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MARCUS STEINWEG
 

IMMANENZ, SOUVERÄNITÄT, BEJAHUNG UND DAS GLÜCK, NICHT UNSTERBLICH ZU SEIN LECTURE ZKM KARLSRUHE, FESTIVAL: DELEUZE UND DIE KÜNSTE

Gilles Deleuze (1925 - 1995)
In einer der riskantesten Wendungen seines letzten Textes, L ́immanence : une vie..., der ein eigenes Bild vom lebenden Toten zeichnet, hat Deleuze von der Immanenz gesagt, daß sie ein Leben sei, “das reines Vermögen ist und sogar Glückseligkeit über die Leiden und Hinfälligkeiten hinweg.” Das Subjekt der Immanenz berührt das Chaos, ohne von ihm zerrissen zu werden. Es kehrt als Subjekt dieser Berührung aus dem “Land der Toten” wieder. Es ist Subjekt einer gewissen Auferstehung und Selbstaufrichtung, Subjekt einer befremdlichen beatitudo, von der Blanchot in einem kurzen Text von 1994 spricht. L ́instant de ma mort , der Augenblick meines Todes, ist das Dokument einer Erfahrung des Glücks und der Leichtigkeit, die die Erfahrung des Todes zur eigentlichen Erfahrung eines Lebens macht. Das “Glück, nicht unsterblich zu sein” und dennoch aufzuerstehen bringt einen eigenen Begriff von Souveränität, Freiheit und “ästhetischer” Praxis hervor. Denn das Subjekt dieses Glücks, ist das Subjekt der Kunst.

Ich werde über den Wahnsinn des Tages, über die Verrücktheit, die das Licht des Tages ist, sprechen, darüber, wie wenig klar ein Vernunft-Begriff ist, der dem Licht des Tages - jenes Tages, der "Tag" und "Nacht" als eine Art inkommensurabler Einheit zusammenfasst und umgreift – mißtraut, insofern der Tag, den die "aufgeklärten" Positionen, die Ideologie-Kritik und ihre Evidenz-Beschwörung ebenso wie der szientifische Tatsachen-Obskurantismus und die religiöse Naivität anbeten nicht der Tag dieses Subjekts glücklicher Sterblichkeit, absoluter Selbst-Affirmation ist: “ich bin nicht blind”, sagt der Erzähler von der “Wahnsinn des Tages”, “ich sehe die Welt, welch außergewöhnliches Glück! Ich sehen den Tag – den Tag, außerhalb dessen nichts ist.” Dennoch ist das Subjekt des Tages, von dem Blanchot erzählt, ein Subjekt, das kaum diesem Namen “Subjekt” entsprechen kann. Es ist ein Subjekt, das sich über die Grenzen der Selbstverständigung mit sich zu verständigen versucht, ohne in der geregelten Rhythmik kommunikativer Selbstversicherung Ruhe zu finden, ohne schlafen zu dürfen, ohne weniger ruhelos zu sein. Das Subjekt Blanchots wie das Subjekt Deleuzes reibt und zerreibt sich an der eigenen Grenze. Es definiert sich, sofern hier von Definition noch gesprochen werden kann, als das Jenseits des Definitorischen, als Jenseits der Grenze und transzendentalen oder ktirischen Selbstbegrenzung wie sie zum modernen Subjekt-Begriff gehört. Es ist ein Subjekt der Unruhe, des Werdens wie Deleuze sagt, oder, in der Sprache Blanchots der “überschreitung des Unüberschreitbaren”, Subjekt einer Bewegung, die nur statt findet, indem sie aufgeschoben wird, also nicht statt findet. Das ist der Pas au delà, das Dilemma einer ebenso unwirklichen wie notwendigen Transzendenz, der Schritt oder Nicht-Schritt ins Jenseits oder Nicht-Jenseits, der unmögliche Exzess.

Was ist das für eine Heiterkeit, die das Herz des Subjekts im Moment seiner Konfrontation mit dem Tod erschüttert, die es ruheloser schlagen lässt als sonst?

Statt die Wunde der Erfahrung des Todes zu schliessen (der Tod kommt zuerst, er ist der Anfang!) – ist diese Heiterkeit eine Aktivität, die dem Tod selbst und der Unmöglichkeit, die ihn begleitet (denn "ich" sterbe nicht, weder bei Heidegger noch bei Blanchot) Raum gibt, die den Tod als Tod (als intensive, bedrängende Absenz) zulässt oder sich ereignen lässt. Deshalb ist die Heiterkeit in einem eher rätselhaften Sinn die Heiterkeit des schon gestorbenen “Subjekts”. Das “Rätsel” und das “Subjekt”, das Subjekt des Rätsels und als Rätsel, wird immer unser Thema sein, sobald wir uns Blanchot zuwenden, indem wir uns von der besonderen Dunkelheit und der rätselhaften Helle seiner Sprache gefangen nehmen lassen. Blanchot lesen – sagt Simon Critchley – bedeutet die Erfahrung des Abstiegs von der äußersten Einfachheit, ja Kargheit seiner Sprache zur Verschwiegenheit der Bedeutung, die sie herstellt, zu machen. Es bedeutet aus dem Bereich des Lichts, des Tages und seines Lichts in die Ordnung der Nacht und ihrer Dunkelheit über zu gehen. Vielleicht ist es notwendig darauf zu insistieren, dass diese Erfahrung – ohne reversibel, umkehrbar zu sein – selbst schon ihre eigene Wende oder Kehre impliziert. Denn das Subjekt dieser Erfahrung geht auf die Nacht und auf seinen Tod wie auf eine neue unbekannte Sonne zu. Es ist in diesem Sinn nichts als das Subjekt der Erfahrung eines anderen Tages. Es artikuliert sich als die Grenze selbst der Sonnenaufgangs- und Sonnenuntergangs-Bewegungen, die wir mit den Begriffen Orient und Okzident markieren.

