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MARCUS STEINWEG
 

PHILOSOPHIE ALS WAHRHEITSBEHAUPTUNG LECTURE: KUNSTAKADEMIE KARLSRUHE, 24.5.2006 DOPPELVERANSTALTUNG: MARCUS STEINWEG / SEBASTIAN EGENHOFER: SUBJEKT UND CHAOS

Ich werde 33 Thesen vortragen zum Verhältnis von Kunst, Philosophie, Wahrheit, Traum, Exzess und Namenlosigkeit.

Ich will die Fragen beantworten:

1. Was ist Philosophie?
2. Was ist Wahrheit?
3. Was ist Philosophie als Wahrheitsbehauptung, und
4. Was ist Wahrheitsbehauptung als Philosophie?

1. Weder in der Philosophie, noch in der Kunst geht es um Beweis oder Meinung. Es geht um eine Setzung, um Behauptung. Die Behauptung unterscheidet vom Beweis und der Meinung, dass sie ohne Gewissheit auskommen muss. Behauptungsphilosophie ist Philosophie im Ungewissen. Sie überschreitet die Modalitäten herkömmlichen Denkens, wie Reflexion, Begründung, Kritik und Argument. Es geht darum, als Subjekt im Ungewissen eine Wahrheit zu berühren und dieser Berührung eine Form zu geben, Sprache. Wahrheit ist der Name für die Grenze der Tatsachenwelt. Es gibt Philosophie nur als Kontakt zu dieser Grenze, als eine den Imperativen des Faktischen entzogene Behauptung. Die Wahrheitsberührung muss der Meinungsgewissheit und dem Tatsachenobskurantismus gleichermaßen widerstehen. Sie ist Berührung des Unberührbaren, und macht aus dieser Berührung eine Lebensform.


2. Das philosophische Leben ist kein Erkenntnisleben, weil es auf Wahrheit statt auf Wissen bezogen bleibt. Es geht nicht darum zu wissen, es geht darum, die Grenze des Wissbaren zu erfahren. Diese Erfahrung verlangt und impliziert Wissen, aber sie erschöpft sich in keiner Erkenntnissekurität. Eine Wahrheitserfahrung bricht mit den Sekuritäten der Gewissheitsmodelle. Als Subjekt der Wahrheit bewohnt das Subjekt die Kontaktzone von Wissen und Wahrheit. Während das Wissen als sein Besitz beschrieben werden kann, ist Wahrheit per definitionem unbesitzbar. Das Unbesitzbare besitzen – nenne ich Wahrheitsberührung als Lebensform.

3. Philosophie ist eine Lebensform, die die Grenze der Erkenntnismöglichkeiten ohne Sicherung in einer Art höherer Erkenntnis beschreibt. Philosophie reicht ins Jenseits des Erkennbaren und ist deshalb mehr als bloße Feststellung von Erkenntnisfähigkeit. Philosophie ist nicht anámnesis (Wiedererinnerung), sie beginnt mit der Erfahrung der einbrechenden Erinnerung. Das Subjekt der Philosophie mag suchendes Subjekt sein, aber es weiß nicht, was es sucht. Das Suchen ist nicht die Wahrheit der Philosophie, weil eine Wahrheitsberührung zu machen bedeutet, mit dem Suchen aufzuhören. Aufhören zu suchen, heißt nicht, sich in einer Gewissheit einzuschließen. Es bedeutet, die Sinnlosigkeit eines solchen Versuchs der Selbsteinschließung einzusehen.

4. An der Grenze der Gewißheit erfährt das Subjekt sich selbst als Grenze. Die Grenze ist ein möglicher Name für seine Subjektivität. Deshalb kann es ein Subjekt ohne Subjektivität heißen, weil die Grenze den substanzialen Begriff von Subjektivität für das singuläre Subjekt immer neu verschließt. Subjekt ist, was sich dieser Verschließung öffnet. Es ist ekstatisches Subjekt einer primordialen Geöffnetheit, Subjekt dieser ontologischen Nacktheit und Armut, nichts als Subjekt der Leere, der Unbestimmtheit und Namenlosigkeit.

