch die Lebensform (der beruhigten Sicherheit) bildet diese dünne Haut zwischen der Dimension des Sagbaren und der Ordnung des Unsagbaren, des Schweigens oder des Unaussprechlichen. Was ist, fragt sich Wittgenstein, wenn dieses Häutchen reißt, wenn der Schleier der Lebensweltvertrautheit löchrig zu werden beginnt? Wir können uns kaum vorstellen, dass Tiere lügen oder entgleisen, so sehr lebt unser Denken vom Vertrauen in die Ehrlichkeit, die Sittlichkeit und Integrität des Tiers, vom Bild der instinktberuhigten, instinktgesicherten Animalität. Der animalische Instinkt scheint wie eine Versicherung zu wirken, die das Tier vor dem Schlimmsten, vor dem Exzess der Lebensform, bewahrt. Als sei der Exzess ein menschliches Privileg, ein Privileg der humanitas, ein Privileg der Vernunft.

Wittgenstein fragt: “Wie, wenn etwas wirklich Unerhörtes geschähe?” Was wäre, wenn das Tier lügt, oder wenn es sich irrt und das animalische Wissen, seine Sicherheit, versagt? Die Welt der Animalität, die Lebensformvertrautheit, würde sich auf die Sphäre einer Unvertrautheit öffnen, die das Tuch der Zweifellosigkeit zerrisse. “Wäre es aber nicht möglich”, fragt Wittgenstein weiter, “dass etwas geschähe, was mich ganz aus dem Geleise würfe? Evidenz, die mir das Sicherste unannehmbar machte”? Was ich Wahrheitsberührung nenne, hat die Struktur einer solchen Entgleisung. Das Tier entgleist nicht, denkt man, aber der Mensch. Ich will sagen, dass Erfahrungen möglich sind, die das Subjekt aus seiner animalischen Securitas reissen. Das sind Erfahrungen, die das Gewebe der Lebensform brüchig werden lassen. In ihnen hat das Subjekt zum Unerfahrbaren, zum Unmöglichen und Unlebbaren Kontakt.

Ich denke, dass diese paradoxale Struktur offen auf Verschliessung zu sein, – eine Struktur, wie sie für Wittgensteins Denken charakteristisch ist, für sein Vorhaben, die Dimension des Unaussprechlichen von Innen zu begrenzen usw. – in den stärksten philosophischen Positionen – trotz aller Unterschiedlichkeit der Sprachspiele – erkennbar ist. Das ist die Struktur Grund als Abgrund, Präsenz als Absenz. Von Heraklits physis kryptestai philei (die Natur, das Sein, die Seinstotalität liebt es sich zu verbergen), über Nietzsches Sein als Werden und Heideggers Sein als Verbergung und Lacans Sein als Seinsmangel bis zu Derridas Denken der différance als Denken der Präsenz dessen, was im Kommen bleibt, spinnt sich der Faden dieses Denkens bis in die Gegenwart. Die Theorie der différance artikuliert sich als Ontologie des unendlichen Aufschubs, als Denken der unendlichen Verzögerung voller Präsenz. Sie artikuliert sich in der Zurückweisung des Kardinalphantasmas abendländischer Subjektivität. Das ist das Phantasma der unendlichen Unschuld (des Tieres, der Kinder oder nicht), Phantasma des perfekten Verbrechens, Phantasma der Unbeflecktheit, der Reinheit der unbefleckten Empfängnis. Traum oder Vorstellung, dass etwas ohne Energieverlust gelingen und funktionieren und existieren kann, ohne Spuren zu hinterlassen, ohne passiert zu sein! Als sei es möglich zu leben, zu denken, zu handeln, ohne den Anderen, ohne die Dimension der Andersheit, des Inkommensurablen, der Heterogenität zu kontaktieren. Narzisstischer Traum umwegloser bewegungsloser Existenz, gelingender autofellatio. Phantasma ungestörter animalischer Selbstaffektion, wie sie das Ideal des modernen autonomen Subjekts ist.

Die Animalität hat in der Tradition nicht nur der Moderne (der Neuzeit) diese zwei Funktionen, die, obwohl sie einander auszuschliessen scheinen, streng kompatibel sind. Das Tier ist Bild der reinen autoaffectio und Selbstberührung, Allegorie der narzisstischen Integrität der physis, der Natur. Gleichzeitig hat sich das Subjekt in dieser Tradition von der Animalität geschieden, um die Anaturalität der Selbstaffektion, seine Reinheit, zu garantieren. Die Animalität hat sich in das doppelte Phantasma von Reinheit und Unreinheit gespalten. Als wäre der Körper des Tieres von Schuld und Unschuld gleichermassen gezeichnet. Auch deshalb, weil die animalitas in diesem Denken als das Körperliche selbst, als ein anderes Bild des Körpers erscheint.

Oft wird Wittgensteins Wille zur Reinheit und Anständigkeit hervorgehoben. Vielleicht lässt sich sagen, dass der Begriff der Lebensform ein narzisstisches und ein nichtnarzisstisches Moment hat, dass der Lebensform beide Modi der Animalität korrelieren. Und gleichzeitig finde ich bei Wittgenstein die Artikulation einer Lebensform, die sich der Grenze der Lebensformvertrautheit öffnet. Das ist, was ich Wahrheitsberührung nenne, Wahrheitsberührung als Philosophie und Philosophie als Wahrheitsberührung: Leben, das sich eine Form gibt, indem es die Lebensformevidenz, die Zweifellosigkeit, verdunkelt. Leben, das sich – statt nur Erkenntnisleben zu sein – als Wahrheitsleben behauptet, während es seine Möglichkeiten zu wissen und zu erkennen auslotet, um endlich an die Mauer des Unerkennbaren zu rühren. Wahrheitsberührung ist Überschreitung der Lebensweltvertrautheit auf die Mauer des Unvertrauten, des Unheimlichen, des Ethischen, des Unmöglichen und Unlebbaren.

