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MARCUS STEINWEG
 

KUNST, PHILOSOPHIE UND POLITIK

published in: Partial Truth
Hamburger Bahnhof Berlin
2004
Ich will die Fragen zu beantworten versuchen:

1. WAS IST KUNST?
2. WAS IST PHILOSOPHIE?
3. WAS IST DAS VERHÄLTNIS VON KUNST, PHILOSOPHIE UND POLITIK?

Ich will zeigen, dass Kunst FORMBEHAUPTUNG, Philosophie WAHRHEITSBEHAUPTUNG, Politik INTERESSENSBEHAUPTUNG ist. Ich will auf der Strukturhomologie von Kunst und Philosophie insistieren. Ich werde es in Abgrenzung von der Politik, die eine MEINUNGS-PROZEDUR, statt ein FORM- oder WAHRHEITSEREIGNIS ist, tun.

Ich will die politische Relevanz von Kunst und Philosophie gegen den Möglichkeitssinn der politischen Kunst und politischen Philosophie verteidigen. Ich will zeigen, dass politische Kunst und politische Philosophie ihre Selbstentpolitisierung implizieren, statt politisch im Sinne einer POLITIK DER FREIHEIT, des UNMOEGLICHEN, und NOTWENDIGSTEN zu sein. Diese Politik wäre nicht das, was man sonst Politik nennt. Sie wäre in jedem Fall keine INTERESSENS-BEHAUPTUNG oder -VERTEIDIGUNG. Sie wäre WIDERSTAND gegen die Ordnung sozio-politischer und ideo-kultureller Realität, sie artikulierte sich als absolute Weigerung gegenüber dem Universum der Tatsachen und der in ihm zirkulierenden Meinungen. Sie wäre Politik der Wahrheit im Sinne Alain Badious, insofern eine Wahrheit das ist, was mit den etablierten Wahrheiten in Konflikt gerät, was die Stimme der offizialisierten Wahrheiten stottern lässt und zum Schweigen bringt.

Ich will zeigen, dass Kunst nur als Kunst (nicht l'art pour l'art!), Philosophie nur als Philosophie, politische Bedeutung erlangen. Es geht also weder darum, Kunst und Philosophie auf das sozio-politische Feld, in dem sie sich artikulieren, zu reduzieren, noch geht es um die restriktive Bestimmung der AUFGABE von Kunst und PHILOSOPHIE als einer politischen. "Das ist die linke Illusion der letzten Jahrzehnte”, sagt Heiner Müller, “der europäischen Intellektuellen oder besonders Literaten, daß es eine Interessengemeinschaft von Kunst und Politik geben könnte und sollte. Kunst ist letztlich nicht kontrollierbar. Oder kann sich ständig der Kontrolle entziehen. Und deswegen war sie [...] fast automatisch subversiv."

Um eine Formbehauptung oder Wahrheitsbehauptung zu sein, müssen Kunst und Philosophie sich der “Ordnung des 'Politikmachens'” verweigern. Das ist die Ordnung des Möglichen, der Pragmatik und ihrer praktischen Klugheit, der situativen Intelligenz. Es ist die Ordnung der phronesis, wie Aristoteles sagt. Die Dimension der diplomatischen, lebenstüchtigen, umsichtigen, besonnenen Vernunft. Philosophie und Kunst bewegen sich, als radikale aber abgründige, in keinem allgemeinen Prinzip versicherte, BEHAUPTUNGS-FORMEN im ABSEITS dieser Ordnung der Machbarkeit, nicht um welt- oder wirklichkeitsabgewandter als die Politik innerhalb der Ordnung des Politikmachens zu sein, sondern um die INTENSITÄT ihrer Behauptung in einen anderen Horizont, in einen Unendlichkeits- und Unmöglichkeitshorizont zu stellen, in dem das Subjekt der Absorption durch blosse Interessen oder Neigungen, wie Kant sagt, widersteht. Kunst und Philosophie sind Selbstbeschleunigungsformen eines Behauptungs-Begehrens, das die konsensuellen (oder konsensualen) Horizonte der Diskussion, der Argumentation, der Kommunikation, der Erklärung, der Rechtfertigung oder reflexiven Selbstabsicherung durchbricht. Es gibt Kunst und Philosophie nur als diese Durchbrechung. Als Gewalt der Horizont-Überschreitung. Als Behauptungsgewalt eines Subjekts der Entscheidung. Einer Entscheidung, die den Horizont des Möglichen auf die Dimension des Unmöglichen, die die Dimension der Wahrheit ist, durchbricht.