5. Singularität ist ein Name für das Subjekt ohne Namen. Die Gemeinschaft der Namenlosen ist Gemeinschaft von Singularitäten, von Subjekten ohne Subjektivität. Die Subjektivität des Subjekts ist im überlieferten Denken der Name für das Sein des Subjekts. Sie ist der Name des Namens, denn Subjektivität ist selbst ein Name. Im Namen der Subjektivität, im Namen seines Namens, ist das Subjekt Subjekt. Singularität nenne ich ein Subjekt ohne Namen, ein Subjekt, das weder im eigenen Namen noch im Namen von jemand anderem oder im Namen einer ihm übergeordneten intelligiblen Sache sprechen und existieren kann. Die Singularität ist das Subjekt ohne Sein und Wesen. Ein Subjekt der Wüste oder des Abgrunds, ein einsames, bestimmungsloses, ganz für sich verantwortliches Subjekt.

6. Die Frage des Subjekts verbindet sich mit der Frage der Freiheit und der Verantwortung. Subjekt ist, was frei ist zur Verantwortung. Verantwortung heißt, das Unmögliche begehren. Verantwortung ist eine absolute Leidenschaft. Sie ist absolute Passion, katastrophé und Überforderung. Um verantwortlich zu sein, muss das Subjekt ein Übermaß an Freiheit riskieren. Es gibt Verantwortung nur, solange es Freiheit gibt. Freiheit ist Freiheit zur Entscheidung im Hier-und-Jetzt. Frei zu sein angesichts des Wirklichen, ist die Leidenschaft verantwortlicher Philosophie.

7. Der Realismus der Philosophie ist liebender Realismus eines Subjekts, das sich weigert zwischen den Alternativen eines vulgären Realismus und eines verträumten Idealismus zu wählen. Indem die Philosophie Wahrheit begehrt, begehrt sie das Wirkliche. Philosophie ist nicht Flucht vor der Wirklichkeit. Sie mag eine Fluchtbewegung darstellen. Was sie flieht aber, ist nicht die Wirklichkeit. Die Philosophie flieht den Wirklichkeitsersatz, der sich Wirklichkeit nennt. Philosophie ist Realismus, Wirklichkeitsbegehren in diesem Sinn.

8. Was wahr ist, kann unmöglich gewiss sein. Gewissheit verdankt sich der Überspringung der Wahrheitskategorie. Man erfindet Gewissheiten, um Wahrheiten zu verhindern. Das Subjekt der Gewissheit ist Subjekt der Tatsachenrealität.

9. Phronesis nennt Aristoteles die Intelligenz im Partikularen, in der Unfreiheit. Intelligenz, die im Verhältnis zu der Situation, in der sie entscheidet und handelt, operiert. Sie ist (Gadamer hat es unablässig betont) das Prinzip der Hermeneutik: wägende und abwägende Vernunft. Das nähert sie der pragmatischen Schätzung der doxá, des gesunden Menschenverstands. Zu Kunst und Philosophie gehören absoluter Widerstand gegenüber der Doxa und der Phronesis. Denn sie zwingen das Subjekt in die Verlangsamung, in die Selbstausbremsung, in den Gewaltverzicht. Philosophie und Kunst wollen das Subjekt als Behauptungsgewalt aufrichten, die den Entschärfungen der Doxa und der Phronesis resistiert. Eigentlich entscheidet und handelt das Subjekt nur, indem es seine Situation vernachlässigt, ignoriert und überschreitet, indem es die Tatsachentextur durchsticht. Subjekt ist nichts als der Name dieser Durchstechung und der Übertreibung, die sie notwendig darstellt. Deshalb das Misstrauen gegenüber dem Subjekt einer solchen Selbstautorisierung: weil es seiner Entschärfung durch den Geist der Tatsachen resistiert.