Es ist bekannt, daß nichts mehr Entsetzen hervorruft als die Begegnung mit einem lebenden Toten. Man hat eine Unzahl an Erlebnissen durchlaufen, man weiss um die Tücken des Lebens, jeder einzelne Tag kann die Erfahrung des Unvorhersehbaren bringen, und dennoch ist nichts schrecklicher als Zeuge einer Auferstehung zu sein. Nie wird es den Toten erlaubt werden, nicht tot zu sein. Das ist das eigentliche Prinzip der Geschichte: Man erträgt die Anwesenheit der Toten nur unter der Voraussetzung, dass sie gestorben sind. Es gibt ein unseliges und etwas leichtfertiges Vertrauen in das Totsein der Toten, obwohl es sich auf keine verbindlichen Zusicherungen berufen kann. Von den Toten verlangt man, dass sie nicht wiederkehren. Genaugenommen ist das die einzige Forderung, die man an sie richtet. Man verpflichtet den Gestorbenen durchzuhalten, man erwartet eine gewisse Konsequenz. Ist diese Bedingung erfüllt, lebt es sich gut mit jener Narrenfreiheit, die die Toten mit den Kindern teilen. Man sympathisiert mit allen erdenklichen Formen gedämpfter Gegenwart, man gedenkt der Toten, wie man sich an Lebende erinnert, an die Ereignisse des Vortags usw., unter der einen entscheidenden Vorraussetzung, dass sie sich auf der Linie der endgültigen Abkehr bewegen und dass diese Linie unumkehrbar ist. Nichts verursacht grösseren Unmut, als diese Exzentriker, die, obwohl sie gestorben sind, sich weiterhin zu leben entschließen und die man auch Gespenster oder Erscheinungen nennt.

Auferstehung kann kann man den Triumph des Toten über den Tod nennen, einen Akt posthumen Widerstands, der die bekannten Kausalitäten durcheinanderbringt. Dem Tod zu trotzen, sein Eintreten und seine unleugbare Effizienz zu ignorieren, ist, vielleicht mehr noch als die natürliche Anstrengung des Sterbenden (Lebenden), die perverse Pflicht des Gestorbenen (Toten). Die Hinterbliebenen kann dieses Treiben nicht gleichgültig lassen. Es gibt Grenzen der Toleranz. Tote, die, kaum dass sie gestorben sind, ins Leben zurückdrängen, werden als takltlos angesehen. Man beklagt ihren Mangel an Entschiedenheit und beginnt um das eigene Leben zu fürchten. Zweifellos erreichen die Ansprüche, die man an Tote richtet, ein besonderes Maß an Unnachgiebigkeit und Regidität.

Man hat das Überleben, mit großer Regelmäßigkeit, auf das Weiterleben eines Lebenden beschränkt. Man weigert sich, das Überleben als Auferstehen eines Toten hinzunehmen. Eine Hinnahme, die dazu führen würde, im Überleben das Weiterleben eines Toten zu begrüssen, das sich weder in den Bildern der Erinnerung noch in den Momenten andächtiger Sehnsucht oder den üblichen melancholischen Exzessen erschöpft. Maurice Blanchot hat diesen Triumph des Toten über den Tod in einer seiner Erzählungen beschrieben, in der er den Bericht einer Auferstehung zur Aufzeichnung dieser schrecklichsten aller Erfahrungen werden ließ.
Das Mädchen, deren Sterben die Entwicklung dieser triumphalen Rückkehr einschließt, kehrt aus dem Land der Toten als Tote wieder. Der Augeblick ihres Erwachsens sieht die Begegnung einer Gestorbenen mit einem Lebenden vor: (Zitat) “Ich neigte mich über sie, ich rief laut nach ihr, mit klarer Stimme ihren Vornamen; und sogleich – ich darf es so sagen, es dauerte nicht einmal eine Sekunde – kam eine Art Atem aus ihrem noch immer zusammengebissenen Mund, ein Seufzer, der allmählich ein leichter, schwacher Schrei wurde; fast zur selben Zeit – auch da bin ich mir sicherbewegten sich ihre Arme, versuchten sich zu heben. Da waren die Lider noch ganz geschlossen. Aber eine, vielleicht zwei Sekunden später öffneten sie sich plötzlich auf etwas Schreckliches, wovon ich nicht sprechen werde, auf den grauenvollsten Blick, den ein lebendes Wesen erhalten kann, und ich glaube, in diesem Augenblick hatte ich gezittert, und hätte ich Angst verspürt, wäre alles verloren gewesen, aber meine Zärtlichkeit war so groß, daß ich für die Seltsamkeit dessen, was geschah, nicht einmal einen Gedanken übrig hatte, sicher schien es mir ganz natürlich, und dies wegen der unendlichen Bewegung, die mich auf die Begegnung mit ihr zutrug, und ich nahm sie in die Arme, während ihre Arme mich drückten, und von diesem Augenblick an war sie nicht nur ganz lebendig, sondern auch völlig natürlich, fröhlich und fast geheilt.”

Man darf sich nicht täuschen. Die Heiterkeit des Mädchens, seine Lebendigkeit und selbstverständliche Integrität, stellen nicht nur keinen Widerspruch zu seinem Gestorbensein dar, sie müssen als das sicherste Indiz dafür genommen werden, dass die Auferstehung gelungen ist. Als Tote kehrt das Mädchen für den Augenblick der Bezeugung in das Leben zurück, um sich als lebende Tote ihres Gestorbenseins in den Armen des Erzählers zu vergewissern. Eine seltene und unheimliche Zärtlichkeit ist erforderlich, um mit einer Toten die Art von Intimität zu erreichen, die für den Akt der Zeugenschaft notwendig ist. Indem sich der Erzähler weder durch Angst noch durch übertriebe Verwunderung irritieren lässt, wird das Wunder der Auferstehung die Signatur seines eigenen Lebens werden. Er beginnt zu begreifen, daß auch er das Subjekt seines Todes ist. Eines Todes, von dem man nicht sagen kann, daß er nicht das Leben als solches wäre. Das Subjekt, das, obwohl es tot ist, mit dem Leben weder gebrochen noch abgeschlossen hat, ist das Subjekt der Immanenz.

Die Immanenz ist nicht, was man in einfachen Systemen der Transzendenz entgegenhält. Sie ist die Bewegung der Transzendenz in sich. Sie bringt die Transzendenz ins Rollen und rollt sie dabei in sich ein. Die Immanenz bringt die Transzendenz in-sich-aus-sich als ihren Ereignis oder Bewegtheitsmodus hervor: “Die Transzendenz”, sagt Deleuze, “ist stets ein Immanenzprodukt.” Immanenz heisst dieser “Strom absoluten Bewußtseins”, den Blanchot als das Glück des Tages anspricht und der im Verhältnis zur Schicht hysterischer Subjektivität des überlieferten Cogito, als präcogitale, präpersonale, präindividuelle und präsubjektive Immanenzebene “ein Leben” heißen kann. Ein Leben, ohne bestimmten Artikel, d.h. auch ohne Eigenschaften, neutral und namenlos, “jenseits von Gut und Böse”, reines Ereignis und reine unbestimmte Singularität.