Wahrheit wird von Philosophie und Kunst nicht begründet. Wahrheit lässt sich nur behaupten. Wahrheit ist unbegründbar. Wahrheit ereignet sich, wenn das Subjekt sich der symbolischen Ordnung, seiner sozio-kulturellen Integrität ebenso wie den Phantasmagorien des Imaginären entfremdet. Es gibt Wahrheit, in dem Moment, in dem Philosophie und Kunst (neben anderen Behauptungsformen: zum Beispiel der Wissenschaften) das Unmögliche (die reine Virtualität oder das Chaos) in der Riskanz der Horizontüberschreitung berühren. Philosophie und Kunst müssen diese Berührung, die selbst Wahrheitsberührung ist, behaupten. Sie realisieren diese Bewegung und sie verteidigen sie. Philosophie und Kunst sind Realisationsformen von Wahrheiten, die nicht präexistieren. Es geht nicht darum, Wahrheiten zu finden, zu entdecken und zu entziffern. Es geht darum, sie zu erfinden: Wahrheit zu produzieren! “'Wahrheit' ist niemals 'an sich', von selbst vorhanden” und als solche entzifferbar, “sondern erstritten”, sagt Heidegger. Eine solche Wahrheit, insofern sie das Produkt eines streitenden und erstreitenden Behauptungs-Subjekts ist, ist deshalb nicht im schlichtesten Sinn des Wortes relativ. Philosophie und Kunst behaupten Wahrheit – die Kunst behauptet Wahrheit, durch Formbehauptung – indem sie sich dem Relativismus der Tatsachenwahrheiten und dem Regime der Beweisführung und argumentativen Versicherung, dem die Tatsachen unterstellt sind, entziehen.

Philosophie und Kunst behaupten keine Tatsachen. Sie konstituieren Wahrheiten, die die Ordnung der Tatsachen korrumpieren. Der Ort der Wahrheit kann nicht im Universum der Tatsachen sein. Das ist der Utopismus der Wahrheit, dass sie als solche verrückt ist, anderswo. Dass sie das Register der Tatsachen sprengt. Dass sie an einem anderen, in diesem Register und der Topologie, die es vertritt, nicht verzeichneten Ort insistiert. Denn Wahrheit ist der Name für den Zusammenbruch der Wahrheits-Systeme, der Wahrheits-Institutionen und Wahrheits-Archive, die sich mit der Verwaltung von Tatsachenwahrheiten betreuen. Wahrheit ist ein Exzess. Sie markiert den Punkt äusserster Unruhe. Und die Berührung der Wahrheit, die das Wahrheitsbegehren von Kunst und Philosophie leistet, ist ruhelose Antastung des Unantastbaren. Es gibt Philosophie und Kunst nur als diesen Exzess.

