SINGULARITÄT UND WAHRHEIT
Eine philosophische Ethik, die das Subjekt gegen sich beschleunigt, die von ihm verlangt, sich in seiner Ohnmacht auf sich zu beziehen, verweigert sich der mystischen und hyperrationalen Naivität. Sie besteht auf der Notwendigkeit, sich vor sich zu verantworten. Sie insistiert auf der aussermoralischen Notwendigkeit des Subjekts, ”in seinem eigenen Namen vor dem Unmenschlichen zu entscheiden und zu denken” , um das Drama seiner exzessiven Freiheit zu realisieren.“Welches ist unsere Ethik, wie produzieren wir eine künstlerische [eine ethisch-ästhetische] Existenz, welches sind unsere Subjektivierungsprozesse, die nicht auf unsere moralischen Codes reduzierbar sind?”, fragt Deleuze mit Foucault. Diese Frage impliziert eine Reihe weiterer Fragen: die Frage des Namens, des Im-eigenen-Namen ebenso wie die Frage des Subjekts, eines neuen und anderen Subjekts, das weder Deleuze noch Foucault noch Derrida mit dem alten Namen des universalen, transzendentalen, autonomen, selbstbewussten usw. Subjekts ansprechen wollen. Sie impliziert die Frage der Verantwortung angesichts dessen, was Verantwortung verunmöglicht, erschwert oder behindert: die Moral, die Religion, das Gesetz.
Sie fragt nach einer Existenz, die sich selbst hervorbringt, die sich im Akt einer nahezu künstlerischen Hervorbringung (Autopoiesis) realisiert. Sie stellt also die Frage nach dem Subjekt-Werden und sie wird von der Überzeugung getragen, dass die durch Subjektivierungsprozesse konstituierte Subjektivität nur als Werdensprozess eine verantwortliche Permanenz ausbildet: Das Subjekt muss erneut verschwinden, um wiederzukehren, und wieder zu verschwinden. Es gibt Subjektivität nur als Modus eines Werdens, das jede Subjektbildung begleitet, herausfordert und destabilisiert.
Dennoch zielen die Subjektivierungsprozesse, auch wenn sie weder das personale noch irgendein anderes identitäres Subjekt (im klassischen Sinn) hervorbringen oder bestätigen, auf die Möglichkeit eines Eigennamens, der den Agenten und Träger verantwortlicher Akte markiert. Denn im eigenen Namen zu entscheiden und zu denken, bedeutet nicht weniger, als verantwortlich zu sein. Dass niemand das Recht hat, im Namen der Anderen zu sprechen, darin erblickt Deleuze eine der wesentlichen Lektionen der philosophisch-politischen Praxis Foucaults.
Das ”Subjekt” muss entscheiden und es muss handeln. Es wählt, was es wählt, angesichts dessen, was Foucault die Macht und Derrida im Hinblick auf ihre äusserste und grausamste Zuspitzung das Schlimme und Schlimmste (le plus pire) nennt. In seinem eigenen Namen. Das heisst im Namen einer Freiheit, die seine nichtveräusserliche, unabtretbare Freiheit zur Verantwortung ist.
Nur in diesem Sinn kann von einer ”Rückkehr der Ethik” oder ”des Religiösen” (im ausserreligiösen Sinn) gesprochen werden: solange es um die Frage der Verantwortung des Einzelnen als Subjekt, als singuläre politische Kraft und Autorität von Entscheidung geht. Im Gesichtskreis dieser Frage kann weder die Rationalität, ihre Dringlichkeit und ihre Unverzichtbarkeit, noch die unausbleibliche, in einem tiefen Sinn notwendige Heimsuchung des rationalen Subjekts durch einen gewissen Schwindel, der vielleicht nichts anderes als der Taumel des Rationalen selbst ist, bestritten werden.
Die Rekonstitution des Subjekts sollte weder durch die Entschärfung seiner logischen Konsistenz noch durch die Verharmlosung einer dieser Konsistenz nicht schlicht opponenten Hyperbolik, erleichtert werden. Das Subjekt kann nur Instanz eines irreduziblen Widerstreits sein. Es artikuliert den Widerstreit mindestens zweier Ordnungen, des Transparenten und des Opaken, der lichtvollen Evidenz und ihrer Verdunkelung in der Erfahrung des Unvorhersehbaren, des Ereignisses, der Überraschung, des Unbewussten oder der Kontingenz.