Ich will diese Singularität vom okzidenbalen oder abendländischen Subjekt unterscheiden. Die okzidentalen Subjekte konstituieren eine Art tranzendentaler Wir-Gemeinschaft, die – wenn ich so sagen darf – genuin europäische Union. Es ist die Gemeinschaft der Partizipanten und Erben. Das europäische Wir-Subjekt konstituiert sich durch seine geteilte Teilhabe am Ursprung, am Logos, am anfänglichen Sinn. Die Gemeinschaft der Wir-Subjekte ist daher Sinn- und Konstitutionsgemeinschaft. Sie ist Teilhaber-Gemeinschaft, Gemeinschaft der Besitzenden, der Eigentümer und Konstituenten. Sie ist ontologische Gemeinschaft, insofern sie sich im Verhältnis zum Sein und im Verhältnis zum Logos, der es denkt, hervorbringt, aussagt, versammelt und bestimmt. Die Gemeinschaft der Wir-Subjekte ist transzendentale Herkunftsgemeinschaft. Gemeinschaft der Abstammung, des geteilten Blutes, Familiarität. Sie ist territoriale, autochthone, geo-ontologische, epistemische Gemeinschaft der Kinder Griechenlands. Ödipale Gemeinschaft oder Zugehörigkeits-Gemeinschaft der Söhne und Töchter zum transzendentalen Vater und zur transzendentalen Mutter. Die Gemeinschaft der Wir-Subjekte ist die transzendentale euro-ontologische Familie. Sie ist die universale und daher schicksalhafte Verwandtschafts-Gemeinschaft derer, die sich im Namen des väterlichen oder mütterlichen Logos versammeln und zerstreuen, verbrüdern und zerstreiten, achten und missachten, lieben und töten, würdigen und ignorieren, wie es das Archiv dieser Gemeinschaft – die Geschichte des Abendlandes – in unzähligen Beispielen bezeugt.

Die transzendentale Wir-Subjektivität ist die Gemeinschaft der untergehenden Sonne. Sie wendet sich dem Licht entgegen, indem sie sich von ihm abwendet, indem sie die Klarheit und Unerbittlichkeit des Lichts gegen die Nacht ihres schon immer verdunkelten Ursprungs eintauscht. Es ist die Gemeinschaft des verlorenen Ursprungs und der verlorenen Ursprungsspur selber. Die Gemeinschaft einer unmöglichen Trauer, die ihren eigenen Gegenstand, das Objekt ihrer Tränen aus den Augen verloren hat. Sie ist Gemeinschaft eines kollektiv empfundenen, aber nie benennbaren Verlusts. Sie macht sich von Anfang an auf die Suche nach der Ursache ihrer Trauer, nach etwas, dass sie nicht kennt und nie kannte, und deshalb, fände sie es, dennoch verfehlen würde, denn sie bliebe blind für eine Wiedererkennung, die sie selbst als unmögliche setzt. Die transzendentale Wir-Gemeinschaft ist deshalb sie Gemeinschaft eines geteilten Begehrens und des geteilten Scheitern des Begehrens; eines Scheiterns, dass als Bedingung der Möglichkeit dieses Begehrens fungiert.

Was geschieht mit dieser Gemeinschaft, wenn sie beginnt sich von ihrem Ursprung zu lösen? Was bedeutete diese Loslösung? Emanzipation? Verantwortungslosigkeit? In welchem Ausmass wäre sie realisier- oder überhaupt wünschbar? Und wie sehr findet sie immer schon statt? Das sind Fragen, die uns im Verhältnis zum anderen Licht Blanchots, –das ich mit dem Licht der Immanenz, das das Denken von Gilles Deleuze erleuchtet – erschüttern. Ich werde mich beeilen, so klar wie möglich den Grenzverlauf dieser beiden Philosophien des Lichts abzuschreiten. Dafür ist es notwendig, dass Verhältnis von Dunkelheit und Licht, von Tag und Nacht, von Verborgenheit und Unverborgenheit als ebenso fragiles, wie kohärentes Spiel zu erfassen, von dem das sogenannte “dialektische Denken” nur eine relativ späte, aber folgenreiche Spielform darstellt.

Heraklit sagt von den Mitgliedern der Wir-Gemeinschaft, dass sie einem Gesetz (logos) unterworfen sind, das ihnen unverständlich bleibt. Wie die Protagonisten der Erzählungen Kafkas, sind sie vom Gesetz bestimmte ohne ihre Bestimmung im Verhältnis zur dunklen Autorität des Gesetzes erahnen zu können. Sie gehören dem Gesetz an, und sind von ihm Ausgeschlossene. Womöglich beginnen sie diesen Ausschluss zu geniessen, ihn Schritt für Schritt sich anzueignen durch Genuss.

Das Gesetz gibt sich den “Vielen”, indem es sich entzieht: physis kryptestai philei, die Physis, die Natur, das Wesen, der Logos, liebt es sich zu verbergen. Die ursprünglichen Wir-Subjekte sind Subjekte dieser Verbergung. Das Gesetz spricht, ohne dass seine Sprache sich nicht auch verhüllte. Alles geschieht nach einem Logos, der zugleich Anti-Logos, am Unverständnis der Wir-Subjekte zerschellender Sinn, reines Schweigen ist. Dennoch ist es Aufgabe der Einzelnen sich angesichts des schweigenden Logos, der ein Prinzip der Versammlung und Einigung ist, nicht zu vereinzeln. Der Logos verpflichtet zur Gemeinschaft, deren Prinzip er selber ist.