Die Berührung des Unberührbaren ist selbst nicht unmöglich. Aber sie fordert vom Subjekt (vom Subjekt der Kunst, vom Subjekt der Philosophie), den Raum des Möglichen, der der Raum der Doxa (der blossen Meinung) und der von ihr etablierten Tatsachen-Wahrheiten ist, zu durchqueren und für den Moment der Setzung des Werks (des Kunstwerks oder der philosophischen Behauptung) zu suspendieren. Sie ist Kontaktierung des Chaos, wie Deleuze und Guattari sagen. Es geht darum, das Chaos, die unentschiedene präontologische Mannigfaltigkeit des Seienden zu berühren. Das Subjekt dieser Berührung überschreitet dabei sich selbst als Subjekt, solange Subjekt der Name einer gegründeten Entität oder eines transzendentalen Konstitutionsprinzips ist. Subjekt ist zuletzt, im weitesten und entschiedensten Sinn, was diesen Begriff von Subjektivität überschreitet, um sich selbst setzende Autorität dieser Überschreitung zu sein. Das ist seine spezifische Souveränität.

Die Frage des Subjekts verbindet sich mit der Frage der Freiheit und der Frage der Verantwortung. Subjekt ist, was frei ist zur Verantwortung. Die Verantwortungsfreiheit ist die Wahrheit des Subjekts.

Was ist politische Kunst im Verhältnis zu dieser Wahrheit und Verantwortung? Was unterscheidet sie von der, sagen wir, “Kunst des Unmöglichen” , der souveränen oder autonomen Kunst, die eine eigene Politik der Wahrheit generiert? Politische Kunst legitimiert sich vor Tatsachen, um sich nicht vor einer Wahrheit zu verantworten. Sie beruhigt sich in der illustrativen, pädagogischen (also scheinemanzipatorischen) Bearbeitung sogenannter politischer Probleme, das heisst des SCHLECHTEN GEWISSENS. Politische Kunst ist Gewissenskunst. Sie hat ihren Ursprung im schlechten und ihr Ziel im guten Gewissen. Heute ist der Konsens in Bezug auf das, was als ein politisches Problem gilt, dass nach künstlerischer oder philosophischer Bearbeitung verlangte, eklatant: ich nenne nur die Gender-Frage, die Permanenz des Nah-Ost-Konflikts, wie man sagt, die Ungerechtigkeiten der Globalisierung, die dezentrierte Macht des Kapitals, das Empire usw. Ich will nicht sagen, dass das keine ernstzunehmenden Probleme sind. Es wäre dumm und zynisch die Dringlichkeit, die Notwendigkeit und Ernsthaftigkeit dieser Probleme zu bestreiten oder zu relativieren. Ich zweifle schlicht daran, dass es Probleme der Kunst und der Philosophie sind. Vielleicht werden diese Probleme und die Fragen und Aporien, die sich mit ihnen verbinden, auf eine überhastete Weise entschärft, indem sich Kunst und Philosophie ihrer annehmen, ohne sich wie so oft, auf der Höhe ihres Gegenstandes und der Komplexität seines Zusammenhangs zu bewegen. Vielleicht sind es zu oft die journalistischen Medien die den Gehalt ideologiekritischer Gesten lenken, um die Motive politischer Kunst zu prädeterminieren.

“Das Denken”, sagt Badiou, das Denken der Kunst, der Philosophie, der eigentlichen Politik, “ist jedoch der eigentümliche Modus, nach dem ein menschliches Tier von einer Wahrheit [nicht von Tatsachen!] durchquert und überstiegen wird. In einer solchen Subjektivierung wird die Grenze des Interesses derart überschritten, daß der politische Prozeß selbst dabei indifferent ist.” Der Augenblick der Subjektivierung (der Augenblick der Kunst, der Philosophie – und der Wissenschaft im Deleuzeschen Dispositiv) lässt das (fremdkonstituierte, heteroaffizierte) Subjekt seine Interessen aufgeben (oder zumindest einklammern). Er lässt das Subjekt an der Schwelle zur Selbstkonstitution aus seinem partikularen, geschichtlichen, historischen, sozialen, kulturellen, kommunikativen und mediativen Interessens-Zusammenhang heraustreten. Es fällt aus der Geschichte, in dem Sinn, wie das Werden bei Deleuze und Guattari den Schleier der Geschichte zerreisst: “Die Philosophie ist Werden, nicht Geschichte” .