Was lässt sich von dieser Mauer sagen, von dieser Grenze oder Tür, die sich auf nichts zu öffnen scheint? Was ist der Status dieser Grenze? Könnte es sein, dass das Unvertraute, auf das diese Tür sich öffnet nicht existiert? Und dennoch ist da eine Tür.


2. Die gespaltene Grenze

In der Vorlesung des Michaelistrimesters 1930 stellt Wittgenstein die Frage “Was ist Philosophie?” Ist Philosophie “eine Untersuchung des Wesens der Welt?” Klar ist, dass wir “eine endgültige Antwort oder eine Beschreibung der Welt” wollen, “ob sie verifizierbar ist oder nicht”. Wittgenstein bejaht die Möglichkeit einer solchen Antwort: “eine Beschreibung der Welt einschließlich der psychischen Zustände können wir gewiß geben und die sie bestimmenden Gesetze entdecken, doch dann wäre vieles noch nicht erfaßt, wie z. B. die Mathematik”. Und er folgert daraus: “Was wir in Wirklichkeit tun, ist, daß wir unsere Begriffe in Ordnung bringen und klarstellen, was sich tatsächlich über die Welt sagen läßt”. Denn: “Uns ist nicht klar, was sich sagen läßt, und wir versuchen, dieses durcheinander aufzuräumen.” Wittgenstein beantwortet die Frage “Was ist Philosophie?” wie folgt: “Diese Tätigkeit des Aufräumens, das ist die Philosophie.”

Die Philosophie räumt auf. Sie schafft Ordnung, würde man augenblicklich folgern. Was bedeutet aufräumen und Ordnung schaffen, solange zur Philosophie und zum Subjekt der Kontakt mit dem Inkommensurablen und Unsagbaren gehört? Offenbar kann der Begriff der Philosophie nur im Verhältnis zur etablierten Ordnung oder Unordnung der Begriffe gewonnen werden. Offenbar betrifft die Tätigkeit des Aufräumens diese Unordnung, die sich als Ordnung mißversteht und gibt. Offenbar heisst Ordnung in die Begriffe bringen, zwischen Ordnung und Unordnung unterscheiden lernen. Unterscheiden lernen zwischen dem, “was sich tatsächlich über die Welt sagen läßt” und dem, was sich nicht sagen läßt. Die Unordnung in der Philosophie rührt also daher, dass die Philosophen nicht zwischen Unordnung und Ordnung zu unterschieden haben: zwischen der Ordnung der Unordnung, die das Inkommensurable ist, und der Ordnung der Ordnung, die Wittgenstein auch Tatsachenraum nennt. In der Sprache des Tractatus entspricht die Differenz zwischen Ordnung und Unordnung, der Unterscheidung zwischen der “Welt” als “Gesamtheit der Tatsachen” und dem “Unausprechlichen” oder “Mystischen”.

In allen Phasen seines Denkens haben alle Probleme Wittgensteins mit dieser Unterscheidung zu tun, mit der Trennlinie, die diese beiden Ordnungen teilt. Alle Probleme verdichten sich an dieser Grenze, insofern von ihr nicht gesagt werden kann, dass sie ein bestehendes Territorium schneidet und teilt. Wittgensteins Denken ist kein Zwei-Welten-Denken. Es gibt nur eine Welt. Doch diese Welt, die Tatsachenwelt, grenzt an eine Dimension, die mit dieser Begrenzung identisch ist. Der Tatsachenraum öffnet sich nicht auf ein Jenseits. Er wird begrenzt durch eine Grenze, jenseits derer nichts ist. Zu oft hat man diese entscheidende Unentscheidbarkeit von Grenze und Jenseits der Grenze im Denken Wittgensteins übersehen.

Die Struktur Grund/Abgrund, Tatsachenraum/Ethik und Religion, Leben/Tod lebt von der wesenhaften Unentscheidbarkeit der Differenz ihrer beiden “Seiten”. Dass das “Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs”, wie Wittgenstein im Ethikvortrag sagt, “völlig und absolut aussichtslos” ist, meint, dass es kein Jenseits des Käfigs gibt. Aber es gibt eine Art primordialer Bezogenheit des Subjekts auf dieses unmögliche Jenseits, Öffnung auf Verschliessung, die Erfahrung, dass der Käfig für immer verschlossen ist. In diesem Sinn kann Wittgensteins Denken als Immanenzdenken bezeichnet werden. Denn die Transzendenz ist nichts als ihre Unmöglichkeit. Sie markiert die Grenze der Immanenz, nicht ihr Jenseits. Was sich hier zeigt ist dem Zusammenfallen der beiden Ordnungen von Sein und Nichts im Denken Hegels und Heideggers vergleichbar. Heideggers ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem entspricht der Differenz zwischen dem was nicht ist (und in diesem präzisen Sinn mit dem Nichts zusammenfällt) und dem, was ist, und das Heidegger entsprechend das Seiende nennt. Die Dimension des Seienden ist auf die Sphäre dessen, was sich in ihr als solches nicht ausdrücken kann, bezogen. Das ontologische Register wird durch nichts, das heisst, durch seine Grenze begrenzt. Im Anschluss an Heidegger hat Maurice Blanchot einem seiner Bücher den Titel Le pas au-delà gegeben, was sich gleichermassen als Der Schritt ins Jenseits, wie als Das Nicht-Jenseits übersetzen läßt. Philosophisch angemessen wäre, beide Übersetzungen in ihrer strittigen Kompossibilität gelten zu lassen. Der Schritt ins Jenseits ist der Schritt in ein Jenseits, dass es faktisch nicht gibt. Das ist der eigentliche Sinn, den Wittgenstein dem Begriff der Fakten und des Faktischen im Vortrag über Ethik gibt, wenn er einmal ausruft: “doch das sind bloße Fakten, Fakten und nochmals Fakten, aber keine Ethik”, um darauf zu folgern, “Die Ethik ist, insofern sie überhaupt etwas ist, übernatürlich [...].” Das heisst: Ethik ist, was der Ordnung des Seins nicht angehört und in diesem Sinn übernatürlich genannt werden kann. Dass sie übernatürlich ist, meint streng genommen nichts anderes, als dass sie nicht existiert oder eben nur als Grenze dessen, was ist.