Die heraklitischen Wir-Subjekte sind Gemeinschafts-Subjekte dieser gemeinschaftlichen Verpflichtetheit. Zugleich sind sie Getriebene anderer Lüste. Immer entfernen die Subjekte sich aus dem Herrschaftskreis des logos, um so etwas wie Gesetzlose, Verbrecher am Gemeinschaftlichen, Singularitäten, zu sein. Von Anfang an, so scheint es, ist die europäische Wir-Gemeinschaft dem Verrat des Singulär-Werdens ihrer Subjekte erlegen. Von Anbeginn drängt es das uinversale Wir-Subjekt aus seiner Wir-Stellung in die Freiheit des Nicht-Sinns, in den Wahn der Logos-Verweigerung. Sie sind mit sich, mit ihrer Wir-Identität entzweite. Da sie dem Logos gehören, der das Seins-Ganze steuert und verwaltet, ist diese Entzweiung Selbst-Entzweiung. Das Subjekt wird Subjekt eines Widerstreit oder Krieges. Es emanzipiert oder entfernt sich von seiner im Logos gegründeten Wir-Identität.

Diese Entfernung, die den inhärenten Umschlag, die Kehre, wie ich vorhin sagte, die durch den Körper dessen verläuft, was ich das Subjekt der Singularität ebenso wie das singuläre Subjekt, ein Subjekt ohne Subjektivität, nennen möchte, aktiviert diese fragile Grenze, die Deleuze die Zone und Grenz des Werdens, die Nachbarschafts- oder Ununterscheidbarks-Zone nennt. Es ist der Bereich des partizipativen Konflikts von Subjekt und Singularität. (Erlauben Sie Ihnen in Erinnerung zu rufen, dass Werden in Mille Plateaux den Titel einer widernatürlichen Anteilnahme einer Singularität an einem Subjekt und umgekehrt – nie handelt es sich um zwei (oder mehrere) Subjekte oder Singularitäten).

Was sind Singularitäten? Und: Was für ein befremdlicher Plural? Die Gemeinschaft der Singularitäten ist Gemeinschaft von Subjekten ohne Identität. Singularitäten sind ohne Selbstbewußtsein. Sie wissen nicht, was sie sind.

Singularitäten kennen weder “Heimat” noch “Bestimmung”. Jede sie versichernde oder begrenzende Wesensbestimmung ist ihnen fremd. Sie sind selbst nicht als Fremde. Fremde in der Welt, insofern diese Welt nicht ihre ist. Die Welt, wie sie ist, ist ihnen nicht vertraut. Sie sind in ihr nicht zuhause. Eher ist die Welt, in der sie sich vorfinden, in die sie gewissermassen geworfene sind, eine Art Unzuhause. Die Welt der Singularitäten ist eine Unheimischkeits- und Unheimlichkeits-Zone, wenn man mit Heidegger die Unheimlichkeit als Unheimischkeit denkt. Sie ist eine Welt ohne stabile Markierungen, ohne gefestigte Wege. Das Subjekt dieser Welt ist orientierungslos. Es muss in dieser Zone sich behaupten, ohne sich über den irreduziblen Fremdheits-Charakter seiner Welt (einer Welt, die nicht seine zu sein scheint) hinweg zu täuschen. Singularitäten sind vagabundierende Streuner. Sie bewegen sich in der Unbestimmtheits-Zone zwischen Vergangenheit und Zukunft, Ursprung und Horizont. Jede für sich ist Subjekt der Selbsterfindung oder Selbsthervorbringung. Die Singularität ist in diesem Sinn autopoietisches Subjekt.

Die Singularitäten sind fremd in ihrer Welt und sie sind Fremde untereinander. Sie verfügen nicht über einen intelligiblen oder transzendentalen Kanon an Gesetzen, der ihnen ausreichende Verständigung erlaubt. Während Intersubjektivität im subjektphilosophischen Denken auf den geteilten Horizont des transzendentalen Cogito oder den Einheitsgrund der, wie Kant sagt, transzendentalen Apperzeption rekurriert – jedes Subjekt ist als solches mit anderen Subjekten am gemeinsamen Ursprung verkettet –, ist Singularität gerade der Name für ein Subjekt ohne Ketten. Die Singularität ist ein Subjekt ohne garantierte Verbindung zu anderen Subjekten oder Singularitäten. Die Begegnung einer Singularität mit einer anderen ist völlig voraussetzungslos, weil auf der Ebene der Transsingularität alle für die Intersubjektivität geltenden Bestimmungen gemeinschaftlicher Existenz ausgeklammert sind. Die Gemeinschaft der Singularitäten ist die Gemeinschaft dieser Aus- oder Einklammerung. Sie ist die gelebte epoché des Sinns, des Logos, der Vernunft: Gemeinschaft der Fremden, die eigene Regeln und Rituale ihrer Verbundenheit produzieren.

Die Singularitäten sind fremd in ihrer Welt, sie sind Fremde untereinander, und sie sind sich selbst gegenüber fremd. Die Singularität hat weder Identität noch Selbstbewußtsein, bedeutet: sie existiert nur verschoben zu sich. Sie ist gegen sich verfrüht oder verzögert. Niemals ist sie deckungsgleich mit sich. Denn es gibt kein Selbst, kein identitäres Prinzip, keine Substanz, keine Idee, der sie sich anmessen und assimilieren könnte. Singularität zu sein, bedeutet diese Besitzlosigkeit zu besitzen oder, wie Deleuze auch sagt, eine “riesige und schreckliche Leere” als seinen Körper affirmieren. Es heisst, ohne transzendentales Double als Subjekt einer ontologischen Armut zu existieren (Das ist auch die Armut, von der Benjamin spricht: die Armut der Barbaren, die auf nichts als auf sich selber zählen können, und nicht einmal auf sich..). Singularitäten widersetzen sich der Logik der Angleichung und Repräsentation. Singulär ist, was unwiederholbar und undarstellbar existiert, als eine Art ontologischer Abweichung, als Differential oder clinamen, als etwas, dass die Totalität eines geordneten Systems oder Körpers unterbricht.

Singularität ist ein Name für das Subjekt ohne Namen. Die Gemeinschaft der Namenlosen ist Gemeinschaft von Singularitäten, von Subjekten ohne Subjektivität. Die Subjektivität des Subjekts ist im überlieferten Denken der Name für das Sein des Subjekts. Sie ist der Name des Namens, denn Subjektivität ist selbst ein Name. Im Namen der Subjektivität, im Namen seines Namens, ist das Subjekt Subjekt. Singularität nennen wir ein Subjekt ohne Namen, ein Subjekt, das weder im eigenen Namen noch im Namen von jemand anderem oder im Namen einer ihm übergeordneten intelligiblen Sache sprechen und existieren kann. Die Singularität ist das Subjekt ohne Sein und Wesen. Ein Subjekt der Wüste oder des Abgrunds, ein einsames, bestimmungsloses, ganz für sich verantwortliches Subjekt. "Die Singularität", sagt Agamben, "grenzt nicht, mit Kants Begriffen zu sprechen, an eine Schranke, der jede Äußerlichkeit fremd ist, sondern an eine Grenze, d.h. einen Berührungspunkt mit einem auf immer leeren äußeren Raum."