In der Subjektivierung erscheint, was ich seine absolute Freiheit nenne, ohne, dass es notwendig würde die objektive Unfreiheit (Kontextualität, Situativität, Historizität, Politizität usw.) des Subjekts der Subjektivierung zu leugnen oder zu relativieren. Das Subjekt konstituiert sich als Subjekt (was ein Akt der Freiheit ist) in der Dimension realer "Materialität" und passiver Eingebundenheit in Strukturen und Strukturzusammenhänge, die es nicht kontrolliert. Es ist auch Produkt einer passiven Genese. Zugleich aber ist es Subjekt des Widerstands. Es widersteht allen Realitäten, die es auf seinen Objekt- oder Ergebnis- oder Tatsachen-Status zu reduzieren drohen. Die Verteidigung dieses Subjekts ist weder Verteidigung eines klassischen "Idealismus", noch ist sie "Realismus", der nichts als ein weiterer Idealismus wäre: Idealismus der Tatsachengläubigkeit. Die alte metaphysische Opposition von Idealismus und Realismus bleibt im Verhältnis zu diesem Subjekt nicht intakt. Sie muss überschritten werden, um den Blick zu öffnen auf ein Subjekt, das als Subjekt der Freiheit in realer Unfreiheit resistiert (Judith Butler hat in ihren Vorlesungen zur Kritik der ethischen Gewalt, zu Recht wie ich denke, auf der Möglichkeit und Notwendigkeit von Souveränität, oder Verantwortung, in objektiver Nicht-Souveränität, faktischer Überforderung bestanden ).

Im Raum unmöglicher Subjektivität (“Es gibt kein Subjekt, sondern eine Produktion von Subjektivität; Die Subjektivität muß produziert werden, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, gerade weil es kein Subjekt gibt.”, sagt Deleuze ) konstituiert sich das Subjekt als Prozess seiner Selbsterfindung. Subjektivierung ist der Name für diesen unabschliessbaren Prozess, in dem das Subjekt Kontrolle, Beherrschung über sich zu erlangen versucht. Es ist der Name für eine Existenzform äusserster Unruhe. Es gibt Subjektivität nur im Modus einer gewissen Aufgeregtheit. Das Subjekt der Autopoiese ist Subjekt einer absoluten Turbulenz. Es ist Subjekt der Selbstkonstitution, der Freiheit und emanzipatorischen Selbsterhebung, Subjekt irreduzibler Konflikte. Es erfährt sich selbst als Konflikt. Es gibt so etwas wie ein Subjekt nur als Grenzfall des ontologischen Selbstbewußtseins, als Kollaps der Selbstevidenz der überlieferten cartesischen, phänomenologischen oder hermeneutischen Bewußtseinsvorstellung. Als Subjekt der Selbsterhebung beginnt es sich inmitten der Geschichte, inmitten der Spezifizität eines historischen, politischen, ökonomischen, kulturellen, geschlechtlichen Zusammenhangs aufzurichten. Es beginnt gegen das ihm nur Äusserliche zu kämpfen. Es bekämpft in dieser Bekämpfung alles, was aus ihm ein Produkt fremder Willensäusserungen, faktischer Determinationen macht. Deshalb ist die Selbstaufrichtung des Subjekts Widerstand gegen die Diktatur der Tatsachen. Das Subjekt hört nicht auf sich gegen seine Reduktion auf seinen nackten Objektstatus zu wehren. Es verteidigt sich gegen die Dingwerdung oder Verdinglichung seines Seins durch die Bewegungen, die Sinn- und Wertstiftungen der Geschichte. Es muss sich von dieser Geschichte lösen ohne den allgemeinen Geschichtsraum, dem es zwingend angehört, verlassen zu können. Das Subjekt ist daher Subjekt eines wesentlichen Widerspruchs, einer unendlichen oder irreduziblen Paradoxie.