Derrida unterscheidet drei Aporien des Politischen oder der Entscheidung: 1. ”Die Epoché der Regel” (jede echte Entscheidung ist immer auch regellos, muss immer auch ”ohne Regel auskommen”), 2. ”Die Heimsuchung durch das Unentscheidbare” (es gibt keine Entscheidung ohne das ihr immanente Unentscheidbare), 3. ”Die Dringlichkeit, die den Horizont des Wissens versperrt” (damit es Entscheidung gibt, muss die Klärung ihrer Bedingungen endlich, d. h. begrenzt und unzureichend sein. Es gibt keine Entscheidung, die nicht auch überstürzt wäre).
Man darf die politische Dimension, die die Dimension solcher Entscheidung ist (einer zuletzt unkontrollierbaren und wahnsinnigen Bewegung des Subjekts), nicht mit dem Staat und seiner Sesshaftigkeit identifizieren. Im Staat gefriert die Möglichkeit zur autonomen Entscheidung, der Staat ist unpolitisch in genau diesem Sinn. Rancière: ”Allgemein benennt man mit dem Namen der Politik die Gesamtheit der Vorgänge, durch welche sich die Vereinigung und die Übereinstimmung der Gemeinschaften, die Organisation der Mächte, die Verteilung der Plätze und Funktionen und das System der Legitimierung dieser Verteilung vollziehen. Ich schlage vor, dieser Verteilung und dem System dieser Legitimierungen einen anderen Namen zu geben. Ich schlage vor, sie Polizei zu nennen.”
Der Staat ist diese Maschine der Selbstlegitimierung, d.h. in der Terminologie Rancières: die Polizei. (Rancière selbst unterscheidet zwischen Staat und Polizei!). Er ist indifferent in seinem Interesse. Er ”ist der Existenz einer an die Wahrheit reichenden Politik gegenüber gleichgültig oder feindlich gesinnt. [...] Seinem Wesen nach bleibt der Staat der Gerechtigkeit gegenüber gleichgültig. Und umgekehrt, jede Politik, die ein Denken in actu ist, verursacht, je nach Stärke und Ausdauer, ernste Unruhen im Staat.” Seine Gleichgültigkeit gegenüber der Gerechtigkeit (dem gegenüber, was Badiou das ”egalitäre Axiom” nennt) macht den Staat unpolitisch. Er bezieht seine Souveränität aus dieser wesenhaften Apolitizität, aus der subjektlosen Verwaltung der etablierten Situation.
Das Subjekt trägt Verantwortung für eine vielleicht neue Gerechtigkeit, für ein Gerechtigkeitsaxiom. Es praktiziert seine Wahrheit, indem es sich zum singulären Träger von universalen Entscheidungen macht. Es entscheidet für Entscheidungen, die ein Moment von Unwägbarkeit oder Unentscheidbarkeit implizieren:
”Eine gerechte, angemessene Entscheidung ist immer sofort, unmittelbar erforderlich, ‚right away‘. Sie kann sich nicht zuerst eine unendliche Information besorgen, das grenzenlose Wissen um die Bedingungen, die Regeln, die hypothetischen Imperative, die sie rechtfertigen könnten. Selbst wenn sie über ein solches Wissen verfügen würde, selbst wenn sie sich die hierzu nötige Zeit liesse und das notwendige Wissen sich aneignete, so wäre trotzdem der Augenblick der Entscheidung – so wäre trotzdem dieser Augenblick als solcher stets ein endlicher Augenblick der Dringlichkeit und der Überstürzung; zumindest, wenn man voraussetzt, dass er nicht die Konsequenz oder die Wirkung dieses theoretischen oder historischen Wissens, dieses Nachdenkens oder dieser Überlegung sein kann – sein darf, und dass er immer eine Unterbrechung der juridisch-, ethisch- oder politisch-kognitiven Überlegung, die ihm vorausgehen muss und vorausgehen soll, darstellt. Der Augenblick der Entscheidung ist, wie Kierkegaard schreibt, ein Wahn.”