Die Gemeinschaft dieser Subjekte ohne Namen ist die Gemeinschaft von Singularitäten, deren Verbindungen immer wieder neu erfunden und verantwortet werden muss. Singularitäten haben keine Freunde, sie riskieren Freundschaften. Singularitäten haben keine Eltern, sie willigen in den Zufall verwandschaftlicher Bindungen ein. Die Gemeinschaft der Singularitäten ist Kontingenz-Gemeinschaft. Sie ist die Gegen-Gemeinschaft zur Gemeinschaft der transzendental-europäischen Wir-Subjekte. Es ist, wie Deleuze sagen würde, die amerikanische Gemeinschaft. Die "Gemeinschaft anarchistischer Individuen, die von Jefferson, Thoreau und Melville inspiriert ist". Sie ist Gemeinschaft derer, die sich unaufhörlich selbst erfinden, deren Sein die Permanenz des Werdens, der Metamorphose ist. Die Gemeinschaft der Singularitäten ist Gemeinschaft des Werdens, Mutanten-Gemeinschaft, Gemeinschaft metamorphotischer Subjektivität. Gemeinschaft der Besitz- und Gedächtnislosen, "Gemeinschaft der Junggesellen, die ihre Mitglieder in ein grenzenloses Werden mitreißt. Ein Bruder, eine Schwester, die um so wahrer Bruder und Schwester sind, als sie nicht mehr die seine und er nicht mehr der ihre und jedes 'Eigentum' verschwunden sind."

Die Gemeinschaft der Singularitäten stellt einen Einwand gegen die klassischen intersubjektivitäts-philosophischen Dispositive dar. Sie widerspricht den Definitionen kollektiven (menschlichen) Seins als Subjekt, Selbstbewußtsein, Individuum oder Person. Die Verbindungen einer Singularität mit einer anderen (in Wirklichkeit sind solche Verbindungen nicht quantifizierbar) entsprechen eher affektiven Regungen, launenhaften oder strategischen Bündnissen, d.h. der Aktivität des Werdens, als der passiven, ursprünglichen Gegründetheit im trans-singulären Sein.

Die Singularität ist ein Subjekt kontinuierlicher Selbstübertreibung. Sie ist hyperbolisches Subjekt der eigenen Grenze. Subjekt der permanenten Selbstüberreizung, Selbstüberschreitung und Selbstbeschleunigung an dieser Grenze, die ein weiterer Name seiner Namenlosigkeit, seiner Freiheit und Verantwortlichkeit ist. Als Abgrund und Wüste gedacht bringt die Namenlosigkeit das Subjekt vor sein unmögliches Selbst. Es ist Subjekt dieser Unmöglichkeit, Subjekt der Wüste. Es überholt und verläßt sich und es kehrt wieder in der Wüste. Es verausgabt sich als Subjekt der Verantwortung und es erhebt sich als Subjekt eines eigenen Willens: Es verschwendet sich für seine Wut.

Singularitäten sind Mutanten. Subjekte ihrer Selbsterschaffung, Subjekte des Werdens. Ohne Namen, das heisst auch: ohne Kopf. Die Gemeinschaft der Namenlosen ist Gemeinschaft der Kopflosen, Gemeinschaft unentschiedener (nicht unentschlossener) Subjektivität. Kopflos zu sein bedeutet, ohne implizite Orientierung, ohne transzendentales Regulativ, ohne religiöse Zieleingabe, ohne transzendentales telos, zu sein. Das Subjekt der Kopflosigkeit ist das hyperbolische, sich halsüberkopf überstürzende Subjekt unmöglicher Selbstgewißheit. Es taumelt in unendlicher Leere. Es beschleunigt im Dunklen. Es ist wesenhaft blindes, durch Nichtsicht bestimmtes Subjekt.

Es ist offensichtlich, dass die Dekonstruktion des Subjekts, insofern sie Dekonstruktion des "verantwortlichen Subjekts". ist, wie Derrida betont, Dekonstruktion der Subjektivität des Subjekts ist: das Subjekt, das die Dekonstruktion zurücklässt, ist das enthauptete oder azephalische Subjekt ohne transzendentales caput (Kopf, Haupt). Es ist ein Subjekt (Derrida sagt nicht "Subjekt"), ohne ontologische (Selbst)Versicherung im universalen Prinzip des Kopfes (oder des Namens). Es ist dies als Subjekt einer neuen Gerechtigkeit und neuen Verantwortung, einer "Flugbahn ohne Kap und ohne Versicherung". Die Gemeinschaft der Namenlosen ist Gemeinschaft der Kopflosen, Gemeinschaft von Subjekten ohne Versicherung, ohne transzendentales Eigentum, ohne universalen Besitz. Sartre hatte der ersten Fassung seiner Autobiographie Die Wörter den Titel Jean-sans-terre gegeben. Dies "hieß: ohne Erbe, ohne Besitz. Es meinte das, was ich war."

Singularitäten konstituieren auch die Gemeinschaft derer, die mit sich zu mehreren sind. Es ist die Gemeinschaft schizoider, gespaltener, pluraler Subjektivität. Das Subjekt dieser Vielfalt ist immer zu mehreren. Es ist nie mit sich allein. Es zieht, wohin es geht, was immer es tut, eine unendliche Kette an siamesischen Geschwistern mit sich. In seinem Fall können diese Geschwister weiblich oder männlich oder beides in einem sein. Sie müssen auch keine Geschwister sein. Sie sind einfach da. Das Geschlecht, das nicht eins ist, sagt Luce Irigaray. Nun, das Subjekt der Vielfalt ist das Subjekt, das nicht eins ist. Es bildet eine Menge mit sich. Es ist eine Art Hydra. Sein Kopf, wenn man es einen Kopf nennen will, setzt sich aus einer Unzahl von verschiedenartigen Köpfen zusammen. Das Subjekt der Vielfalt ist nicht der Azephale. Es ist der Polyzephale. Es ist ein mehrköpfiges Ungeheuer, das man der klassischen Vorstellung personaler, individueller, egologischer Einheit entgegensetzen muss.