10. Die Übertreibung treibt das Subjekt über seine soziale Realität hinaus und lässt es mit den Gewissheitswahrheiten zusammenstoßen. Das Subjekt durchquert den Gewissheitshorizont auf etwas Ungewisses. Es berührt die Ungewissheit selbst. Es fällt aus dem Rahmen der Gewissheitssolidität. Zugleich darf sich das Subjekt – sofern es sich als Subjekt behauptet – nicht in der Reaktivität auf die Tatsachensolidität erschöpfen. Es ist erst Subjekt, wenn es riskiert die Überschreitung der Soliditäten selbst zu überschreiten, indem es sich also weigert, Subjekt des einfachen Widerstands, der Negativität und ihrer geläufigen Romantisierungen, zu sein.

11. Subjekt nenne ich – in einer nicht mehr schlicht nietzscheanischen Geste – was Verantwortung für diese Übertreibung und Unschuld übernimmt. Wem gegenüber? Nicht sich selbst gegenüber, solange dieses Sich und dieses Selbst identitäre Merkmale verzeichnen. Denn Subjekt meint hier das Jenseits der Identität, und dieses Jenseits, dessen situativer Platzhalter das Subjekt ist, nenne ich Wahrheit. Das Subjekt übernimmt Verantwortung für eine Wahrheit und gegenüber der Wahrheit seiner Situation. Es ist klar, dass diese Wahrheit der Situation selbst nicht angehört. Man denke an Platons Bestimmung der idéa tou agathou als epéikeina tes ousías: Die Idee des Guten, die Wahrheit, meint das konstitutive Jenseits eines ontologischen Zusammenhangs. Das ist der blinde Fleck jedes konstitituierten und etablierten Systems. Was wäre gewonnen, wenn man hier den „Idealismus“ Vorwurf brächte? Wahrheit ist, was sich der Wissbarkeit verweigert, der Tatsachenidealität! Und Übermut wäre die Bereitschaft einen solchen Widerstand – das Unwissbare selbst – in sein Leben zu integrieren.

12. Philosophie und Kunst bewegen sich als radikale, in keinem allgemeinen Prinzip versicherte Behauptungsformen im Abseits der Ordnung der Machbarkeit, um die Intensität ihrer Behauptungen in einen Unendlichkeits- und Unmöglichkeitshorizont zu stellen, in dem das Subjekt der Absorption durch bloße Interessen oder Neigungen, wie Kant sagt, widersteht.

13. Kunst und Philosophie sind Selbstbeschleunigungsformen eines Behauptungsbegehrens, das die konsensuellen Horizonte der Diskussion, der Argumentation, der Kommunikation, der Erklärung, der Rechtfertigung oder reflexiven Selbstabsicherung durchbricht. Es gibt Kunst und Philosophie nur als diese Durchbrechung. Als Gewalt der Horizontüberschreitung, als Behauptungsgewalt eines Subjekts der Entscheidung. Einer Entscheidung, die den Horizont des Möglichen auf die Dimension des Unmöglichen, die die Dimension der Wahrheit ist, durchsticht.

14. Oft denkt man, Form schaffe Klarheit. Das ist ein Irrtum. Form ist Klarheit, die Unordnung produziert! Chaos. Daher die verbreitete Scheu – in der Kunst wie im Denken – vor der Form. Deshalb die allzu gängige Entscheidung für die Diffusität. Weil das Diffuse mit der Übersichtlichkeit kooperiert, während die Formbehauptung eine Klarheit riskiert, die das Ausmaß faktischer Unübersichtlichkeit nicht verrät.

15. Es gibt Wahrheit in dem Moment, in dem Philosophie und Kunst (neben anderen Behauptungsformen: zum Beispiel der Wissenschaften) das Unmögliche – die reine Virtualität, das Reale oder das Chaos – in der Riskanz der Horizontüberschreitung berühren.