Was also ist Philosophie? Was bedeutet Aufräumen? Wie verhält sich die Tätigkeit des Aufräumens zum Übernatürlichen? Die Philosophie schafft Ordnung, indem sie den Kontakt zur Ordnung der absoluten Unordnung – zur Dimension des Ethischen oder Göttlichen oder Übernatürlichen – hält. Statt der Strategie eines naiven Positivismus zu folgen, für den es schlicht nichts Übernatürliches gibt, kompliziert Wittgenstein eine solche Strategie, um auf der Effizienz dessen zu beharren, von dem auch er sagt, das es nicht ist. In Wittgensteins Denken entspricht der Seinsstatus des Übernatürlichen seiner Effizienz. Das Übernatürliche ist nicht, aber es macht sich geltend. Dieses Sichgeltendmachen hat Wittgenstein Sichzeigen genannt.

Ein solcher Begriff der Effizienz dessen, was der Ordnung des Seins nicht angehört, ist auch der Psychoanalyse vertraut. Psychoanalyse ist Vertrautheit mit dem Unvertrauten: Denken, das die Rolle des Nichts im ontologischen Seelentheater einzugrenzen versucht. Wissen, dass es etwas gibt, das realer ist als die Realität. Insistenz auf der fundamentalen Funktion davon, was die Grenze des Funktionieren, der Funktionsabläufe anzeigt. Das ist der Punkt an dem sich Wittgensteins Denken dem psychoanalytischen Wissen annähert: im Bewußtsein um die Grenze des Bewußtseinssystems und die Grenzen der Erkenntnisapparatur. Jacques Lacans Theorie des Realen, des Seinsmangels und des Fundamentalphantasmas ist genau genommen eine Theorie des Nichts. Ein Denken also, dass die Dimension des Nichts oder des Realen durch Bestimmung der Regeln der Realität, der positiven Seinsordnung, von Innen zu begrenzen versucht.

Zu keinem Zeitpunkt hat sich Wittgensteins Denken dem Verschlossenen verschlossen. Vielmehr geht es diesem Denken, um den Kontakt mit dem Undenkbaren so, dass der Kontakt die Integrität des Verschlossenen respektiert. Es ist ein Denken, das sich dem Verschlossenen öffnet, indem es diese Öffnung durch das Verschlossene begrenzt. Es bleibt ihm nicht anderes übrig, als diese Grenze zu erfahren. Während eine gewisse Tradition des idealistischen Denkens mit den Versuchungen des Mystizismus den Schritt ins Jenseits des Offenen teilt, qualifiziert sich das Denken der Grenzerfahrung dadurch, dass es um die Unmöglichkeit des Jenseits weiss. Da ist nichts jenseits der Grenze. Dem Denken bleibt nichts als der Kontakt mit einer Verschliessung, die das Jenseits selbst verschliesst, statt nur das Offene zu begrenzen. Wittgenstein hat dieses Zusamenfallen von Grenze und Jenseits der Grenze in aller Deutlichkeit gesehen.

Ich will eine auf das Jahr 1931 datierte Notiz aus den Vermischten Bemerkungen zitieren: “Das Unaussprechbare (das, was mir geheimnisvoll erscheint & ich nicht auszusprechen vermag) gibt vielleicht den Hintergrund, auf dem das, was ich aussprechen konnte, Bedeutung bekommt.” Was bedeutet hier Hintergrund? Inwiefern macht es überhaupt Sinn in diesem Zusammenhang von einem Hintergrund zu sprechen? Und was ist der Sinn dieses erneuten Schwankens, dieses vielleicht? Ich will behaupten, dass der präzise ontologische Status dessen, was Wittgenstein hier Hintergrund nennt, der eines problematischen Begriffs im kantischen Wortsinn ist: “Ich nenne”, schreibt Kant in der Kritik der reinen Vernunft, “einen Begriff problematisch, der keinen Widerspruch enthält, der auch als eine Begrenzung gegebener Begriffe mit anderen Erkenntnissen zusammenhängt, dessen objektive Realität aber auf keine Weise erkannt werden kann.” Wir haben, heisst es weiter, “einen Verstand, der sich problematisch weiter erstreckt”, über die “Sphäre der Erscheinungen” hinaus. Kants Beispiel für einen solchen problematischen Begriff ist natürlich der “Begriff eines Noumenon”, der ein blosser “Grenzbegriff” sei, dessen Funktion darin liegt, die “Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken”.

Zum kantischen Subjekt gehört originäre Selbsttranszendenz, d.h. die Selbstverlängerung des Verstandes auf das Jenseits der phänomenalen Sphäre, wobei dieses Jenseits mit der Grenze, die es von dieser scheidet, zusammenfällt. Dieses Zusammenfallen von Grenze und Grenzjenseits markiert der Begriff des Problematischen. Was auch bedeutet, dass der noumenale Raum von dieser Grenze ununterscheidbar wird. Problematisch heisst ununterscheidbar. Problematisch ist, was das Denken mit dem Rätsel der Ununterscheidbarkeit und Unentscheidbarkeit konfrontiert.

Das Unaussprechbare als Hintergrund, wäre problematisch zu nennen, insofern es diesen Hintergrund nur als Abgrund geben kann. Statt tragender Grund zu sein oder ordnender Horizont, ist der Hintergrund des Unaussprechbaren, was die Erfahrung des Sprechens – das Sprechen in (logischen) Sätzen – auf das Ereignis des Unaussprechlichen, den Abgrund des Schweigens, geöffnet hält. Wittgensteins Leistung liegt darin, den Abgrund des Unausprechlichen nicht verschlossen zu haben, indem er seine problematische Funktion für die logischen Sätze anerkennt.