Das Subjekt der Vielfalt bildet einen Widerspruch gegen die Metaphysik des universalen einheitlichen Ich-Bewußtseins, wie sie in Kants transzendaler Apperzeption zusammengefasst ist: “Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches ebensoviel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.” Die reine oder ursprüngliche Apperzeption des Selbstbewußtsein garantiert dem Subjekt die Einheit mit sich selbst, sie ist Bedingung der Möglichkeit der “Erkenntnis a priori”, wie sie die Kritik der reinen Vernunft sicher stellen will. Das Subjekt der Vielfalt ist das Gegen-Subjekt zum Subjekt dieser ursprünglichen Apperzeption. Es ist ein originärer Hybride, ein von vornherein unreines Geschöpf. Es weiß nicht, wer denkt, wenn es denkt. Seine Vorstellungen sind allesamt anstatt von dem Gefühl des “ich denke”, von dem Schauder “jemand denkt in mir” begleitet. Das Subjekt der Vielfalt ist Subjekt einer gespenstischen Heimsuchung, es ist, in den Worten Freuds, nicht Herr im eigenen Haus.

Das Subjekt der Vielfalt erschüttert die Hoffnungen der Philosophie auf ein Subjekt der Selbstransparenz und Selbsterkenntnis. Immer scheint es der Andere in mir zu sein, der von mir Zeugnis abgibt. Immer ist es seine Spur, die, obwohl sie auf mich verweist, mich verkennt oder unsichtbar macht. Aber diese Unsichtbarkeit ist nichts negatives. Sie konstituiert den Raum weiterer Begegnungen, unverhoffter Erfahrungen, neuer Gemeinschaften. “Weil ich selbst eine Multitude bin”, sagt Negri, “kann ich die Gemeinsamkeit der Menge außerhalb meiner selbst finden.”

Blanchot lesen – bedeutet also aus dem Bereich des Lichts in das Chaos oder das Desaster einer vollendeten Dunkelheit zu wechseln. Die Erfahrung der Singularität ist zunächst nichts anderes als die Erfahrung dieser vollendeten Licht- und Orientierungslosigkeit. Dennoch ist diese Erfahrung – mehr noch als Erfahrung der Nacht – Erfahrung eines anderen Lichts, einer anderen nächtigen Sonne. Vielleicht ist der intensivste Augenblick subjektiver oder singulärer Selbst- bzw. Fremd-Erfahrung der Moment der Ununterscheidbarkeit von Singularität und Subjekt. Vielleicht heisst Werden – im vollen nietzscheanischen und deleuzeschen Sinn – der Katastrophe einer irreduziblen Schwankung oder Pendel-Bewegung nicht mehr Herr zu werden.

Die Welt der Philosophie ist die Katastrophe selbst, das Desaster und seine Unaufhaltsamkeit. Philosophen sind Pendler. Sie pendeln zwischen den Extremen zweier Welten, der “Welt des Logos” und der “Welt des Pathos”, wie Deleuze sie nennt. Die Welt des Logos ist die Welt der athenischen Dialektik, das Universum des Gesprächs und seiner universellen Vernunft. Es ist die Welt der sokratischen Maieutik, der liebenden Wechselrede, des behutsamen gemeinschaftlichen Fortschritts. Die Subjekte dieser Welt sind Subjekte einer gewissen anabasis. Sie steigen zur Idee des Guten, zu den Ideen im allgemeinen, zu transzendentalen archai oder Prinzipien empor. (Auch die Reflexion als Rückstieg zu den Gründen ist die Figur eines solchen Aufstiegs). Wir nennen sie die transzendentalen Wir-Subjekte, die das Gespräch im Horizont ihres geteilten Ursprungs eint. Der Logos ist Gesetz dieses Gesprächs und dieser Einigung, und er ist dieses Gespräch selbst, er artikuliert sich als Sprache. Er ist wesentlich kommunikativ. Die Figuren dieses Logos, seine Subjekte, sind Subjekte der Kommunikation. Sie sind Subjekte einer Selbsterforschung, die eine gewisse Einheit des Selbst vorauszusetzen scheint. Die Suche nach dieser Einheit, heisst später Philosophie. Philosophie als Dialektik, als “Gespräch zwischen Freunden, wo alle geistigen Vermögen willkürlich ausgeübt werden und unter dem Vorsitz des Verstandes zusammenarbeiten, um die Beobachtung der Dinge, die Entdeckung der Gesetze, die Bildung der Wörter und die Analyse der Vorstellungen zu verbinden und unablässig jenes Band vom Teil zum Ganzen, vom Ganzen zu Teil zu knüpfen.” Die Gemeinschaft der Philosophen artikuliert sich zuerst als die Gesprächs-Gemeinschaft von Subjekten, die dem Verstand die Führung über alle weiteren Vermögen übertragen. Es ist die Verstandes-Gemeinschaft von Beobachtern, Entdeckern, Bildnern und Analysierern, die auf dem Hintergrund des universellen Logos operieren. Sie ist schon Gemeinschaft von Pendlern, die von da nach dort, vom Bestimmten zum Allgemeinen, vom Teil zum Ganzen und zurück pendeln. Gemeinschaft des dialektischen Hin-und-Her.

Die Welt des Pathos, der nach Deleuze die Figuren Prousts angehören, ist die gegenplatonische Welt der Zeichen, die der versöhnenden Kraft des Logos widerstehen. Es ist die Welt originärer Einzelheiten, das Universum ursprünglicher Bruchstücke. Sie sind keineswegs Teile eines ursprünglich Ganzen. Sie gehören weder einer Totalität noch einem identifizierbaren Ursprung an. Sie lassen sich nicht, wie die Singularitäten der griechischen Logos-Welt als “Trümmer eines Logos” im Prozess dialektischer Heilung restaurieren. Sie sind Singularitäten ohne Horizont und Ursprung, sinn- und bedeutungslose Partikel einer Welt der Affekte und ihrer Grundlosigkeit. Die Welt des Pathos wird von singulären Immanenz-Subjekten bevölkert, deren Einsamkeit garantiert und deren Abgründigkeit fraglos ist. Ist die Gemeinschaft dieser Subjekte notwendig und nur, wie Deleuze es konstruiert, die Gegen-Gemeinschaft zur Gemeinschaft der Wir-Subjekte? Die Anti-Logos-Gemeinschaft flottierender Singularitäten, die der Verstandes-Gemeinschaft der miteinander Sprechenden entgegensteht? Wenn es so ist, dann muss diese Gemeinschaft auch Gemeinschaft der Anti-Philosophen sein.