Ich frage mich: Ob die wesenhafte Prozessualität des Subjekts (seine Geschichtlichtlichkeit) es notwendig in der Empirizität einschliesst, die alle Wahrheit und jede universale Bestimmung des Subjekts verneint. Was ist, wenn das Wesen des Subjekts darin liegt ohne Wesensbestimmung zu sein und in diesem Sinn ohne Wesen und ohne Subjektivität? Das Subjekt, das ich zu denken geben, ist Subjekt dieses OHNE, es ist Subjekt ohne Subjektivität. Die Prozessualität des Subjekts nennt Deleuze mit Nietzsche sein Werden, seine Nicht-Substanzialität. Was Foucault Subjektivierung nennt zielt auf dieses Werden, das das Selbstwerden, das Subjektwerden, die Autokonstitution eines heteroaffizierten Subjekts ist. Es geht nicht darum, die alte (und immer schon vereinfacht rezipierte Tradition der Subjektphilosophien, insbesondere der Neuzeit, zu restituieren, indem ich (mit Badiou und Zizek) die Subjekt-Kategorie gegen ihre Denunziation und Entschärfung im metaphysikkritischen Diskurs zu reaktualisieren versuche. Es geht in keinem Fall um ein altes Subjekt. Bestenfalls geht es darum, zu zeigen, dass nicht das neue Subjekt das alte vermeintlicher Selbsttranzparenz ist, sondern, das das alte Subjekt in seinen onto-historischen Modifikationen immer schon die Öffnung auf ein Subjekt ursprünglicher und permanenter Prozessualität impliziert.
Das Subjekt, das ich verteidige, ist ein Subjekt ohne Subjektivität, ein kopfloses, substantiell blindes Subjekt seiner Kopflosigkeit. Hyperbolisches Subjekt der Selbstüberschreitung und Selbstbehauptung in aggressiver Selbstentgrenzung. Es gibt so etwas wie Behauptung und Selbstbehauptung nur für ein ursprünglich enthauptestes, azephalisches, entgrenztes Subjekt.

Das Problem der politischen Kunst und der politischen Philosophie ist zu oft, der Mangel an Mut zur Selbstautorisierung in diesem Sinn: dass sie sich in eine ABHAENGIGKEIT zu partikularistischen Interessen begeben, um die FREIHEIT und den WILLEN zur Selbstbehauptung (der wesentlich in der BERUEHRUNG DES UNBERUERBAREN, der VERSUCHUNG DES UNMOEGLICHEN, der RISKANZ eines gewissen UNIVERSALISMUS besteht), durch den UNMUT des MOEGLICHKEITSSINNS substituieren. Sobald Kunst und Philosophie fragen, was möglich sei, haben sie als Kunst und Philosophie bereits verspielt. Denn der Möglichkeitssinn, die pragmatische Erwägung, das strategische Kalkül, ist was Kunst und Philosophie entweder dem gesunden Menschenverstand (der Doxa) oder dem Journalismus assimilieren. Die Selbstassimilierung der politischen Kunst und der politischen Philosophie an den Journalismus ist offenkundiger denn je.

“Das Einverständnis mit dem Gegenstand trennt die Literatur vom Journalismus”, sagt Heiner Müller: “Die Voraussetzung für Kunst ist Einverständnis”. Die Einverstandenen wollen mit dem Wirklichen kooperieren, um es zu verändern: “Man kann es überhaupt nicht beeinflussen, wenn man nicht mit ihm einverstanden ist.” Das Einverständnis ist affirmativ ohne Zustimmung zum Realen zu sein. Es ist Anerkennung, nicht Zustimmung. Anerkennung oder Einverständnis gehen der zustimmenden Gutheißung wie der verneinenden Zurückweisung voraus.

