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MARCUS STEINWEG
 

KUNST UND WAHRHEIT (2008)

Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Wenn Kunst mit Wahrheit zu tun hat, dann in diesem Sinn: Statt Wahrheiten wie Tatsachen zu präsentieren und zu offenbaren, wäre das Kunstwerk der Ort der Scheidung von Wahrheit und Tatsachen, solange Tatsachen im Licht ihrer Enthüllung den chaotischen Ungrund (ihre Wahrheit) ausblenden, der im Tatsachenlicht selbst nicht erscheint und per definitionem nicht erscheinen kann. An eine Wahrheit rühren, heisst diesen Ungrund kontaktieren, den Catoriadis mit Hegel (wie übrigens S. Zizek ) mit der Nacht der Welt konnotiert. In der bekannten Stelle aus der Jenaer Realphilosophie entwirft Hegel dieses gespenstische, das Subjekt qua Subjekt, betreffende Szenario: „Der Mensch ist diese Nacht, dies leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält, ein Reichtum unendlich vieler Vorstellungen, Bilder, deren keines ihm gerade einfällt oder die nicht als gegenwärtige sind. Dies [ist] die Nacht, das Innre der Natur, das hier existiert – reines Selbst. In phantasmagorischen Vorstellungen ist es ringsum Nacht; hier schießt dann ein blutig[er] Kopf, dort ein[e] andere weiße Gestalt plötzlich hervor und verschwindet ebenso. Diese Nacht erblickt man, wenn man dem Menschen ins Auge blickt – in eine Nacht hinein, die furchtbar wird; es hängt die Nacht der Welt hier einem entgegen.“ Die Nacht der Welt ist ein anderer Name für das Chaos, das die Subjektivität des Subjekts ist. Die Selbstkonfrontation des Subjekts, verlangt von ihm sich dieser Zone zu öffnen, die gleichermassen überreich wie leer ist. Es ist der Bereich eines Realen, das noch nicht die Form der Realität (oder Subjektivität) genommen hat. Dimension eines „Abgrunds“ (abîme), der die „unendliche Möglichkeit der Repräsentation“ , d.h. also ihre Unmöglichkeit, markiert. Auf diesen Abgrund ist das Kunstwerk, wie das Subjekt überhaupt, bezogen, auf diese Instabilität oder Unschärfe, die seine Selbststabilisierung im etablierten Realitätsmuster verhindert. Wahrheit ist ein Titel dieser Instabilität, die das Werk wie das Subjekt über sich hinausreissen auf die Nacht des Indefiniten hin. Deshalb gehört zur Kunst, statt Verständlichkeit "Klarheit" (transparence absolue), weil Klarheit die Grenze des Verstehbaren evoziert. Die Transparenz des Kunstwerks öffnet es auf eine Intransparenz, die ihm nicht nachträglich ist, sondern ihm ursprünglich angehört. Das Chaos präzisieren, bedeutet diese Transparenz auf Intransparenz, diese Öffnung auf Verschliessung zu artikulieren. In eben diesem Sinn, ist Kunst, wie Castoriadis ausführt, Formbehauptung, in dem sie der Öffnung auf die Formlosigkeit eine Form anmisst, die das Subjekt dieser problematischen Anmessung auf das Unermessliche bezieht.