Die Gemeinschaft der Pendler, die wir als eigentliche Gemeinschaft der Philosophen denken, ist die Gemeinschaft von singulären Subjekten, die das Grenzgebiet zwischen Subjekt-Gemeinschaft und Singularitäten-Gemeinschaft, die Zwischenwelt zwischen der Welt des Logos und der Welt des Pathos, erkunden, um die Erfahrung der Interferenz-Prozesse zwischen diesen Gemeinschaften zu dokumentieren. Pendler bewegen sich in einer Hin-und-Her-Bewegung, die nicht aufhört, nicht zum Stillstand kommt. Sie sind Subjekte einer anhaltenden Unruhe, permanenter Turbulenz. Die Gemeinschaft dieser Ruhelosen kann nicht Gemeinschaft philosophierender, kommunizierender, lesender und unterrichtender Philosophen (Akademiker) sein. Sie ist auch nicht, was sich dieser Gemeinschaft der Akademiker verweigert, um auf der Suche nach “authentischeren” Erfahrungen nach endgültiger Entsubjektivierung (Selbstauflösung) zu streben. Oft sind Singularitäten mit Individuen verwechselt worden, so dass eine Religion des Individuellen als Mittel gegen den philosophischen Universalismus der Logos-Gemeinschaften galt. Aber die Pathos-Gemeinschaft ist alles andere als eine Gemeinschaft von Individuen. Der “Individualismus” ist, wie jeder weiss, der Konformismus der kapitalistischen Welt. Die Pathos-Gemeinschaft hat (ebenso wie die Logos-Gemeinschaft) nichts mit esoterischer “Selbstverwirklichung” und uferloser Sentimentalität zu tun. Sie entwirft sich als Gegenmodell gegen das nostalgische Logos-Subjekt, dessen schmerzlich empfundene Heimatlosigkeit ihm lächerlich erscheint. Umgekehrt ist in der Perspektive des Subjekts der Heroismus der Singularitäten lügenhaft, solange Singularität als strenger Gegenbegriff gegen das Identitäts-Modell erscheint. Die Gemeinschaft der Pendler bewegt sich zwischen diesen Alternativen, die das Ergebnis strategischer Vereinfachungen sind. Sie ist darum bemüht, wie Richard Rorty sagt, “das Pendel in Schwung zu halten.” Denn: “Hegel betonte zu Recht, daß die Ausschläge dieses Pendels die Bewegungen des Geistes selbst sind.”

Singularitäten, sagen Deleuze und Guattari, sind Krieger. Sie besteigen eine Kriegsmaschine. Sie konstituieren die Gemeinschaft kriegerischer Singularitäten die den Krieg, der sich als Frieden tarnt, bekämpft. Sie kämpft für einen Frieden, den es nicht gibt. Dennoch ist ihr Kampf um den unmöglichen Frieden nicht selbst unmöglich. Für das Unmögliche zu kämpfen, kann notwendig und gerechtfertigt sein. Um den unmöglichen Frieden zu berühren, um ein Bild von ihm zu erstellen, muss die Gemeinschaft der Krieger alle Illusionen und Trugbilder des Friedens durchlaufen, analysieren und fahren lassen. Sie muss zeigen, wie wenig friedfertig der Frieden in einer Welt ohne Aussen ist. Die Krieger sind Krieger in dieser einen Welt. Sie sind Subjekte der Immanenz, Subjekte des Chaos und jenes irreduziblen Aussens, von dem bei Blanchot die Rede ist.. Ihr Krieg findet hier und jetzt statt. Er durchquert den Körper jedes einzelnen Kriegers, er durchschiesst ihn mit Affekten. Denn der Krieg dieser Krieger ist nicht ein Krieg unter anderen. Er tobt im Herzen der ontologischen Vernunftsysteme. Es ist ein Krieg, der “dem philosophischen Logos einwohnt”. Der Logos als Logos, bevor man aus ihm das beruhigte Element geregelter Verständigung macht, ist kriegerisch. Er ist Widerstreit oder Diaphora des Strittigen, einer gewissermassen prä-ontologischen Uneinigkeit, wie sie im heraklitischen polemos erscheint.

Polemos ist ein anderes Wort für den irreduziblen Ungrund, für die vor-ursprüngliche Unordnung oder Mannigfaltigkeit des Seins. Es ist ein Name für den Krieg, den Heidegger als Wahrheit des Seins oder Ereignis denkt: Die Diaphora als den einigenden Unterschied, als irreduzible Differenz. Die Gemeinschaft der Krieger ist Differenz-Gemeinschaft. Sie ist Kontakt-Gemeinschaft von Subjekten, die den Ungrund, das Ereignis, die Diaphora berühren, um sie zu bezeugen und zu gründen. Die Krieger sind Gründer. Negri spricht von der “konstituierenden Macht”. Gründer geben dem Chaos der unvermittelten Mannigfaltigkeit ein Bild. Sie setzen die Wahrheit des Seins ins Werk, wie Heidegger sagt. Das Werk kann Kunstwerk, Denkwerk, Staatswerk sein. Immer sind es die Gründer, die den Abgrund des Unbegründeten aufsuchen, um ein Netz über diesem Abgrund zu spannen, das eine Gründung ist. Die Gemeinschaft der Gründer ist auch Gemeinschaft der Ausgeschlossenen: “Der Gründer”, sagt Derrida, “ist vom Gegründeten ausgeschlossen, durch das Gegründete selbst, das die abgründige Leere und folglich die Gewalt, auf denen die Gründungen ruhen beziehungsweise über denen sie schweben, nicht dulden kann.”