Subjekte des Einverständnisses sind Subjekte einer unwahrscheinlichen Bejahung. Sie sagen Ja zur Wirklichkeit, wie sie ist. Das bedeutet nicht, dass sie alle realen Ereignisse und Prozesse gutheißen. Einverständnis impliziert kein Urteil. Die Einverstandenen riskieren einen Realitätsbezug ohne Wertung. Sie sind einverstanden mit der ursprünglichen Wertlosigkeit des Realen. Denn das Reale ist zunächst nichts als das Maßstablose. Es ist, was jeden Maßstab übersteigt. Das Reale geht seiner Ordnung oder Mässigung in Wertmaßstäben voraus. Es ist das Inkommensurable schlechthin.

Das Einverständnis der Einverstandenen zielt deshalb nicht auf Werte. Es zielt auf das Reale, wie es jenseits seiner Bewertung durch Wertmaßstäbe ist. Das Einverständnis ist eine fundamentalere Bejahung als die Gutheißung. Die Gutheißung beruft sich auf das Gute. Sie hat bereits eine Vorstellung vom Guten. Sie klassifiziert das Reale nach den Kriterien eines Registers. Das Register des Guten, nennt man Moral. Die Moral ist eine Disziplin zur Beurteilung des Realen. Sie unterscheidet das Gute vom Nicht-Guten oder Bösen. Einverstanden mit dem Realen zu sein, bedeutet daher Nichteinverständnis mit der Moral. Die Einverstandenen verteidigen durch ihr Einverständnis das Reale vor der Moral. Nietzsches amor fati ist die Formel eines solchen Einverständnisses. Das Schicksal zu lieben im Sinne Nietzsches, bedeutet nicht schicksalsgläubig zu sein. Im Gegenteil: Nietzsches Schicksalsliebe bekämpft den Schicksalsglauben.

Der Schicksalsglaube nährt sich aus Obskurantismus und Verdunkelung. Die Schicksalsliebe macht aus dem Subjekt dieser Liebe ein Subjekt der Klarheit. Es ist Subjekt des Tages, Subjekt der Selbstdurchleuchtung. Während das Subjekt des Schicksalsglaubens sich seinem Schicksal fügt, ist das Subjekt des Einverständnisses, das Subjekt der Schicksalsliebe, ein Subjekt, das einverstanden ist mit dem “Schicksal”, d.h. mit der Realität, wie sie hier und jetzt ist. Die Schicksalsliebe ist eine weiter gehende und riskantere Bejahung als der Schicksalsglaube, der das Subjekt des Ressentiments und mystischen Paranoia beherrscht. Subjekt des Schicksalsglauben zu sein, bedeutet kaum noch Subjekt zu sein. Es bedeutet, Objekt der Umstände, das heisst Opfer der Geschichte oder dunkler Mächte oder Autoritäten, zu sein. Das Subjekt des Schicksalsglaubens glaubt an diese Mächte, an die “Macht des Schicksals”. Es ist nicht einverstanden mit seiner Situation. Das Subjekt der Schicksalsliebe liebt das Reale wie ein Schicksal, ohne schicksalsgläubig zu sein. Es ist einverstanden mit seiner Situation und Realität.

Das Subjekt der Schicksalsliebe ist hyperbolisches Subjekt. Es drängt über sich hinaus. Das Hinausdrängen über sich macht aus ihm den Schauplatz einer bestimmten Selbstüberschreitung. Die Selbstüberschreitung, insofern sie durch den Kontakt mit einem Aussen veranlasst und durch das Subjekt selbst legitimiert ist, verlangt Mut. Das hyperbolische Subjekt wagt den Mut zur Selbstentäusserung in einem ihm fremden Element. Die Selbstentäusserung des Subjekts ist Selbstentfremdung. Das Subjekt erkennt sich nicht wieder, es ist befremdet durch sich. Nur durch den Mut zur Selbstbefremdung in der Selbstentfremdung wird aus dem Subjekt der normalen Bewegungen ein Subjekt des Ausnahmezustands und der Selbstbeschleunigung.

