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MARCUS STEINWEG
 

TATSACHENQUIETISMUS

“Philosoph sein, Mumie sein”, schreibt Nietzsche in der Götzendämmerung. Die Philosophen – die alten und gegenwärtigen Philosophen, die er von den zukünftigen oder kommenden oder neuen Philosophen unterscheidet – operieren mit “Begriffs-Mumien”, sie “tödten, sie stopfen aus” . Ihre Moral liegt in der Flucht vor dem Werden, vor der Vielheit, vor dem Sinnlichen, vor der Historie, vor der Veränderung, vor dem Leben, das sich der Einsperrung in Begriffen und Systemen entzieht. Sie ist eine Moral der Flucht. Sie flieht, was eine Überforderung für sie darstellt: das Nicht-Darstellbare, das Namenlose, die Inkommensurabilität.

Das ist, was diese Philosophen schwach macht, daß sie nicht den Mut haben, sich in der Berührung des Unberührbaren zu verschwenden. Daß sie es vorziehen, den Möglichkeits-Raum zu durchmessen, statt das Unmögliche zu kontaktieren: “Was den Stil von Philosophie ausmacht, ist, daß in ihr der Bezug zu einem Äußeren immer durch ein Inneres, innerhalb eines Inneren, vermittelt und geschwächt ist. Im Gegensatz dazu begründet Nietzsche das Denken und die Schrift auf einer unmittelbaren Relation zum Außen.”

Die kommenden Philosophen sind Philosophen, die die Innerlichkeits-Metaphysik zugunsten der Berührung des Chaos, d.h. der Wahrheit, aufgeben, um den “Kontakt mit einem reinen Außen, zu riskieren” (Deleuze) . Das Subjekt dieses Kontakts ist Subjekt der Selbstüberschreitung auf die Dimension einer Andersheit, die jeden Selbst- und Identitätsbegriff a priori unterminiert. Es ist Subjekt ohne identitäre Fixierung. Subjekt, das sich im Akt der (Re)Kontaktierung des eigenen Wesens-Abgrunds als ontologische Abweichung, als originäre Störung der Tatsachen-Welt (der positiven Seinsordnung) konstituiert.

Tatsachenwelt ist ein anderer Name für Realität. Die Tatsachenrealität ist Welt der offizialisierten, etablierten, anerkannten, instituierten und archivierten Tatsachen-Wahrheiten. Sie ist das Universum des gegenwärtigen und historischen Wissens, der Meinungen, der Neigungen und Interessen. Die Tatsachen-Welt ist eine Sphäre, die per definitionem Wahrheit ausschliesst, um soziale, politische, kulturelle, also identifizierbare Realität zu ermöglichen. Realitäten oder Tatsachen-Wahrheiten sind Wahrheiten, die keine sind. Der Raum der Tatsachen konstituiert sich durch die pathologische Aussperrung von Wahrheiten, weil Wahrheit der Name eben der Erfahrung benennt, die Identität verhindert.

Die Tatsachen vor möglichen Wahrheiten zu privilegieren, bedeutet das Identitäts-Modell dem Schrecken der Erfahrung der Nicht-Identität, der Inkommensurabilität, des vorontologischen Chaos vorzuziehen. Das Tatsachen-Subjekt ist identitäres, sich selbst anhaltendes Subjekt. Es ist totes Subjekt, wenn man den Tod als “Existenzweise des letzten Menschen” ansetzt. Der letzte Mensch ist der Mensch der Wahrheits-, Sinn- und Lebens-Aussperrung. Der Mensch der kleinen Fakten (“petit faits”): der faitalistische Mensch. Das “Stehenbleiben-Wollen vor dem Thatsächlichen, dem factum brutum” ist, was Nietzsche in Zur Genealogie der Moral den “Fatalismus der 'petit faits'”, den “petit faitalisme” nennt.

Der Tatsachen-Mensch reduziert sich auf Tatsachen, macht aus ihnen seine tote Wahrheit. Er ist Subjekt des Tatsachen-Glaubens, des Tatsachen-Fatalismus und Tatsachen-Obskurantismus. Seine Tatsachen und Realitäten, werden ihm zum unerschütterliches Gesetz.