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MARCUS STEINWEG
 

SCHREIBEN, NICHT LITERATUR!

Marguerite Duras
Es gibt Schreiben nur als vagabundierende Schrift an der Grenze des Erzählbaren, als Überschreitung von Literatur. Wenn “ich schreibe”, sagt Duras, “habe ich das Gefühl, aufs äußerste dekonzentriert zu sein, ich besitze mich überhaupt nicht mehr, ich bin selbst ein Sieb, habe einen durchlöcherten Kopf.”

Ihre Sprache an den Rand des Kommunizierbaren zu treiben, ist, was Duras Schreiben nennt: Schreiben, nicht Literatur. Man muss die Verstehbarkeit eines Textes von seiner Klarheit unterscheiden. Dem Schreiben geht es um Klarheit, nicht um Verständlichkeit. „Ob meine Bücher schwierig sind, ist es das, was Sie wissen möchten?“, fragt Duras im Gespräch mit Jérôme Beaujour, und antwortet: „Ja, sie sind schwierig. Und einfach. Der Liebhaber, das ist sehr schwierig. Die Krankheit Tod, das ist schwierig, sehr schwierig. Der Atlantik Mann, das ist schwierig, aber so schön, daß es nicht schwierig ist. Selbst wenn man es nicht versteht. Verstehen kann man diese Bücher ohnehin nicht.“

Klarheit ist nicht Verständlichkeit. Klar sein, bedeutet der Öffnung aufs Unbekannte mit Sprache zu antworten, und Sprache ist nicht Kommunikation. Die Differenz von Literatur und Schreiben ist die Differenz von Verständlichkeit und Klarheit. Literatur zielt auf Verständlichkeit, Schreiben auf Klarheit. Literatur hält sich im Sag-, Beschreib- und Besitzbaren. Schreiben heisst, die Dimension des Unbeschreibbaren, die die Dimension des Unbesitzbaren ist, aufzusuchen, um die Grenzen der Sprache zu berühren. Sie ist Dimension des Ungesagten, das als Schrei oder als Schweigen in die Sprache ragt.

Es gibt Sprache nur als Geöffnetheit auf ein Schweigen, das die Schreibbewegung auf den Nicht-Sinn verlängert über den Sinn- und Bedeutungshorizont hinaus: „Schreiben wäre: vom vollen Sinn ausgehen, sich von ihm überwältigen lassen und bis zum Nicht-Sinn vorstoßen“. Schreibend vollzieht das Subjekt eine Sinnüberschreitung, die aus ihm ein Subjekt der Selbstüberschreitung macht: „Schreiben wäre außerhalb unserer selbst.“ Im Kontakt mit dem Aussen verliert das Subjekt die Option der Selbsteinschliessung in einer wie immer imaginierten Innerlichkeit. Es bricht aus seinem Ich-Phantasma als etwas Fremdes und Unheimliches hervor.

Das ist die Wildheit des Schreibens, dieses Herausbrechen des Subjekts aus seiner Subjektform. Es kann ein Subjekt nur als Überschreitung der Subjektform geben, als Selbstenteignung, als desappropriative Überschreitung, die es mit der Leere seiner Freiheit konfrontiert. Man schreibt nicht, wenn man die Berührung dieser Leere meidet, man verwaltet sein Vermögen, man macht Literatur. Das Schreiben aber ist „zum verrücktwerden“, zwingt das Subjekt aus seiner narzisstischen Behausung aufs Unbekannte hin. Schreibend rührt es an sein Unbewußtes, an seinen Schatten, an seine Nacht. Der innere Schatten (ombre interne) ist Duras’ Name für den Subjektkern. Das Subjekt wird von einer Undeutlichkeit bewohnt, es ist mit dem Inkommensurablen in Kontakt. Selbsterfahrung ist Erfahrung dieser Undeutlichkeit, die „ich“ bin.

Wie Bataille, Blanchot, Sartre und Lacan gezeigt haben, ist die Erfahrung des Heterogenen, des Außen, der Kontingenz und des Realen, eine das Subjekt aus seiner interioren Sekurität reissende Grenzerfahrung. Es verliert sich als Subjekt der Selbst- und Weltkontrolle und stürzt aus seinem „Wesen“. Es erlebt den Schrecken seiner Entsubstanzialisation. Die Erfahrung des Schreibens ist von der Erfahrung einer gewissen Gewalt untrennbar, die das Subjekt seiner selbst beraubt: dekonzentriert. Deshalb verbindet Lacan seinen psychoontologischen Status mit der Hysterie. Weil die Hysterie eine „um einen Signifikanten, der hinsichtlich seiner Bedeutung rätselhaft bleibt, zentrierte Frage“ ist, erfährt sich das Subjekt nur im Modus einer Art existentiellen Hysterie. Bezogen auf die äussersten Enden seiner Existenz, überschreitet es die Grenzen der imaginären Selbsterfahrung auf die implizite Grenze seiner existenziellen Signifikanz.