artmap.com
 
MARCUS STEINWEG
 

NOTIZ ZUM NARZISSMUS (2006)

In der Vorrede zu seiner Phänomenologie des Geistes (1807) kommt Hegel auf die Differenz von Substanz und Subjekt zu sprechen: “Es kommt nach meiner Einsicht, welche sich nur durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken”. Das Wahre oder die Wahrheit ist hier der Name für die Angleichung oder adaequatio von Substanz und Subjekt, für den Geist als Totalität von “Natur” und “Mensch”. Die Vermittlung der beiden Sphären heißt Dialektik. In ihr geht Hegels Denken “auf eine letzte Erschließung der Substanz, die als Subjektwerdung erscheint, da Hegel in der Tiefe der Substanz das Subjekt und die bei sich seiende Freiheit des Geistes findet”.

Zum Prozeß der Subjektwerdung gehört das Ausrücken des Subjekts aus der Substanz. In der Phänomemologie beschreibt Hegel den ersten Schritt dieser Ausrückung als Übergang des Geistes oder des Absoluten vom Bewußtsein zum Selbstbewußtsein, vom Ansich- zum Fürsichsein. Der Übergang ist wesentlich Selbstaneignung: das Bewußtsein erschließt sich als Subjekt seiner Bewußtseinstätigkeit. Es emanzipiert sich von der bloßen Verfallenheit an das Ansich der Bewußtseinsgegenstände und ergreift sich als wesenhaft tätiges Gegenstandsbewußtsein oder -subjekt. Die Selbstergreifung des Subjekts läßt sich in psychoanalytischem Vokabular als der Wechsel vom kindlichen Primärnarzissmus zur “Objektliebe” kennzeichnen. Zur Subjektwerdung gehört die Fähigkeit, sich auf die Dimension des Nicht-Subjektiven zu öffnen, auf die Ordnung der Objekte, ohne die Objekte unmittelbar rückläufig zu internalisieren. Diese Öffnung markiert die Abrückung des ursprünglich narzisstischen Subjekts von seiner autoerotischen objektfremden Disposition. Das Subjekt befreit sich aus der “Fixierung der Libido an den eigenen Leib und die eigene Person”, das heißt aus seinem “allgemeinen und ursprünglichen Zustand” , den Freud den primären Narzissmus nennt. Die Befreiung wird möglich, indem das Subjekt von seinen selbstverfallenen instrumentellen Objektbezügen zur riskanten Haltung der Objektliebe wechselt und sich derart als Subjekt dieser Liebe, als Subjekt überhaupt, konstituiert. Deshalb kann Freud vom “ökonomischen Gegensatz von Narzißmus und Verliebtheit” sprechen, weil, wie später Erich Fromm ausführt, die “Hauptvoraussetzung für die Fähigkeit, lieben zu können” sei, “daß man seinen Narzißmus überwindet.”: “Narzißmus ist die erste Stufe in der menschlichen Entwicklung, und wer im späteren Leben auf diese Stufe zurückkehrt, ist unfähig zu lieben; im Extremfall ist er geisteskrank.” Die Subjektwerdung zeigt sich als Selbstausrückung des Subjekts aus seinem Primärnarzißmus, der seine Liebesfähigkeit unterdrückt. Erst das Abrücken vom narzisstischen Selbst läßt ein Subjekt entstehen, das den Namen “Subjekt” verdient. So wie das Hegelsche Subjekt sich aus seiner substanzialen Position herausdrehen muß, um freies Subjekt zu sein, muß das Freudsche Ich sich mit seinem narzisstischen Anfangszustand vermitteln, um ein Minimum an Ichautonomie zu erlangen. Es erlangt diese Autonomie, indem es sich dem Heteronomen seines Unbewußten öffnet, während es die narzisstische Behausung für Momente verläßt. Die Subjektwerdung beschreibt die Konfrontation des Subjekts mit seinem Unbewußten, die Berührung des Realen, d.h. der Grenze der Bewußtseinsordnung, ist.

Das Subjekt der Berührung ist Subjekt der Freiheit zur Selbstentäusserung und Selbstüberschreitung. Statt sich in seinem Selbstbild einzuschliessen, muss es den Mut aufbringen ein anderes Selbst zu aktivieren. Es ist Subjekt einer notwendig autoaggressiven Selbsterhebung, durch die es alle Verantwortung auf sich überträgt: “Unendliche Verantwortung”, die sich unendlich “jeder Art von gutem Gewissen” entgegenstellt. Verantwortung übernehmen wollen, bedeutet die Autorität der Entscheidung nicht an andere zu deligieren. Indem sich das Subjekt der Erfahrung der Freiheit ungedämpft und rückhaltlos aussetzt, will es verantwortlich für sich angesichts seiner selbst und der Selbstigkeit anderer Subjekte sein: ”Denn was ist Freiheit! Dass man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat.” Es setzt sich seinem Selbst und dem anderen Selbst anderer Subjekte aus. Es widersteht und es widerspricht im Augenblick dieser Erfahrung der ”Entselbstungs-Moral”, die Nietzsche als ”Niedergangs-Moral par excellence” bezeichnet. Die Entselbstungs-Moral ist eine Moral der Selbstbeschneidung, der Auto-Kastration und gewollten Schwäche, die ihre Kraft als Gegenkraft zum Leben und seinen Möglichkeiten artikuliert. Selbstwerdung bedeutet die Aktivität eines Wollens auszubilden, ein Selbst zu wollen: “Die tätigen, erfolgreichen Naturen handeln nicht nach dem Spruche 'kenne dich selbst', sondern wie als ob ihnen der Befehl vorschwebte: wolle ein Selbst, so wirst du ein Selbst. – Das Schicksal scheint ihnen immer noch die Wahl gelassen zu haben; während die Untätigen und Beschaulichen darüber nachsinnen, wie sie jenes eine Mal, beim Eintritt ins Leben, gewählt haben.”

Das Subjekt der Subjektwerdung ist Subjekt der Übertreibung. Die Übertreibung treibt es über die gesellschaftliche, politische, kulturelle und phantasmatische Realität hinaus. Sie lässt das Subjekt mit den offizialisierten Gewißheits-Wahrheiten zusammenstossen. Das Subjekt durchquert den Gewißheitshorizont auf etwas Ungewisses. Es berührt die Ungewißheit selbst. Es fällt aus dem Rahmen der immer narzisstischen Gewißheits-Solidität. Zugleich darf sich das Subjekt – sofern es sich als Subjekt behauptet – nicht in der Reaktivität auf die Tatsachen-Solidität erschöpfen. Es ist erst Subjekt, wenn es riskiert die Überschreitung der Soliditäten selbst zu überschreiten, indem es sich also weigert, Subjekt des einfachen Widerstands, der Negativität und ihrer geläufigen Romantisierungen, zu sein. Es ist Subjekt der Überschreitung der Überschreitung. Es riskiert einen Wahrheits-Kontakt, der seine Selbsteinschließung im Gewißheits- und Gewissenshorizont ebenso der kritischen wie der nur rebellischen Intelligenz und Produktion verhindert. Es widersteht dem Appell zur Selbsteinschreibung in das System der Anerkennung ebenso wie der Versuchung sich im Phantasma einer reinen Äusserlichkeit oder Reinheit zu reflektieren.