Was ist der Sinn dieses erneuten Schwankens, dieses vielleicht, fragte ich. Man kann dieses vielleicht als Hinweis darauf lesen, dass die Unbestimmtheit, die Wittgenstein dadurch zum Ausdruck bringt, seine Unentschiedenheit, zum Hintergrund selbst gehört, dass also der Hintergrund als problematischer Begriff sich genau dadurch auszeichnet: durch seine Unentscheidbarkeit.

In Differenz und Wiederholung hat Deleuze diese Unentscheidbarkeit von Grund und Ungrund mit dem Begriff des Problematischen verknüpft, mit dem Sein des Problematischen als diese Differenz und mit den kantischen “problematischen Ideen”, die sich vor dem “Hintergrund eines höheren Horizonts” (höher als der phänomenale Verstandeshorizont) reflektieren. “Derartige Horizonte sind die Ideen, d. h. die Probleme als solche, und zwar in ihrer zugleich immanenten wie transzendenten Natur.” Der Status des Problematischen ist dieses Schwanken zwischen Innen und Aussen, Immanenz und Transzendenz, und seine Funktion liegt darin, das Unzureichende einer solchen topologischen Vereinfachung zu indizieren. Die Begriffe der Grenze und des Problematischen sind Grenzbegriffe, weil sie die Grenzen dieser Begriffe (wie Innen und Aussen) benennen, um auf der radikalen Unentscheidbarkeit der Grenze selbst zu insistieren.

Worauf also öffnet sich das Denken, wenn es sich dem wittgensteinschen Unerhörten (dem Hintergrund als Jenseits) öffnet? Freud und Heidegger antworten: auf das Unheimliche ; Deleuze: auf das Ungeheuer ; Badiou: auf das Unmenschliche , Zizek: auf das Monströse. Immer geht es darum, das Denken und das Subjekt des Denkens, im Verhältnis zu seiner Grenze und zu seinem Abgrund zu situieren. Was auch bedeutet, dass diese Grenze und dieser Abgrund nichts dem Denken und Subjekt äusserliches sind, sondern, dass es ein denkendes Subjekt nur als Platzhalter und Träger des Untragbaren und Unerträglichen, d.h. von Wahrheit, gibt.


3. Das richtige Leben

Der Begriff des Lebens ist nicht irgendein Begriff im Denken Wittgensteins. In allen Phasen seines Denkens findet sich ein gewisser Durchschlag dieses Begriffs. Offenbar steht jeder andere Begriff in einem direkten Verhältnis zum Lebensbegriff und zur Frage, wie zu leben sei. Die Fragen des Glücks, der Wahrheit, der Sprache und ihrer Grenzen scheinen gleich unmittelbar in die Frage des Lebens, des anständigen und richtigen und glücklichen Lebens, zu münden. Kein Begriff also, der nicht in den Begriff des Lebens ausflösse. Kein Begriff, der nicht im vornhinein auf die Dimension des Ethischen geöffnet wäre. Kein Begriff, der nicht durch die Erfahrung des Nicherfahrbaren begrenzt würde. Kein Begriff, der nicht ursprünglich geteilt wäre durch diese problematische Grenze, die das Leben auf das Jenseits des Lebens und auf das Unlebbare verlängerte. Kein Begriff, der nicht in sich, wenn man so sagen kann, ausser sich wäre; auf ein Aussen bezogen, das er nicht kennt.

“Die Welt und das Leben sind Eins”, ist ein Grundgedanke des Tractatus. Er bedeutet, dass die Dimension der Welt und die Dimension des Lebens gleichermassen durch die Grenze der Welt und die Grenze des Lebens beschnitten werden. Durch das, was Wittgenstein die Ordnung des Ethischen, des Ästhetischen, des Wunders, des Ereignisses oder des Todes nennt. Dieser Gedanke muss sich mit seinem problematischen Zwilling verbinden, der auf die andere Seite der Grenze weist: “Ethik und Ästhetik sind Eins” . Ethik und Ästhetik sind das Unausprechliche. Das Ethische und das Ästhetische benennen das (unmögliche) Jenseits von Leben und Welt.

Bedeutet also zu leben, richtig und anständig zu leben, sich im Käfig seiner Lebenswelt einzuschliessen? Ohne Bezug auf das Jenseits des Käfigs zu existieren? Wiederholt hat Wittgenstein vom Trieb und von der Tendenz des Menschen gesprochen, gegen die Gitter des Käfigs anzulaufen. “Der Mensch hat den Trieb”, sagt er, “gegen die Grenzen der Sprache anzurennen. [...[ Dieses Anrennen gegen die Grenze der Sprache ist die Ethik. [...]”, und “die Tendenz, das Anrennen, deutet auf etwas hin.”

Der Mensch wird durch die Tendenz bestimmt zur Grenzberührung und Grenzverletzung und Grenzüberschreitung. Offenbar gehört zum menschlichen Leben der Bezug auf das Unlebbare, wie zu seinem Sprechen, der Bezug auf das Unaussprechliche. Es ist dieser Bezug, diese Tendenz, und dieses Anrennen gegen die Grenze der Sprache, was Wittgenstein Ethik nennt. Der Ort des Ethischen ist nicht das Leben oder die Welt. Es ist diese Grenze, die Kontaktzone von Welt und Weltjenseits, von Leben und Tod. Der Ort des Ethischen ist ein problematischer Ort.

