SUBJEKTSINGULARITÄTEN (2004)

Der erste Satz der Vorrede zur ersten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft (1781) zeichnet das Bild zerrissener Subjektivität: ”Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.”
Zur Natur der Vernunft – zum Sein des Menschen – gehört die Unabweisbarkeit von Fragen, die sie übersteigen. Die Vernunft nimmt sich in die Pflicht, indem sie sich zum Schauplatz konstitutiver Selbstüberforderung macht. Das ist ihr ”Schicksal”, sagt Kant, zumindest ”in einer Gattung ihrer Erkenntnisse”: daß sie sich durch sich gefordert findet, mehr zu leisten als sie faktisch leisten kann. Denn die Fragen mit denen sie sich bedrängt und in ”Verlegenheit” bringt, ”übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft”.
Es sind unmenschliche Fragen. Fragen, die das Sein des Menschen an seine notwendig unentscheidbare Grenze treiben. Fragen, die das Subjekt überschreiten und als überschrittenes verfinstern. Fragen, durch die die Vernunft ”sich in Dunkelheit und Widersprüche” stürzt, ”aus welchen sie zwar abnehmen kann, daß irgendwo verborgene Irrtümer zum Grunde liegen müssen, die sie aber nicht entdecken kann, weil die Grundsätze, deren sie sich bedient, da sie über die Grenze aller Erfahrung hinausgehen, keinen Probierstein der Erfahrung mehr anerkennen. Der Kampfplatz dieser endlosen Streitigkeiten heißt nun Metaphysik.”
Vernunft ist Selbsterfahrungs- als Selbstzerreissungs-Vernunft. Sie macht die Erfahrung der Grenze aller Erfahrung, ihrer Unmöglichkeit. Sie erfährt sich selbst als Grenze oder als Grenzfall, insofern, wie Kant auch sagt, die Metaphysik ”als Vollendung der Kultur aller menschlichen Vernunft” zur Vernunft selbst gehört. Die Selbstartikulation der Vernunft ist schon ”metaphysisch” in dem Sinn, in dem Metaphysik, wie die Prolegomena sagen, ”in der Naturanlage der menschlichen Vernunft gegeben ist”. Die transzendentale Dialektik (als zweite Abteilung der transzendentalen Logik) ist der eigentliche Ort der Inszenierung der Metaphysizität der Vernunft als transzendentaler Selbstüberforderung. Dennoch arbeitet das Buch im Ganzen – während es zwei Irrwege gleichzeitig bekämpft (den Weg der Träumerei oder Gespensterseherei des dogmatischen vorkritischen Rationalismus und den Weg der empiristischen und immer quietistischen Tatsachenanbetung) – für die Konstitution eines Subjekts jenseits der falschen Alternativen von ”Rationalismus” und ”Empirismus”, Idealität und Realität.
Vielleicht ist dieses Subjekt der Selbsterfahrung weniger entfernt von der Konzeption eines neuen Subjekts bei Nietzsche, dessen entscheidendes Merkmal die Kraft und der Wille zur Affirmation der ewigen Wiederkehr ist, als man gewöhnlich annimmt. Auch dieses Subjekt ist Subjekt der Selbstüberforderung und Subjektüberdrehung: Subjekt einer gewissen Selbstenthauptung oder Selbstenthausung. Lou Andreas-Salomé sagt von ihm, dass es ”sich selbst obdachlos” macht, als ein Subjekt des Werdens und seiner Bejahung, das sich abseits seiner Vermögen behaupten muss. Subjekt, das in der neueren Philosophie als Subjekt der Ekstasis (Heidegger), Subjekt der Freiheit (Sartre), Subjekt des Aussens (Blanchot), Subjekt des Mangels, der Leere, des Realen, des Nichts (Lacan, Zizek), Subjekt der Desubjektivierung/Dezentralisierung (Foucault), Subjekt der Deterritorialisierung (Deleuze/Guattari), Subjekt des Anderen, der Verantwortung und Selbstexposition in hyperbolischer Gastfreundschaft, der irreduziblen Selbstverzögerung, der différance etc. (Levinas, Derrida) auftaucht.
Immer geht es um ein Subjekt im Verhältnis zum Nicht-Subjektiven, zum Fremden, zur Nicht-Identität, zum Anderen, während dieses Andere, dieses Aussen oder Reale zugleich den Kern des Subjekts, seine Subjektivität, sein Sein, seine Substanz ausmacht: ”das Subjekt ist das Reale”, sagt Zizek. Die Subjektivität des Subjekts, sein Sein, seine Substanz, seine Natur oder sein Wesen liegen in dieser Subjektivitäts-, Seins-, Substanz-, Natur- oder Wesenslosigkeit. Der Begriff des Subjekts kann nur im Verhältnis zu dem, was es überschreitet, gewonnen werden. Subjekt zu sein bedeutet, ohne transzendentale, substanziale, essentiale, naturale Subjektivität zu sein. Das Subjekt ohne Subjektivität ist Subjekt radikaler Öffnung: Es ist offen auf die Dimension der Subjekt-Verschliessung. Hierin liegt, nach Heidegger, die ”innere Größe des Menschen”: in der ”Möglichkeit, über sich selbst hinauszugehen”. Etwas anderes zu sein als er faktisch ist.