16. Wahrheit ist ein Exzess. Sie überschreitet das nackte Wissen und markiert den Punkt äußerster Unruhe. Die Berührung einer Wahrheit, die das Wahrheitsbegehren von Kunst und Philosophie leistet, ist ruhelose Antastung des Unantastbaren. Es gibt Philosophie und Kunst nur als diese Antastung. Sie fordert vom Subjekt – vom Subjekt der Kunst, vom Subjekt der Philosophie – den Raum des Möglichen, der der Raum der Doxa (der bloßen Meinung) und der von ihr etablierten Tatsachenwahrheiten ist, zu durchqueren und für den Moment der Setzung des Werks – des Kunstwerks oder der philosophischen Behauptung – zu suspendieren. Sie ist Kontaktierung des Chaos, wie Deleuze und Guattari sagen, um in dieser Berührung die präontologische Mannigfaltigkeit des Seienden zu berühren. Das Subjekt dieser Berührung (der Künstler, die Künstlerin) überschreitet sich selbst als Subjekt, solange Subjekt der Name einer gegründeten Entität und eines transzendentalen Konstitutionsprinzips ist. Subjekt ist, was diesen Begriff von Subjektivität überschreitet, um sich selbst setzende Autorität dieser Überschreitung zu sein. Hier liegt seine spezifische Souveränität.

17. Dieses Subjekt taucht im Denken des 20. Jahrhundert als Subjekt des Unzuhause (Heidegger), als Subjekt des Unaussprechbaren und des Wunders (Wittgenstein), als Subjekt des Außen (Blanchot), als Subjekt der Freiheit oder des Nichts (Sartre), als Subjekt des ontologischen Mangels oder des Realen (Lacan), als Subjekt des Chaos oder des Werdens (Deleuze /Guattari), als Subjekt der Desubjektivierung und Selbstsorge (Foucault), als Subjekt des Anderen (Levinas), als Subjekt der différance (Derrida) und als Subjekt des Universellen oder der Wahrheit (Badiou) auf. Es ist ein Subjekt, dessen Subjektivität mit der Dimension des Nicht-Subjektiven zusammen zu fallen scheint: Subjekt ohne Subjektivität.


18. Das Subjekt ohne Subjektivität hat sich auf die Nacht der Nicht-Evidenz überschritten. Es überfliegt den Raum der Tatsachen und ihrer transzendental-historischen Determinanten. Schlafend, träumend, fliegend beschleunigt es dem Unbekannten zu. Der Traum lässt das Subjekt an die Grenze seiner Gegenwart rühren. Im Traum lebt es als wäre es schon tot. Träumend hebt sich das gestorbene und in diesem Sinn abwesende Subjekt in eine Art posthume Lebendigkeit und Präsenz. Die Gegenwart und die Lebendigkeit des Träumenden ist Widerstand gegenüber dem eigenen Verschwinden. Denn das Subjekt des Traums erfährt die Erfahrung der Grenze des Lebens, der Grenze seiner Gegenwart, als eigentliches Leben und als eigentliche Gegenwart. Dieses Leben und diese Gegenwart markieren eine dem bloßen Leben und dem einfachen Tod entweichende Präsenz.

19. Das Subjekt ist Subjekt im Akt der Subjektivierung, die es das Unberührbare berühren lässt. In der Subjektivierung erscheint, was ich absolute Freiheit nenne, ohne dass es notwendig würde die objektive Unfreiheit (Kontextualität, Situativität, Historizität, Politizität usw.) des Subjekts zu leugnen oder zu relativieren. Das Subjekt konstituiert sich als Subjekt in der Dimension realer Materialität und passiver Eingebundenheit in Strukturen und Strukturzusammenhänge, die es selbst nicht kontrolliert. Es ist Produkt einer passiven Genese, und es ist Subjekt des Widerstands. Es widersteht allen Realitäten, die es auf seinen Tatsachenstatus zu reduzierendrohen. Die Verteidigung dieses Subjekts ist weder Verteidigung eines klassischen "Idealismus", noch ist sie "Realismus", der nichts als ein weiterer Idealismus wäre: Idealismus der Tatsachengläubigkeit. Die alte metaphysische Opposition von Idealismus und Realismus bleibt im Verhältnis zu diesem Subjekt nicht intakt. Sie muss überschritten werden, um den Blick zu öffnen auf ein Subjekt, das als Subjekt der Freiheit in realer Unfreiheit persistiert.

20. Es gibt für das Subjekt den Moment der Selbstablösung und Selbstüberfliegung. Das ist der Moment der Selbstkonstitution und Selbstaufrichtung im Akt einer gewissen Desubjektivierung. Das Subjekt hält in diesem Moment zum Aussen als der Dimension der Subjektverschliessung Kontakt.