Das Subjekt ist das Subjekt dieses Wahnsinns, Agent einer Überforderung, die von ihm verlangt, das nahezu Unmögliche zu tun. Es handelt, ohne den Grund und das telos seines Handelns sichern zu können. Es riskiert eine wesenhafte Überstürzung, die jede seiner Regungen endlos singularisiert: ”Denn die Singularität ist eigentlich immer dort, wo sich die Stätte der Entscheidung befindet, und jede Entscheidung ist als wahre Entscheidung letztendlich eine einzigartige Entscheidung. Genau genommen gibt es keine allgemeine Entscheidung, und insofern das, was eine Wahrheit einführt, oder das, was zu einer Wahrheit verpflichtet, oder das, was sich auf einen Fixpunkt stützt, der Ordnung der Entscheidung angehört, gehört es immer auch schon der Ordnung der Singularität an.”
Vom Subjekt zu sprechen, sei es, um seine moderne Gestalt und ihre überlieferten Prädikate (Selbstbewusstsein, Freiheit, Souveränität, Autonomie etc.) im Aufweis seiner transzendentalen Verrücktheit zu dekonstruieren, sei es, um es mit der unabweisbaren Verpflichtung zum Urteil, zur Entschlossenheit und ihrer rationalen Begründung zu konfrontieren, erfordert, das Subjekt als Schauplatz des unentscheidbaren Konflikts von Entschiedenheit und Unentscheidbarkeit, Autonomie und Heteronomie, Überstürzung und Aufschub zu reflektieren. Ich nenne diesen Konflikt den Krieg der différance.
Mit der différance artikuliert Derrida nicht den einfachen Aufschub der Entscheidung, die Begrenztheit und Endlichkeit des Wissenshorizonts. Die différance nennt den Konflikt dieses Aufschubs mit der Unaufschiebbarkeit (der Entscheidung), so dass man sagen kann, dass der Aufschub seine eigene Unaufschiebbarkeit und die Unaufschiebbarkeit ihren eigenen Aufschub implizieren. Ein bekanntes Missverständnis hat dazu geführt, Derrida zum Philosophen der einfachen Zögerlichkeit und postmodernen Entpolitisierung zu machen. Dieses Missverständnis, das Ergebnis einer überstürzten Derrida-Lektüre ist, lässt sich als Argument für die mit dem Motiv des Aufschubs verbundene dekonstruktive Ethik der Lektüre positivieren. Gleichzeitig sollte man nicht vergessen, dass Dringlichkeit, Unaufschiebbarkeit und Überstürzung in allen Phasen von Derridas Denken nicht nur als ”notwendiges Übel”, sondern als Strukturmerkmale der vektoriellen Überspitzung, der Hyperbolizität des (philosophischen und dekonstruktiven) Subjekts (Derrida sagt nicht Subjekt!) erscheinen.
Die Staatssphäre markiert den unpolitischen Raum einer Souveränität, die sich – demokratisch oder nicht – auf die Verhinderung illegitimer Entscheidung (aber Entscheidung gibt es nur jenseits der Legitimation!), das heisst auf die Sicherung ihrer selbst als ausschließliche Autorität von Entscheidung, konzentriert. Deshalb ist staatliche Souveränität tautologisch. Sie ist selbstaffektiv, während politische Souveränität die Intervention ins staatliche Lustprinzip impliziert. Politik hat die Einklammerung der staatlichen Souveränität zur Bedingung ihrer selbst als souveräner Wahrheitspraxis, das heisst ihres Kampfes um Gerechtigkeit gemacht. Denn der ”moderne Staat zielt nur darauf hin, gewisse Funktionen auszuüben oder einen Meinungskonsens zu erreichen. Seiner subjektiven Dimension nach begnügt er sich damit, die ökonomische Notwendigkeit, das heisst die objektive Logik des Kapitals in Resignation oder Ressentiment zu verwandeln, mit dem Ergebnis, dass jede programmatische oder staatliche Definition der Gerechtigkeit diese in ihr Gegenteil verkehrt: Die Gerechtigkeit tritt nur noch als Harmonisierung verschiedener Interessen auf.”