Das menschliche Subjekt bewohnt diesen Ort als Subjekt dieser Spannung oder Gespanntheit oder Bereitschaft : als Subjekt der Tendenz. Es ist in diesem Sinn ethisches Subjekt, Subjekt der Berührung des Unberührbaren, Subjekt der Selbsttranszendenz. Problematisches Subjekt, weil es nur Subjekt ist, durch seine Bereitschaft zur Subjektüberschreitung. Es gibt Ethik nur als Bezogenheit auf das Unbezügliche, nur insofern das Subjekt in die Dimension der Welt- und Lebenswelt- und Subjektverschliessung reicht. Das Hineinreichen des Subjekts in diese Dimension macht aus ihm ein ethisches, den Weltraum überschreitendes Subjekt. Diese Überschreitung ist seinem Subjektstatus vorgeordnet. Sie ist primordial. Es gibt so etwas wie ein Subjekt nur als Kontakt mit dem Nicht-Subjektiven. Das Nicht-Subjektive ist nicht die objektive Welt, weil die Welt als objektive immer schon meine subjektive ist: “Ich bin meine Welt” . Das Nicht-Subjektive ist die Sphäre einer ungleich höheren Unvertrautheit als es das Welt- und Objekthafte ist. In diese Unvertrautheit reichen, meint die Erfahrung der Transzendenz von Welt. Aber diese Transzendenz ist unvollkommen. Sie ragt nicht in Bestehendes. Sie öffnet sich nicht auf schon Offenes. Sie ist Öffnung auf Verschliessung von Welt. In der Transzendenz erfährt das Subjekt eine Grenze, die sich auf nichts öffnet. Transzendenz ist Berührung dieser Grenze und Verschliessung, Erfahrung absoluter Immanenz.

Was heisst Leben, ethisches Leben? Was ist das richtige Leben? Es ist ein Leben, das sich als problematisches Leben erfasst und erkennt. Ein Leben an der Grenze des Lebbaren. Ein Leben, dass dem Unlebbaren Raum zu geben versucht, indem es den Tod in seine Lebensform integriert. Das richtige Leben könnte auch Wahrheitsleben heissen, solangeWahrheit auf das Problematische der Grenze zwischen Welt und Ethik, Tatsachen und Wunder verweist. Das richtige Leben bringt das Problematische nicht zum verschwinden. Es leugnet nicht die Existenz einer absoluten Grenze, sondern öffnet sich ihr:

“Die Lösung des Problems, das Du im Leben siehst, ist eine Art zu leben, die das Problemhafte zum Verschwinden bringt. Daß das Leben problematisch ist, heißt, daß Dein Leben nicht in die Form des Lebens paßt. Du mußt dann Dein Leben verändern, & paßt es in die Form, dann verschwindet das Problematische. [...] Oder soll ich nicht sagen: daß wer richtig lebt, das Problem nicht als Traurigkeit empfindet, sondern vielmehr als eine Freude; also gleichsam als einen lichten Aether um sein Leben, nicht als einen fraglichen Hintergrund.”

Woraufhin deutet das Anrennen oder die Tendenz, von der Wittgenstein spricht? Zweifellos nicht auf eine andere Welt. Es weist auf eine Grenze, die sich nicht öffnet. Es zeigt in die Verschliessung, die die Grenze und das Grenzjenseits ineinem ist. Das Problemhafte nicht zum Verschwinden zu bringen, heisst diese Grenze nicht zu verraten: dem Platonismus widerstehen. Da ist kein Ideenhimmel, keine Hinterwelt. Es gibt kein Jenseits der Grenze, denn das Jenseits der Grenze “ist” das Nichts. Es ist nicht überraschend, dass Wittgensteins Gedanken zum Anrennen und zur Tendenz, die “auf etwas hindeuten”, im Zusammenhang mit einer Bemerkung zu Heidegger stehen. “Ich kann mir wohl denken, was Heidegger mit Sein und Angst meint” .

Das Problemhafte nicht zum Verschwinden zu bringen, bedeutet sich nichts vorzumachen. Es bedeutet das Problematische als einen absoluten Widerstand in seine Lebensform zu integrieren. Dem Problematischen selbst eine Form zu geben, indem man aus diesem fraglichen Hintergrund, der es gleichwohl bleibt, den lichten Äther um sein Leben macht. Es ist offenbar, dass Wittgensteins Denken, bis hin zu den späten Gewissheitsfragmenten, die Frage des Lebens mit der Frage des Äthers verbindet, mit der Frage des Lebenselements. Worin schwimmt das Leben, in welcher Art von Strom oder Wasser? Mit welchen Widerständen ist zu rechnen? Was ermöglicht, zu leben, anständig zu leben und überhaupt zu leben, zu überleben? Das sind Fragen, die als unausgesprochene, die expliziten Denkbewegungen steuern. Die Fragen der Evidenz, der Verlässlichkeit, der Vertrautheit und Zweifellosigkeit gewinnen erst im Horizont der Lebensfrage ihr Gewicht, ihre existentielle Geltung.

Was sagt Wittgenstein zum Beispiel, wenn er im Paragraphen 509 von Über Gewißheit die Unterscheidung sich auf etwas verlassen und sich auf etwas verlassen können einführt? “Worauf kann ich mich verlassen?”, fragt er zuvor. Und § 509 antwortet:

“Ich will eigentlich sagen, daß ein Sprachspiel nur möglich ist, wenn man sich auf etwas verläßt. (Ich habe nicht gesagt 'auf etwas verlassen kann'.)”.

Zum Sprachspiel und zur Lebensform und zum Leben gehört, dass man sich auf etwas verläßt. Das heisst nicht, dass man es aus guten Gründen oder überhaupt mit Grund tut, dass man sich auf etwas verlassen kann. Man verläßt sich auf etwas, immer ohne Grund. Der Grund, den die Lebensform bildet, kann nicht selbst noch begründet werden. Die Lebensform und das Leben verschwimmen mit dem Abgrund über den sie sich legen. Sie sind ihr eigener Äther. Das Leben schwimmt auf diesem dünnen, wie unsichtbaren Film, der, indem er das Element des Lebens bildet, auf den Abgrund, in den es eingelassen ist, verweist. Der Verläßlichkeit des Lebens entspricht das prekäre Vertrauen, dass ein Reiter, seinem Pferd entgegenbringen muss, um auf ihm zu reiten. In nur zwei Sätzen hat Wittgenstein einmal sein Verhältnis zum Leben umrissen. Es sind Sätze, die ein Bild zeichnen von der Art, wie das Ich sich zu seinem Leben und seiner Lebensform verhält. Zwei Sätze genügen, um die fundamentale Lebensformvertrautheit zu erschüttern und zu zeigen, wie sehr das Ich des Vertrauens in diese Vertrautheit bedarf:

“Ich sitze auf dem Leben, wie der schlechte Reiter auf dem Roß. Ich verdanke es nur der Gutmütigkeit des Pferdes, daß ich jetzt nicht abgeworfen werde.”