21. Subjektivierung ist der Name für den Prozess, in dem das Subjekt Kontrolle, Beherrschung, über sich zu erlangen versucht. Es ist der Name für eine Existenzform äußerster Unruhe. Es gibt
Subjektivität nur im Modus einer gewissen Aufgeregtheit. Das Subjekt der Autopoiese ist Subjekt einer absoluten Turbulenz. Es ist Subjekt der Selbstkonstitution, der Freiheit und emanzipatorischen Selbsterhebung, Subjekt irreduzibler Konflikte. Es gibt so etwas wie ein Subjekt nur als Grenzfall des ontologischen Selbstbewusstseins, als Kollaps der Selbstevidenz der überlieferten cartesischen, phänomenologischen oder hermeneutischen Bewusstseinsvorstellung. Als Subjekt der Selbsterhebung beginnt es, sich inmitten der Spezifizität eines historischen, politischen, ökonomischen, kulturellen, geschlechtlichen Zusammenhangs aufzurichten. Es beginnt, gegen das ihm nur Äußerliche zu kämpfen. Es bekämpft in dieser Bekämpfung alles, was aus ihm ein
Produkt fremder Willensäußerungen und faktischer Determinationen macht.

22. Das Subjekt hört nicht auf, sich der Reduktion auf seinen nackten Objektstatus zu erwehren. Es verteidigt sich gegen die Verdinglichung seines Seins durch die Sinn- und Wertstiftungen der Geschichte. Es muss sich von dieser Geschichte lösen ohne den allgemeinen Geschichtsraum, dem es zwingend angehört, verlassen zu können. Das Subjekt ist Subjekt eines wesentlichen Widerspruchs, einer unendlichen und irreduziblen Paradoxie. Ich frage mich, ob die Prozessualität des Subjekts (seine Geschichtlichkeit) es notwendig in der Empirizität oder Historizität einschließt, die alle Wahrheit und jede Universalität verneint. Könnte das Wesen des Subjekts nicht darin liegen ohne Wesensbestimmung zu sein? Das Subjekt, das ich zu denken gebe, wäre Subjekt dieses Ohne, Subjekt ohne Subjektivität.


23. Das Subjekt, das ich verteidige, ist ein kopfloses, substantiell blindes Subjekt seiner Kopflosigkeit. Hyperbolisches Subjekt der Selbstüberschreitung und Selbstbehauptung in aggressiver Selbstentgrenzung. Es gibt so etwas wie Behauptung und Selbstbehauptung nur für ein ursprünglich enthauptetes, azephalisches, und in diesem Sinn entgrenztes Subjekt.

24. Eines der verstörendsten Phänomene der Gegenwart“, sagt Toni Negri, „ist, dass alle Welt von sich meinen muss, Künstler zu sein. Alle glauben, Augen zu haben, mit denen sich die Oberfläche der Welt, die uns umgibt, durchdringen lässt. Es gilt, reale intellektuelle und körperliche Fähigkeiten und die Intensität der Leidenschaften, die Beharrlichkeit bei einem Proj„ekt oder die Bereitschaft zur Konfrontation mit der Wirklichkeit nicht zu verwechseln mit den kleinen zufälligen Tagträumen, wenn man in die Sonne blinzelt.“ Negri unterscheidet vier Bedingungen von Kunst und, wie ich hinzufügen will, von Philosophie: 1. Reale intellektuelle und körperliche Fähigkeiten, 2. Intensität der Leidenschaften, 3. Beharrlichkeit, 4. Konfrontation mit der Wirklichkeit. Ich werde diesen vier Bedingungen eine fünfte hinzufügen. Sie markiert das hyperbolische Moment von Kunst und Philosophie: 5. Die Bereitschaft zu bezahlen. Es kostet immer mehr, als man zahlen kann. Man bezahlt immer zu wenig, in der Kunst wie im Denken, und dennoch ist es notwendig, mehr zu zahlen als nötig, mehr als man bezahlen kann. Das Subjekt der Kunst überfliegt seine Möglichkeiten und tritt mit dem Unmöglichen in Kontakt. Es erhebt sich im Raum seiner objektiven Unfreiheit. Es ist Subjekt der Selbstaufrichtung: autoerektives Subjekt.