Wenn das Interesse der Politik, insofern sie sich als Politik der Wahrheit im Sinne Badious definiert, im interesselosen Einsatz für Gerechtigkeit jenseits des Interesses, für Gerechtigkeit als Axiom, besteht, muss das politische Subjekt sich von der Autorität des Staates emanzipieren. Die Verantwortung, die sich mit der politischen Souveränität verbindet, impliziert diese Emanzipation des politischen Subjekts von der staatlichen Souveränität, die es als Einschränkung und Normierung von politischer Verantwortung versteht. Indem der Staat die Verlangsamung der subjektiven Tempi eines rasenden Gerechtigkeitsverlangens beschleunigt, ist er um die Ausbremsung der politischen Kräfte bemüht, die seine Integrität als Distributions- und Äquivalenzmaschine in Zweifel ziehen.
In der Unterscheidung der beiden Souveränitäten, der staatlichen von der politischen, spiegelt sich auch der Konflikt zwischen territorialisierender (bzw. reterritorialisierender) und deterritorialisierender Gewalt im deleuze’schen Dispositiv. Das Denken der Fluchtlinie denkt sich als politische Alternative zur Apolitizität des Systems. Es zeigt, ”dass die Politik als ein Denken nicht an den Staat gebunden ist, sich nicht in ihrer staatlichen Dimension zusammenfassen oder reflektieren lässt. In einer etwas groben Formulierung kann dieser Sachverhalt auch so ausgedrückt werden: Der Staat denkt nicht. Dies ist ein dem Staat eigenes Merkmal.”
Damit die politische Souveränität als eine Praxis des Denkens, also der Bewegtheit oder Deterritorialisierung möglich ist, muss sie sich vom Staat lösen, um ein eigenes Modell von Gerechtigkeit zu installieren. Das politische Subjekt tritt mit dieser Emanzipation erst als Subjekt in Erscheinung, da es sich im Akt der Lossagung vom staatlichen Paradigma zur Singularität der absoluten Souveränität befreit. Während die staatliche Gewalt objektiv umfassend ist, kann die politische Gewalt als ein Moment absoluter, d. h. unbegrenzter Freiheit auftreten, ohne dass damit die Eingebundenheit des politischen Subjekts in die objektive Sphäre des Staates und der von ihm verwalteten Koordinaten verdrängt würde. Das politische Subjekt bezieht seine Souveränität aus der Distanz der absoluten zur objektiven Freiheit. Es konstituiert sich im Widerstand gegen den Staat und der von ihm verwalteten Norm: “Staat bedeutet Souveränität. Aber die Souveränität herrscht nur über das, was sie verinnerlichen, sich räumlich aneignen kann.”
Die politische Souveränität drückt zunächst nichts aus als das Subjekt in Freiheit. Ein Subjekt jenseits der normativen polis, ein über- oder apolitisches, wildes und amorphes, idiotisches Subjekt, das die Wahrheit des Politischen vor den Ansprüchen des Staates zu schützen versucht. Wie in der deleuzianischen materialistischen Ontologie insgesamt, geht es auch in der Frage nach dem Politischen im Verhältnis zum Staatsapparat um Geschwindigkeitsbezüge.
Aber die Philosophie kann nicht aufs Unbedingte verzichten. Sie benötigt den Reiz des Dringlichen und Nicht-Dekonstruierbaren, um der abgründigen Banalität der Warenzirkulation, der nihilistischen Kommunikativität, der kapitalistischen Geldabstraktion und des allgemeinen Sicherheitsdenkens ebenso wie den falschen Figuren des Heiligen, der irreduziblen Andersheit und des Gotthaften, zu widerstehen. Deshalb geht es ihr, wie Badiou sagt, um die Errichtung eines gewissen ”Fixpunktes”, um die Unverzichtbarkeit einer Wahrheit, die das Produkt einer immer singulären Behauptung ist.