Die Selbstbeschleunigung zu bejahen, verlangt vom Subjekt der Kunst und Philosophie den Mut zur unbekannten Bewegung. Es ist die Bewegung, der Rhythmus, des Übermuts. Übermütig zu sein heisst, von den normalen Abläufen in eine andere Bewegungsform zu wechseln. Abzuweichen, etwas Unerwartetes zu tun. Das Subjekt des Übermuts überrascht die anderen Subjekte und es überrascht sich selbst. Die Riskanz der anderen Bewegtheit ist für es selbst nicht kalkulierbar. Dennoch verläßt es die durch die verbreitete Vernunft legitimierten Wege, um neue Wege zu suchen und neue Horizonte zu eröffnen, ohne sich im Vergangenen oder Gegenwärtigen absichern zu können. Denn über die neuen Wege und Horizonte ist nichts bekannt.

Das Subjekt der Selbstaufrichtung ist Subjekt der Differenz von Liebe und Sentimentalität. Es ist Subjekt der Selbstbekämpfung. Es muss die Sentimentalität bekämpfen, das kleine Gefühl und seine verkleinernden Effekte, um Subjekt der Liebe, ihrer Wucht, Intensität, Grausamkeit und Unendlichkeit zu sein. Das Subjekt der Liebe berührt das Reale oder das Aussen, um in dieser Berührung etwas anderes zu werden als es ist. Statt sich selbst zu lieben und sich im narzisstischen Selbsthass der Selbstliebe einzumauern, beginnt es sich in der Berührung des Unberührbaren gegen sein aktuelles Selbst als Selbst der Liebe (das heisst der Berührung des Anderen) aufzurichten. Es beginnt das Andere, das Aussen, das Chaos oder das Reale als seine Wahrheit zu affirmieren.

Affirmation ist nicht Respekt. Es erfordert mehr Mut zu lieben (die Berührung des Unberührbaren zu wagen) als zu respektieren (das heisst die Andersheit des Anderen durch überhastete und immer verängstigte “Verbrüderung” zu neutralisieren). Der Respekt erhält sich durch eine Art furchtsamer Distanz. Das ist die Distanz der Verbrüderung. Zu lieben bedeutet, diese Distanz aufzugeben, eine befremdliche Identifikation mit einer realen Alterität zu wagen, ohne faktische Verschiedenheiten, objektive Unterschiede, tatsächliche Multiplizität, ohne die absolute Inkommensurabilität des Anderen zu leugnen, zu entschärfen oder zu ignorieren.

Das Subjekt der Philosophie und das Subjekt der Kunst sind Subjekte dieser identifikatorischen Liebe und der Gewalt, die zu dieser Liebe gehört. Philosophie und Kunst sind riskante Liebesbewegungen, Bewegungen des Überschwangs, der Selbstüberstürzung und Selbstverschwendung, die objektive Differenz bejahen, um absolute Nachbarschaft zu affirmieren. Die bloße Differenzierung ist nur negativ. Sie entspricht den Mechanismen der Abgrenzung, Ausschliessung und Verneinung. Philosophie und Kunst sind affirmative Bewegungen der Überschreitung des Negativen. Philosophie und Kunst wollen in grösstmöglicher Nähe zum Unbegreiflichen oder Inkommensurablen, eine Art blinder, kopfloser, exzessiver Nachbarschaft mit dem Anderen wagen, die abgründige Intimität mit dem Unmöglichen, radikale Liebe zu etwas, das die eigenen Grenzen und Möglichkeiten übersteigt. Das ist, was Kunst und Philosophie leisten können: Sich selbst zu verpflichten, das Mögliche aus Liebe zum Unmöglichen, das Unmögliche aus Achtung vor dem Möglichen zu tun.