25. Bezahlen heißt mehr bezahlen. Mehr bezahlen verlangt Mut. Das ist der Mut zum Übermut. Übermut ist die Bewegung, die das Subjekt über seine faktische Demut hinaustreibt. Demut entspricht der der übermütigen Behauptung zugrundeliegenden Einsicht, dass es ein Subjekt nur als Subjekt objektiver Ohnmacht geben kann. Ohnmacht, Unfreiheit und eine gewisse Angst konstituieren die Normalität des Subjekts, seinen Primärnarzissmus. Demut ist Einklang mit dem Normalen. Der Selbstaufrichtungsmut widersteht der Angst. Angst ist eine Form der Ökonomie: Sparsamkeit.

26. Mit Deleuze und Guattari spricht Negri diesen Übermut als Überfliegen an. Kunst und Philosophie verbindet das Überfliegen der konstituierten Wirklichkeit, des Tatsachenraums. Immer geht es um die „Konstruktion eines Menschen, der das Reale [die Realität] überfliegen kann“. Wie man weiß, hat Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781 / 87) ein gewisses Flugverbot ausgesprochen. Es richtet sich gegen die dogmatische vorkritische Metaphysik (Leibniz, Wolff, Baumgarten etc.). Die Philosophie, sagt Kant, kann nicht von Gott oder der unsterblichen Seele handeln, wie von Sichtbarkeiten des Alltags. Gott, die Seele, die Welt als Seinstotalität sind unsichtbar. Sie sind nicht durch Sinnlichkeit,
d.h. durch subjektive Anschauungsformen, vermittelt. Das Denken aber, so Kant, ist Denken in Begriffen, deren Gehalt durch die Sinnlichkeit, das Rezeptions- oder Empfangsvermögen, vorgegeben ist. Ein Denken, das die Sinnlichkeit überfliegt, wäre unzulässig und leer. Was aber, wenn diese Leere zur Bedingung der Möglichkeit des Denkens gehört? Ist es nicht das, was Deleuze / Guattari und Negri Überfliegen nennen: die Berührung dieser Dimension der Leere16, die sich der Manifestation in Phänomenen sperrt. Es gibt Philosophie nur als Kontakt mit einer irreduziblen Leere, die es nicht auszufüllen, aber anzunehmen gilt. Das Annehmen der Leere ist ein Akt der Freiheit, der das Subjekt
inmitten seiner Realität auf ihre Grenzen zubewegt.

27. Dem philosophischen Körper, dem Körper der Freiheit, entspricht die Akrobatik seiner Grenzberührungen. Es ist athletisches Subjekt. Sein Körper ist 1. Körper des Überflugs: Statt sich den Tatsachenimperativen zu beugen, verletzt er das kritische Flugverbot Kants. Das Subjekt hält Kontakt zur Sinnlichkeit, indem es die Grenzen der Sinneswelt erfährt; 2. Körper der Autoerectio: Er widersteht der narzisstischen Versuchung zur triumphalen Selbstverkleinerung und „Demut“. Narzissmus ist Selbsteinmauerung des Subjekts in seiner Unfreiheit. Dagegen verlässt das Subjekt der Selbst- und Wahrheitsbehauptung die Festung der Innerlichkeit, um in der Erfahrung der Inkommensurabilität sein objektives Sein (seine Identität und seinen Opferstatus) zu transzendieren; 3. Körper der Selbstüberschreitung: Der primordial auf seine Grenzen, die Sinn- und Weltverschließung, geöffnete Körper der aporetischen Transzendenz.