Gründer sind schöpfende. Sie bringen eine neue Wirklichkeit hervor. Dichter, die ein unwahrscheinliches Gefüge aus Worten, Bildern, Klängen, Rhythmen und Bedeutungen erfinden, sind Gründer. Sie gründen die singuläre Wahrheit des Gedichts. Philosophen sind Gründer, sie erfinden Begriffe und ordnen sie in einer Ebene, einer Kompositions- oder Immanenzebene, wie Deleuze und Guattari sagen. Philosophen errichten Dispositive, seien es Systeme oder brüchigere Architekturen (wie die in sechs Fügungen komponierte Fuge der Beiträge Heideggers, oder das agencement der Mille Plateaux von Deleuze und Guattari). Philosophen konstituieren eine neue, unerhörte, d.h. im nietzscheanischen Sinn unzeitgemäße (nicht anachronistische oder schlicht zeitlose) Wahrheitsordnung, die wie alles Neue mit dem Widerstand des Zeitgeists rechnen muss. Ein anderes Beispiel sind die Gründer einer neuen politischen Ordnung. Sie durchschreiten das Chaos des Nichtgegründeten, um über ihm, schwebende Formulierungen des Politischen zu hinterlassen. Gründer vermitteln zwischen dem Chaos und einer möglichen Ordnung. Sie halten Kontakt zum Krieg, insofern er die Wahrheit des Seienden im Ganzen ist.

Immer geht es dem Subjekt der Gründung darum, sich auf eine aktive und zugleich riskante, angreifbare Weise zum Chaos zu verhalten, ohne von ihm verschluckt oder zerrieben zu werden. Denn das Chaos ist wie Deleuze und Guattari sagen, ein schwarzes Loch. Es ist ungesättigte Materie, die alle Aktivitäten des Subjekts, seinen Willen zur Souveränität, zur Selbstbehauptung und Selbstbezeugung, gefährdet. Das Subjekt muss sich gegen das Chaos stellen, ohne es zu verleugnen. Es muß den Krieg bekriegen, ohne ihn zu leugnen. Es versucht seine Wahrheit spielen zu lassen, ihm eine Sprache oder einen allgemeinen Ausdruck zu geben. Es will Momente des kriegerischen Chaos zur Sprache bringen, ohne seine Kräfte durch die reduzierende Gewalt der Repräsentationen einzuschränken. Das Subjekt der Gründung will eine Stelle des Chaos besetzen, um seine Konstruktionen (Gedicht, Gedanke, Staat) an diesen Kräften teilhaben zu lassen. Es muss sich in die äusserste Nähe dessen wagen, was es am meisten bedroht. Blanchot nennt dieses Äusserste, das zugleich ein Innerstes ist, le dehors, das Aussen oder das Draussen..

Das Subjekt der Auferstehung ist das Subjekt dieses problematischen Aussen. Es ist tot und es lebt sein Totsein als gestorbenes fort. Es lebt, insofern es bereits tot ist. Der Tod folgt nicht auf das Leben. Im Ereignis der Auferstehung folgt das Leben
nicht auf den Tod, um über ihn zu triumphieren. Auferstehung bedeutet: lebend auf den Tod, auf sein bereits Gestorbensein reagieren. Die Heiterkeit des Subjekts dieser Reaktion oder Bejahung bezieht ihre Souveränität nicht aus dem Triumph des Lebens über den Tod. Sie resultiert aus dem Triumph des Todes über das Leben, der zugleich, ineinem Triumph des Lebens oder des anderen Tages ist. Man ist schon gestorben, man ist tot bevor man lebt, bevor man zu leben anfängt. Der Anfang des Anfanhs, der Ursprung des Lebens ist dieser ursprüngliche oder vorursprüngliche, einer unendlichen Vergangenheit angehörige Tod, der nicht Resultat des endenden Lebens wäre, sondern sein Ermöglichungsgrund. Die Macht des Todes hat sich der Wurzel des Lebens bemächtigt. Wir sind Totgeborene, sofern wir leben. Der Tod triumphiert über das Leben, ohne es abzuschneiden, erkalten zu lassen und still zu stellen.

Von Blanchot und Deleuze lässt sich etwas über die Kompossibilität von Tod und Leben lernen. Immer bewegt sich das singuläre Subjekt auf einen Abgrund wie auf seine Wahrheit zu. An einem gewissen Punkt der Nacht sind Ereignisse möglich, die dem Subjekt und seiner Sprache ihren Atem nehmen. Der Einbruch des Unbekannten kann Gegenstand einer absoluten Bejahung werden. Das Subjekt bejaht, was es überschreitet. Dennoch verliert das Unbekannte nichts vom Schrecklichen, das es verspricht. Seine Gegenwart ist die eines fortdauernden Entzugs.

Wissenschaft, Philosophie und Kunst beschreiben den Akt dieser Bejahung, die bei Deleuze und Guattari die Kontaktierung des Chaos ist. Sie versuchen einen prekären Kontakt mit dem Chaos zu halten, es zu bekämpfen, ohne seine dunkle Effizienz zu leugnen oder überhaupt einzuschränken, um sich vor einer anderen Gefahr zu wappnen, die als Maßnahme gegen die absolute Unordnung auftritt, ohne viel mehr als eine Fluchtbewegung, “eine Art 'Sonnenschirm' zum Schutz gegen das Chaos” zu sein. Während die Meinung den phantasmatischen Schutzschirm ausmacht, dessen es bedarf, um vor dem Chaos zu fliehen, lassen sich Wissenschaft, Kunst und Philosophie auf ein anderes Verhältnis zu diesem Ungrund ein. Blanchot hat den Akt souveräner Berührung des Nicht-Berührbaren als Insistenz jenes jungen Mädchens beschrieben, dessen Entschiedenheit unzweifelhaft ist im Augenblick einer “Bewegung, die sie mitten in der Nacht auf einen Unbekannten zutrieb und seiner Gnade auslieferte.” Einer “vornehmen Bewegung”, die ihr “sehr wahrhaftig und richtig” auszuführen gelingt. Anmut einer gültigen Überstürzung, die als äusserste Forderung oder Forderung des Äussersten gelten kann. Augenblick, in dem sich ein junges Mädchen in den Erfordernissen der Nacht verliert, um sich dem eigenen Verlangen zu öffnen, das es eine Zone jenseits der etablierten Ordnungen und der von ihnen regulierten Bedeutungen betreten lässt. An die Grenze der Bedeutung rührend, suspendiert die Kunst als junges Mädchen die Logik der Gesetze und die Diktatur des Verbots. Die überschreitung muss in sich selbst überschritten werden, um den Raum zu öffnen einer befreiten Subjektivität. Das Subjekt dieser sich zu sich kämpfenden Freiheit ist das Subjekt der Kunst.