Das Subjekt der Kunst und der Philosophie affirmiert sich als Subjekt seines Willens und seiner Liebe zur Selbstaufrichtung. Es bekämpft die Normalität des Unentscheidbaren, um im Verhältnis zu seiner Normalität anormal zu werden. Es ist Subjekt einer elementaren, sein Sein erschütternden Perversion. Inmitten der Unentscheidbarkeit (die es weder leugnet noch verharmlost) wird es sich als Subjekt seiner Entscheidungen behaupten. Denn der “Realismus” des Subjekts der Selbstaufrichtung ist nicht der “Realismus” des Tatsachen-Glaubens. Der Raum der Tatsachen, der seine eigene Unentscheidbarkeit und Unübersichtlichkeit hat, beschränkt sich auf die objektive Situation (des Subjekts). Zur Situativität des Subjekts gehört mehr als die Faktizität der es durchziehenden Determinanten, Gesetze und Strukturen. Das Subjekt ist mehr als Produkt seiner Geschichte. Es erschöpft sich nicht in einem wie immer gedachten Objekt-Status. Das Subjekt hat die Kraft (deshalb heisst es Subjekt) etwas radikal anderes als ein Objekt zu sein. Es ist mehr als ein Subjekt, das Objekten entgegensteht. Die Situativität des Subjekts ist die Szene einer permanenten Selbstüberschreitung. Subjekt ist, was an sich selber kollabiert.

Liebe zur Selbstaufrichtung ist Liebe zur Wahrheit des Subjekts, das die Figur eines sich zu sich bekennenden Begehrens, einer unsentimentalen Leidenschaft und Liebe zum Realen ist. Das Subjekt dieser Liebe versucht seine Souveränität in faktischer Nicht-Souveränität zu behaupten. Den Kontakt mit dem Realen erfährt es als Schmerz. Der Schmerz ist die Erfahrung der Öffnung – das Subjekt überschreitet sich und die Grenzen seiner Innerlichkeit um in einen expliziten (verantworteten) Kontakt mit dem Aussen zu treten – in der das Subjekt die Grenze von Offenbarkeit, Aletheia, Unverborgenheit erfährt. Der Schmerz ist kein Symptom, der auf eine causa verwiese. Es gibt kein Etymon des Schmerzes, der Schmerz hat weder Sinn noch Kern.

Physis im Sinne Heideggers bedeutet auch Öffnung der symptomalen Fläche, Weltaufgang. Obwohl Heideggers Ereignis-Denken eine gewisse Denaturalisierung (oder Dematerialisierung) der physis leistet, denkt es das Dasein im Verhältnis zu einer radikalen Verschliessung. Im Aufgang der physis bleibt ihr Entzug, die Verweigerung ihrer Gegenwart, bewahrt und präsent. Physis ist auch der Name der Welt vor ihrem Aufgang. Der Schmerz "öffnet" das Subjekt des Weltaufgangs auf die Erde, die Dimension ursprünglicher Welt-Verschliessung, ohne den Entzugs-Charakter, die Opazität des Seins zu relativieren.

Vielleicht ist das Subjekt des Schmerzes, sofern es Subjekt der Erfahrung der Verschliessung ist, das eigentliche Subjekt ontologischer Heiterkeit. Vielleicht gibt es Gelingen und Glück nur im Verhältnis zum Unmöglichen, zur ontologischen Verschliessung. Vielleicht muss man sich ermutigen, glücklich in faktischem Unglück, frei in realer Unfreiheit, souverän in objektiver Nicht-Souveränität, zu sein. Vielleicht ist das Subjekt des Schmerzes (das Subjekt der Philosophie und Kunst) die Figur dieses Muts und dieser Selbstermutigung. Vielleicht ist die Selbstermutigung, die das Subjekt als Subjekt einer echten Entscheidung aufrichtet, das Initial-Ereignis, der geteilte Anfangsgrund von Kunst und Philosophie.