28. Als Körper des Überflugs, der Autoerectio und Selbstüberschreitung erstreckt sich der Körper der Freiheit auf die Dimension unmöglicher Freiheit. Er bezeugt die Abwesenheit der Dinge, das Verschwinden von Welt, solange Ding und Welt auf eine präsentische Gegenwart verweisen, auf einen vertrauten ontologischen Zusammenhang. Freiheit heißt nicht, dass Dinge vorkommen und dass es Welt oder einen Weltzusammenhang, gibt. Freisein bedeutet, ohne Welt, ohne einen solchen Zusammenhang, zu existieren. Deshalb ist die Erfahrung der Freiheit an die Erfahrung eines gewissen Selbstverlusts und einer gewissen Selbstenteignung gebunden. Sie ist Erfahrung des Fremden oder Ungeheuren, der Unvertrautheit selbst. Das Subjekt der Selbstaufrichtung ist Subjekt der Differenz von Liebe und Sentimentalität. Es ist Subjekt der Selbstbekämpfung. Es muss die Sentimentalität bekämpfen, das kleine Gefühl und seine verkleinernden Effekte, um Subjekt der Liebe, ihrer Wucht, Intensität, Grausamkeit und Unendlichkeit zu sein. Das Subjekt der Liebe berührt das Reale oder das Außen, um in dieser Berührung etwas anderes zu werden als es ist. Statt sich selbst zu lieben und sich im narzisstischen Selbsthass der Selbstliebe einzumauern, beginnt es sich in der Berührung des Unberührbaren gegen sein aktuelles Selbst als Selbst der Liebe (das heißt der Berührung des Anderen) aufzurichten.

29. Es erfordert mehr Mut zu lieben (die Berührung des Unberührbaren zu wagen) als zu respektieren (das heißt die Andersheit des Anderen durch überhastete und immer verängstigte „Verbrüderung“ zu neutralisieren). Der Respekt erhält sich durch eine Art furchtsamer Distanz. Das ist die Distanz der Verbrüderung. Zu lieben bedeutet, diese Distanz aufzugeben, eine befremdliche Identifikation mit einer realen Alterität zu wagen, ohne faktische Verschiedenheiten, objektive Unterschiede, tatsächliche Multiplizität, ohne die absolute Inkommensurabilität des Anderen zu leugnen, zu entschärfen oder zu ignorieren. Das Subjekt der Philosophie und das Subjekt der Kunst sind Subjekte dieser identifikatorischen Liebe und der Gewalt, die zu dieser Liebe gehört. Philosophie und Kunst sind Bewegungen des Überschwangs, der Selbstüberstürzung und Selbstverschwendung, die objektive Differenz bejahen, um absolute Nachbarschaft zu affirmieren. Die bloße Differenzierung ist nur negativ. Sie entspricht den Mechanismen der Abgrenzung, Ausschließung und Negation. Philosophie und Kunst sind affirmative Bewegungen der Überschreitung des Negativen. Philosophie und Kunst wollen in größtmöglicher Nähe zum Unbegreiflichen oder Inkommensurablen eine Art exzessiver Nachbarschaft mit dem Anderen wagen, die blinde Intimität mit dem Unmöglichen, kopflose Liebe zu dem, was die eigenen Grenzen und Möglichkeiten übersteigt.

30. Das Subjekt der Kunst und der philosophischen Liebe affirmiert sich als Subjekt seines Willens und seiner Liebe zur Selbstaufrichtung. Es bekämpft die Normalität des Unentscheidbaren, um im Verhältnis zu seiner Normalität anormal zu werden. Es ist Subjekt einer elementaren, sein Sein erschütternden Perversion. Inmitten der Unentscheidbarkeit (die es weder leugnet noch verharmlost) wird es sich als Subjekt seiner Entscheidungen behaupten. Denn der „Realismus“ des Subjekts der Selbstaufrichtung ist nicht der „Realismus“ des Tatsachenglaubens. Der Raum der Tatsachen, der seine eigene Unentscheidbarkeit und Unübersichtlichkeit hat, beschränkt sich auf die objektive Situation (des Subjekts). Zur Situativität des Subjekts gehört mehr als die Faktizität der es durchziehenden Determinanten, Gesetze und Strukturen. Das Subjekt ist mehr als Produkt seiner Geschichte. Es erschöpft sich nicht in einem wie immer gedachten Objektstatus. Das Subjekt hat die Kraft (deshalb heißt es Subjekt) etwas radikal anderes als ein Objekt zu sein. Es ist mehr als ein Subjekt, das Objekten entgegensteht. Die Situativität des Subjekts ist die Szene einer permanenten Selbstüberschreitung. Subjekt ist, was an sich selber kollabiert.