Vielleicht hat Nietzsche zur Vertiefung der kantischen Figur eines Subjekts der Selbstüberziehung beigetragen. Vielleicht bedeutet mit Nietzsche zu denken, Kantianer in einem von ihm nicht mehr berücksichtigten Sinn zu sein. Vielleicht eröffnen Kant und Nietzsche in ihrer Komplementarität, Unvereinbarkeit und verschwiegenen Komplizität den Raum einer anderen Metaphysik. Solange wir unter Metaphysik die Zone einer sich gegen sich behauptenden Subjektivität verstehen.
Die Kritik der reinen Vernunft ist metaphysische Selbstgrundlegung der Metaphysik, ”Metaphysik von der Metaphysik” wie Kant im Brief vom 11. Mai 1781 an Markus Herz schreibt. Es ist die Subjektivität als solche, die ihre transzendentale Konstitution abfragt, um sich als Feld metaphysischer Selbsbeunruhigung zu etablieren. ”Metaphysik”, wird Heidegger sagen, ”ist ein Fragen, in dem wir in das Ganze des Seienden hineinfragen und so fragen, daß wir selbst, die Fragenden, dabei mit in die Frage gestellt, in Frage gestellt werden.” Als dieses ”Grundgeschehen im menschlichen Dasein” ist Metaphysik (Philosophie) ”eine letzte Aussprache und Zwiesprache des Menschen, die ihn ganz und ständig durchgreift.” Die Wahrheit der Philosophie ist ”wesenhaft die des menschlichen Daseins”, das, indem es sich ”ständig in einer Lage, der es nicht mächtig ist” bewegt, dennoch ”in Freiheit” geschieht.
Die Kritik der reinen Vernunft bewegt sich im Spannungsfeld von Ohnmacht und Souveränität. Kritik der reinen Vernunft als metaphysische Selbstgrundlegung ist Selbstbefragung und Selbstinfragestellung, Sorge der Vernunft um sich und ihre Freiheit. Sie ist, bevor sie eigentliche Metaphysik ist (die Metaphysik, deren Möglichkeiten und Grenzen sie artikuliert), die Form in der Subjektivität als solche geschieht. Das Subjekt der Metaphysik und die Metaphysik als Subjekt sind Namen für die Selbstbewegung einer auf ihr Nicht-Sein verlängerten Vernunft. Vernunft ist nicht, was sich der Nicht-Vernunft verschliesst. Sie ist Sein eines Subjekts, das auf seine Grenze, seine Nicht-Subjektivität, geöffnet bleibt.
Das Subjekt der Selbstbegrenzung entgrenzt sich durch diese Öffnung. Es ist offen auf eine Verschliessung, die sein Sein unendlich begrenzt. Das ist die Spannung, die das Subjekt erzittert: geöffnet auf die Verschliessung und verschlossen (blind, verstört, verrückt) in Bezug zum Offenen (der Dimension reiner Wahrheit, der Sphäre absoluten Wissens) zu sein. Das Subjekt ist zwischen dem Offenen und der Verschliessung hin und her gerissen. Es pendelt zwischen den Universen des Lichts und der Dunkelheit, zwischen Unverborgenheit und Verborgenheit, zwischen Leben und Tod, Tag und Nacht. Es ist Subjekt dieses Zwischen, Zwischen-Subjekt einer Pendelbewegung, die es endlos singularisiert.
Hin und her bewegen sich Subjektsingularitäten in einer Unentscheidbarkeits-Zone, die der Raum einer wesentlichen Einsamkeit, ihrer identitären Ungesichertheit und transzendentalen Namenlosigkeit ist. Subjektsingularitäten sind Subjekte der Selbsterfindung, Subjekte einer transzendentalen Gottlosigkeit. Sie sind Singularitäten, weil sie im Unterschied zum empirischen kantischen Subjekt, nicht von der Teilhabe an einer transzendentalen Subjektivität profitieren. Sie bleiben Subjekte, sofern das Subjekt der Name einer hyperbolischen Selbsterhebung ist. Subjektsingularitäten bewohnen den Spalt, die irreduzible Öffnung die den Partikularismus vom Universalismus, die Möglichkeit von der Notwendigkeit, die Entscheidung von der Unentscheidbarkeit distanziert. Der eigentliche Universalismus, die eigentliche Notwendigkeit und die eigentliche Unentscheidbarkeit sind nicht, was man in binären Modellen der Partikularität, der Möglichkeit und der Entscheidung entgegensetzt. Wenn das Subjekt (oder die Subjektsingularität) “der Abstand zwischen der Unentscheidbarkeit der Struktur und der Entscheidung” ist, wie Ernesto Laclau ausführt, dann ist die neue Universalität und die echte Unentscheidbarkeit eine Struktur, die ihre eigene Unmöglichkeit ausdrückt, indem sie das schlechthin Nicht-Repäsentierbare repräsentiert..