Offenbar spricht Wittgenstein in dieser Aufzeichnung von 1939/40 von sich und seinem (gegenwärtigen) Leben. Wieder geht es darum, einem Tier zu glauben, auf die “Gutmütigkeit des Pferdes”, wie auf die Gutmütigkeit der Lebensform zu vertrauen. Die Frage des Lebens (Wie kann ich ein anständiges Leben führen?) und die Frage des Wissens (Was kann ich wissen? Was weiss ich?) verbinden sich in diesem Vertrauen auf die Gutmütigkeit des Pferdes, das den schlechten Reiter, der das menschliche Subjekt ist, jederzeit abwerfen kann. Das Subjekt sitzt auf dem Leben, “wie der schlechte Reiter auf dem Roß”. Aber es sitzt, und solange es auf seinem Leben sitzt und reitet, solange lebt es richtig. Solange vertraut es – grundlos, nicht unberechtigt – auf die Verlässlichkeit seiner problematischen Lebensform.


4. Das aporetische Subjekt

Das Subjekt betet zum Tier, es glaubt der Animalitas und versenkt sich in seine Lebensform. Was bedeutet Glauben bei Wittgenstein?

“Glauben heißt”, sagt eine Bemerkung von 1944, “sich einer Autorität unterwerfen. Hat man sich ihr unterworfen, so kann man sie nun nicht, ohne sich gegen sie aufzulehnen, wieder in Frage ziehen & auf's neue glaubwürdig finden.”

Im Umkreis dieser Bemerkung, die sich der Frage der Religion und des christlichen Glaubens nähert, ist von der Not und vom Notschrei, von der unendlichen Not und unendlichen Hilfe, derer die Seele des einzelnen Menschen bedarf, die Rede, der sein Herz auf Gott öffnet, im reuigen Bekenntnis, ohne Rückhalt in irgendeiner Würde, ohne Abstand von den Andern, wie ein Kind. Wieder ist es das Kind, das Wittgenstein aufruft, um die Nacktheit und Unschuld und Integrität diesmal der sündigen Seele zu beschreiben, wie sie sich Gott im bekennenden Gebet zeigt. Das Kind betet zu Gott, um sein Leben in seine Hände zu legen, um ihm sein Schicksal anzuvertrauen. Offenbar schreit es in seiner Not nach Erlösung. Während es sich Gott und den Anderen in seiner Schutzlosigkeit dargibt, was “nur aus einer bestimmten Art von Liebe” möglich ist. Einer Liebe, “die gleichsam anerkennt, daß wir alle böse Kinder sind.”

Warum böse? Weil das Kind sich den Anschein gab, sein Leben läge in eigener Hand. Weil es sich für Augenblicke von Gott abgewandt hat, um seinen Glauben auf sich zu richten. Weil es an sich zu glauben begonnen hat und weil es den Hochmut hatte sich selbst zu vertrauen. Jetzt aber verlangt es Erlösung von diesem Hochmut und von der Schuld, die es auf sich geladen hat. In einer geradezu augustinischen Geste öffnet sich Wittgensteins Denken dem christlichen Theater von Schuld, Bekenntnis und Erlösung. Es ist offenbar, dass die Begriffe der Vertrautheit, der Zweifellosigkeit und der Verlässlichkeit in diesem Denken, nicht unberührt von diesem Theater sind. Dem Phantasma der Reinheit und Unschuld, dem Wunsch nach Versöhnung und dem Willen zur Anständigkeit korrelliert eine regelrechte Sünderphantasie, dessen, der sein Inneres für unrein oder schmutzig hält. Der Mensch hat sich verirrt und verlangt nach Erlösung oder zumindest nach Hilfe. Eine Parabel Wittgensteins hat dieses aporetische Begehren zusammengefasst:

“Es ist als hätte ich mich verirrt & fragte ich jemand um den Weg nach Hause. Er sagt, er wird mich ihn führen & geht mit mir einen schönen ebenen Weg. Der kommt plötzlich zu seinem Ende. Und nun sagt mein Freund: 'Alles was Du zu tun hast ist jetzt noch von hier an den Weg nach Hause finden.'”

Jetzt ist es die Figur des Freundes, die dem umherirrenden Subjekt Orientierung und Hilfe verspricht. Der Freund kann ein Tier, kann ein Kind, kann Gott sein. Fest steht, dass man ihm nur bis zu einem gewissen Punkt, bis zum Ende des Weges, vertrauen kann. Man muss also vertrauen. Aber das Vertrauen reicht nicht überallhin. Vielleicht kann man den Freunden nur solange vertrauen, solange es Wege gibt, solange der Weg nicht abbricht. Der Freund begleitet das Subjekt auf einem schönen ebenen Weg. Aber der Weg endet. Der poros verschliesst sich. Wo es kein Weiterkommen zu geben scheint, dort gibt es auch keine Freunde. Am Ende des Weges verstummen das Tier, das Kind und der Gott. Den Weg nach Hause muss der Verirrte selbst finden, an der Grenze der Vertrautheit und der Möglichkeit zu Vertrauen. Wo das Unvertraute sich öffnet, ist das umherirrende Subjekt allein. Wo der Weg abbricht und der Durchgang sich verschliesst, öffnet sich die Wüste des Unvertrauten, die das Subjekt ohne Hilfe betritt. Man könnte meinen, dass dies die eigentliche Funktion der Freunde ist: das Subjekt vor seine Einsamkeit zu stellen. In dem Moment, in dem die Haut der Lebensformvertrautheit reisst, ist das Subjekt ratlos. Deshalb heisst es aporetisches Subjekt.