31. Der Tatsachenraum umreißt die Dimensionen der Doxa, der Interessen, Relativismen und Illusionen, die den Kontakt zur Wahrheit des Realen verhindern oder erschweren. Doxa ist das Wort für die Meinung, die keine Wahrheit ist. Dennoch gehört zur Doxa, dass sie als Wahrheit auftritt. Die Doxa scheint eine Wahrheit zu sein. Sie ist eine in der Realität erfolgreiche Illusion: Tatsachenwahrheit, um nicht Wahrheit des Realen zu sein. Eine Tatsachenwahrheit hat keinen anderen Sinn als Wahrheit zu verhindern. Deshalb ist das Subjekt der Tatsachenwahrheit Subjekt des Zynismus, der Depression, des Narzissmus und seiner selbstanklägerischen Larmoyanz.

32. Sich auf Tatsachen berufen bedeutet, der Möglichkeit von Wahrheit durch Insistenz auf ihre Unmöglichkeit vorzubeugen. Tatsachen sind Unwahrheiten, die man erfindet, um Wahrheiten zu denunzieren. Auf Tatsachen berufen sich Subjekte, die keine Subjekte sein wollen. Tatsachensubjekte sind Subjekte einer kontinuierlichen Selbstverleugnung. Das Tatsachensubjekt bezieht sich auf sich selbst wie auf ein Ding. Es ist Subjekt selbstgewollter Ohnmacht: Subjekt der Angst.

33. Kunst und Philosophie entbehren jeglicher Tatsachenevidenz. Kunst und Philosophie müssen eine andere Evidenz verteidigen und behaupten. Die Evidenz der Kunst liegt in der Berührung der Grenze des Tatsachensystems. Das Reale benennt diese Grenze, das konstitutive Außerhalb der Tatsachenrealität. Es ist, was dem realistischen Kalkül – der Ökonomie der Doxa – eine wesenhafte Inkonsistenz einschreibt. Die Berührung des Realen ist Erfahrung dieser Inkonsistenz, Erfahrung des Schwachpunkts des Tatsachensystems. Kunst weigert sich im Raum der Verschleierung des Realen an dieser Verschleierung teilzunehmen, sie widersteht dem Imaginären während sie einer Wahrheitsberührung Form zu geben versucht. In diesem Sinn ist Kunst die Versuchung des Unmöglichen.20 Denn das Reale ist das Unberührbare, es markiert die Grenze jeglicher Kompetenz. Tatsachenwelt nenne ich die Welt der etablierten Grenzen, Rituale, Symbole, Gesetze, Verbote und Regeln. Kunst in der Tatsachensphäre ist Kunst in der Unwahrheit des Symbolischen und Imaginären. Sie muss sich gegen die Gewalt des Symbolischen und die Gewalt des Imaginären zugleich behaupten. Philosophie und Kunst sind Behauptungsgewalten, die den Raum der Tatsachengewalt mit dem Ziel einer Wahrheit vor Augen durchqueren. Es gibt kein Jenseits der Realität, sofern wir Realität und Tatsachenwelt identisch setzen. Dennoch ist es notwendig auf der Berührung einer Wahrheit jenseits der Tatsachengewissheiten zu bestehen. Kunst und Philosophie im Tatsachenraum bedeutet: Kunst und Philosophie im Universum der Vorschriften. Eine Wahrheit und eine Form behaupten, bedeutet sich den Vorschriften zu widersetzen, etwas anderes als das Erwartete zu tun. Eine Wahrheit geschieht immer dann, wenn die Rechnung der Tatsachenmathematik nicht aufgeht, wenn das Kalkül vom Nicht-Kalkulierbaren und der Pragmatismus der richtigen Entscheidungen von der Macht des Nutzlosen heimgesucht werden: wenn also die Evidenz der Realitäten unter dem Druck einer Wahrheit explodiert.