5. Der Anblick des Todes

“Ich fürchte mich oft vor dem Wahnsinn”, vermerkt Wittgenstein in einer Bemerkung vom Oktober 1946, als wüsste er, dass es Gewissheit und Vernunft, nur als Auswuchs einer elementaren Ungewissheit und Unvernunft gibt und dass noch die Zweifellosigkeit, die den Zweifel trägt, in den “Abgrund” des Unvertrauten reicht, angesichts dessen das Subjekt sich als Subjekt der “Einsamkeit” und “Vereinsamung” erfährt. Das ist die Erfahrung des einreissenden Lebensfilms, in der die Gemeinschaftsgründe zerfallen, und die Stimme des Freundes versagt. Sie beschreibt die Szene des klassischen Heldensubjekts, das im Moment der Krise die schwindende Glaubwürdigkeit der vertrautesten Zusammenhänge bestaunt, und ... seinen Augen nicht traut. Den eigenen Augen nicht mehr trauen können, misstrauisch zu werden gegenüber der alltäglichsten, der okularen Evidenz, das ist das Schicksal des Subjekts im Augenblick seiner Erblindung. Es wird in diesem Moment der Verdunkelung und der sich senkenden Lider, von der Scham dessen ergriffen, der sich fortan abseits der geselligen Zonen weiss, und von der Furcht, als dieser Einsame unter den Freunden, kaum noch ein Mensch zu sein.

Was sieht der vom Wahnsinn dieser Erblindung berührte, oder besser, was blickt ihn an? Was bedeutet, die Erfahrung des Unerfahrbaren zu machen, und dem Tod “in's Angesicht” zu schauen?

“Ein Held sieht dem Tod in's Angesicht, dem wirklichen Tod”, sagt Wittgenstein, “nicht bloß dem Bild des Todes. Sich in einer Krise anständig zu benehmen, heißt nicht einen Helden, gleichsam wie auf dem Theater, gut darstellen können, sondern es heißt dem Tod selbst in's Auge schauen können.”

Der kritische Augenblick ist der Moment der Entscheidung, die Krise. Die Ethik der Anständigkeit verlangt vom Subjekt in diesem Moment zwischen dem wirklichen Tod (den es nicht erlebt, der “kein Ereignis des Lebens” werden kann ) und dem bloßen Bild des Todes zu unterscheiden. Das kritische Subjekt ist Subjekt dieses krinein, dieser Unterscheidung. Es sieht dem Tod in's Angesicht, d.h. es sieht nichts oder es sieht das Unsichtbare. Denn der wirkliche Tod kann dem Subjekt nur als Bild erscheinen, als Fälschung. Und dennoch geht es darum, sich von dieser Fälschung, vom bloßen Bild des Todes, nicht gefangen nehmen zu lassen. Denn dies hiesse, den Tod als Tod entschärfen und neutralisieren.

Dem Tod in's Auge sehen, bedeutet nichts zu sehen, zu erblinden. Das Subjekt der Erblindung ist Subjekt der Entscheidung und Anständigkeit. Angesichts des Unsichtbaren hebt es sich zur Stellung des blinden Helden empor. Nur das Subjekt, das dem Tod, dem Unsichtbaren, eine Stelle in seinem Leben zuweist, ohne den Tod zu einer Sichtbarkeit zu machen, erfüllt die Anforderungen einer solchen Heldenethik, die die Blindheit als Bedingung der Möglichkeit von Klarsicht weiss. Das Subjekt muss wissen, das sein Wissen im Unwissbaren gründet. Indem es weiss, glaubt es nur zu wissen, und die “Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit” seines “Glaubens anzuerkennen.” Hier liegt sein Problem. Auf Seiten dieser Schwierigkeit bewegt sich das ethische Subjekt. Auf Seiten dieser unerlässlichen Blindheit und dieses Vertrauens in die elementare Unvertrautheit, die seine Lebensform umklammert, und das Subjekt in den Wahnsinn zu reissen droht. Das Subjekt kann nur wissen, was es weiss, wenn dieses Wissen vom “allgemeinen Urteil” , d.h. von der etablierten Vernunft, sanktioniert ist. Sein Wissen ist eingebettet in eine Lebensform. Die Lebensform zu wechseln, eine Veränderung der Lebensweise, bedeutet, den Raum der Sanktionierung und Allgemeinheit zu verlassen. Es bedeutet, die Lizenz zum Wissen zu verlieren. Jede Umformung der Lebensform zwingt das Subjekt in eine Verlusterfahrung, die den Ruin seiner kognitiven Bestände und Legitimationen einschliesst. Das Subjekt macht nicht nur die Erfahrung sich verändernden Wissens. Es stößt an die Grenze des Wissbaren und zerbricht an der gesunkenen Glaubwürdigkeit seines Bezugsrahmens. Es muss sich im Abseits der etablierten Lebensformen neuerfinden, ohne von der Führung durch ein allgemeines Urteil zu profitieren.


6. Lebensform als Immanenzebene

Was ist eine Lebensform? Auf was für einer Ebene gleitet das Subjekt? Vielleicht ist das augenfälligste Merkmal der Lebensform, dass sie das Subjekt gleiten lässt. Die Lebensform ist, was dieses Gleiten, diese Erfahrung der Widerstandslosigkeit, der das Gleiten verwandt ist, ermöglicht. Sie ist Bedingung der Möglichkeit reibungsloser Evidenz. In der Lebensform erscheint das Subjekt von Garantien ummantelt. Hier hat es seine Natürlichkeit, seinen substanzialen Ort. Es wohnt in seiner Lebensform, wie das Tier in der Natur. Es geht in ihr auf.

Und dennoch ist das Subjekt per definitionem, was nicht aufgeht, was einen Widerstand in die Lebensform einträgt. Es gibt ein Subjekt, wenn es Widerstand gibt, Reibung. Statt sich dem Gleiten in der Lebensform hinzugeben, hält das Subjekt diese Bewegung an, unterbricht sie. Subjekt ist der Name einer solchen Unterbrechung der vertrauten Abläufe. Wenn es stockt, dann ist da ein Subjekt. Man könnte sagen, dass das Subjekt aus der Immanenz der Lebensform herausblickt. In diesem Sinn ist sein Status strikt transzendent. Die Lebensform als transzendentales Element würde nichts als den umrisslosen Raum der Lebensmöglichkeiten benennen, während das Subjekt über diesen Möglichkeitstraum, der gänzlich unqualifiziert ist, hinausreicht. Wie seine Objekte ist das Subjekt dieser Überhang. Es hängt aus seiner Lebensform heraus.

In seinem späten Text L'immanence : une vie (1995) hat Deleuze seinen Begriff der Lebensform – er spricht von der Immanenzebene – auf die Unterscheidung des Transzendentalen vom Transzendenten bezogen. Der reine präreflexive und a-subjektive Bewusstseinsstrom ist das Transzendentale, dessen gelegentlicher Auswuchs ein Subjekt (samt seiner Objekte) sein kann. Als dieser Auswuchs ist das Subjekt transzendent. Es ragt aus der Unpersönlichkeit und Anonymität der absoluten Immanenz hervor: “Die absolute Immanenz liegt in ihr selbst: Sie ist nicht in etwas, ist nicht etwas zu eigen, sie hängt von keinem Objekt ab und gehört keinem Subjekt. [...] Nur wenn die Immanenz nicht mehr die Immanenz von etwas anderem als von sich selbst ist, kann man von einer Immanenzebene sprechen. So wenig sich das transzendentale Feld durch das Bewußtsein definiert, so wenig definiert sich die Immanenzebene durch ein Subjekt oder Objekt, die sie enthalten könnten.”

Das Individuum, sitzt auf einer Immanenzebene wie auf seinem Leben oder wie das Tier auf dem fliehenden Rücken der Natur. Jedes Subjekt zeigt auf seinen Grund, der der schwankende Grund des Lebens ist. Es zeigt auf den Lebensstrom, in dem es von hier nach dort reitet, auf den “immanenten Bewußtseinsstrom” , der der “Fluß des Lebens” ist. Es bewegt sich auf dieser Ebene, wie der Reiter, der seinem Pferd vertraut. Es vertraut ihm, seinem Leben, sein Leben an. Einem Leben, das selbst ohne Gründe auskommt. Grundloses Leben, das wie Wittgensteins Lebensform und Sprachspiel völlig unberechenbar ist. “Du mußt bedenken”, schreibt Wittgenstein, “daß das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig). Es steht da – wie unser Leben.”

Es steht da – wie unser Leben. Das Tier, die Lebensform, das Sprachspiel, die Immanenz. Jenseits von Vernunft und Unvernunft, “jenseits von berechtigt und unberechtigt”: “als Animalisches”. Neutral, wie Deleuze sagt, ein Leben ohne bestimmten Artikel, geschlechts- und namenlos, ein blindes Tier, “jenseits von Gut und Böse, da es einzig durch das Subjekt, das es inmitten der Dinge verkörpert, gut oder böse wurde.”

Von Anfang an ist das Subjekt der Anonymität dieser blinden Bewegung überlassen. Es ist nichts als die Verkörperung des Lebens, das es als unpersönliche Macht mit sich reisst. Und so macht es keinen Sinn, nach dem Grund des Lebens und der Lebensform zu fragen. Denn dieses Fragen wäre schon Ausdruck des Lebens, das in Frage stünde. Das Leben hat sich des Ursprungs der Lebensfrage selbst bemächtigt. Es ist ursprünglicher als die Frage, ursprünglicher als Subjekt und Begriff, die immer zu spät kommen, immer verspätet sind, wenn es ums Leben geht. Das Leben ist schon da. Bevor das Subjekt seine Begriffe auf es loslässt, hat das Leben von ihnen bereits Besitz genommen. Es trägt das Subjekt und seine Begriffe wie ein unsichtbarer Grund.

Von Anfang an? Was bedeutet hier Anfang? Was lässt sich vom Anfang des Subjekts sagen? “Es ist so schwer”, schreibt Wittgenstein in Über Gewißheit, “den Anfang zu finden. Oder besser: Es ist schwer, am Anfang anzufangen. Und nicht zu versuchen, weiter zurückzugehen.” Es gibt so etwas wie die Zweifellosigkeit des Lebens, der das Denken nur dann entspricht, wenn es sie nicht mehr befragt. Zwischen dem Abgrund des Nichts und dem selbstbewußten Logos, hat sich die Schicht des reinen Lebens gezogen. Auf ihr ruht der Logos als auf seinem Anfang. Sie ist es, die den Logos davor bewahrt im Abgrund des Chaos zu zerfliessen. Deleuze nennt diese Schutzschicht Immanenz- oder Kompositions- oder Referenzsebene. Bei Wittgenstein trägt sie den Namen Lebensform.

Ich habe angekündigt fünf Fragen zu beantworten: 1. Was ist Wahrheit?, 2. Was ist eine Wahrheitsberührung?, 3. Was ist eine Lebensform?, 4. Was heisst Leben, und was bedeutet es dem Leben, seinem Leben, eine Form zu geben?, 5. Was ist Wahrheitsberührung als Lebensform? Ich will diese Fragen so beantworten: 1. Wahrheit nenne ich die Grenze der Tatsachenwelt. 2. Wahrheitsberührung ist Erfahrung dieser Grenze. 3. Eine Lebensform ist ein abgründiger Grund: eine über den Abgrund der Inkonsistenz gezogene Konsistenzebene. 4. Leben, menschliches Leben, bedeutet, zu keinem Zeitpunkt die animalische Lebensform der beruhigten Sicherheit der Ruhelosigkeit der Wahrheitsberührung vorzuziehen. Seinem Leben eine Form geben, heisst eine Wahrheit kontaktieren. 5. Wahrheitsberührung als Lebensform ist ein anderer Name für Philosophie.