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MARCUS STEINWEG
 

TOTALITÄT UND EINVERSTÄNDNIS (2004)

Für Foucault ist Nietzsche der Philosoph der mit dem modernen Begriff von Philosophie, mit Philosophie als einer Totalisierungsbewegung mit universalistischem Anspruch gebrochen hat. Seit Nietzsche begnügt sich das Denken mit der Feststellung des Partikularen. Es ist selbst perspektivisch, statt sich seines Ursprungs und seiner Plausibilität oder Wahrheit im transzendentalen Subjekt zu versichern.Die Wege des Denkens lassen sich nicht zentralperspektivisch bündeln und organisieren. Sie zerstreuen sich in der Vielfalt des Mannigfaltigen der Phänomene selbst. Philosophie erschöpft sich von jetzt an in einem diagnostischen Verfahren. Sie wird zur Genealogie des Heute, nachdem sie die Möglichkeit einer transzendentalen Gründung von Wahrheit im Prinzip des Subjekts von sich gewiesen hat: “Ich glaube also, die Idee einer Philosophie, die das Ganze umfasst, ist relativ neuen Datums; ich denke, die Philosophie des 20. Jahrhunderts ist im Begriff, sich neuerlich grundlegend zu verändern, und zwar nicht nur hinsichtlich ihrer Abgrenzung und ihres Umfangs, sondern auch im Sinne ihrer Relativierung. Was heißt denn heute Philosophieren? Es heißt nicht, einen Diskurs über die Totalität zu schaffen, einen Diskurs, der die Welt in ihrer Totalität aufnimmt, sondern ganz real eine bestimmte Tätigkeit auszuüben, eine bestimmte Form von Tätigkeit. Etwas verkürzt würde ich sagen, die Philosophie ist heute eine Form von Tätigkeit, die auf verschiedenen Gebieten ausgeübt werden kann.”

Das Problem dieser Verkürzung ist offensichtlich. Um die Philosophie von dem Begehren der Totalität zu erlösen, scheint es notwendig sie in ihrer ursprünglichen (keineswegs einfach “hegelianischen”) Dimension als prote philosophia oder prima ontologia zu verleugnen. Die Philosophie kann nur Notwendigkeit und Zukunft für sich erhoffen, wenn sie sich vom Anspruch auf Totalität und Universalität befreit. Sie kann nicht weiterhin als Prinzipienforschung auftreten. Sie muss darauf verzichten von den ersten Gründen zu berichten. Ihre Erzählungen sollen offen auf das Jenseits der Totalität, auf die Erfahrung des Inkommensurablen sein. Sie öffnet sich der Erfahrung irreduzibler Kontingenz.

Aber hat nicht gerade Nietzsche die Kontingenz in den Rang eines Prinzips erhoben, indem er die Permanenz des Werdens als ewige Wiederkehr begrüsst? Vielleicht ist Nietzsche – ohne deshalb im Heideggerschen Sinn notwendig der letzte Metaphysiker, der Denker des sich vollendenden Platonismus zu sein – der Philosoph, der sich durch eine besondere Insistenz auf Philosophie als Prinzipien-Frage auszeichnet. Gerade dann, wenn er, wie überall, als Subjekt der radikalen Infragestellung erster Gründe auftritt. Philosophie bedeutet für Nietzsche vielleicht nicht weniger als Einverständnis mit den ontologischen Tatsachen. Die nietzscheanische Ethik wäre nichts als Ethik der Affirmation der Wiederkehr. Sie appelierte an den Mut des Subjekts zur Bejahung der Gleichgültigkeit der Mannigfaltigkeit des Seienden oder des Ungleichen. Sie animierte dazu, diese Bejahung als Ursprung einer ethischen oder ästhetischen oder politischen Konstruktion aufzufassen. Nietzsche hätte keinesfalls die Philosophie auf die Passivität der “diagnostischen Arbeit” begrenzt. Er wäre der Philosoph einer aktiven philosophischen Selbstbejahung, die das Subjekt des Denkens von den falschen Alternativen der Zeit-Diagnostik, der bloßen Kritik und journalistischen Einfallslosigkeit distanziert.

“Das Einverständnis mit dem Gegenstand trennt die Literatur vom Journalismus”, sagt Heiner Müller. Das gilt auch für Philosophie und Kunst: “Die Voraussetzung für Kunst ist Einverständnis”. Die Einverstandenen wollen mit dem Wirklichen kooperieren, um es zu verändern: “Man kann es überhaupt nicht beeinflussen, wenn man nicht mit ihm einverstanden ist.” Das Einverständnis ist affirmativ ohne Zustimmung zum Realen zu sein. Es ist Anerkennung, nicht Zustimmung. Anerkennung oder Einverständnis gehen der zustimmenden Gutheißung wie der verneinenden Zurückweisung voraus. Subjekte des Einverständnisses sind Subjekte einer unwahrscheinlichen Bejahung. Sie sagen Ja zur Wirklichkeit, wie sie ist. Das bedeutet nicht, dass sie alle realen Ereignisse und Prozesse gutheißen. Einverständnis impliziert kein Urteil. Die Einverstandenen riskieren einen Realitätsbezug ohne Wertung. Sie sind einverstanden mit der ursprünglichen Wertlosigkeit des Realen. Denn das Reale ist zunächst nichts als das Maßstablose. Es ist, was jeden Maßstab übersteigt. Das Reale geht seiner Ordnung oder Mässigung in Wertmaßstäben voraus. Es ist das Inkommensurable schlechthin.

Das Einverständnis der Einverstandenen zielt deshalb nicht auf Werte. Es zielt auf das Reale, wie es jenseits seiner Bewertung durch Wertmaßstäbe ist. Das Einverständnis ist eine fundamentalere Bejahung als die Gutheißung. Die Gutheißung beruft sich auf das Gute. Sie hat bereits eine Vorstellung vom Guten. Sie klassifiziert das Reale nach den Kriterien eines Registers. Das Register des Guten, nennt man Moral. Die Moral ist eine Disziplin zur Beurteilung des Realen. Sie unterscheidet das Gute vom Nicht-Guten oder Bösen. Einverstanden mit dem Realen zu sein, bedeutet daher Nichteinverständnis mit der Moral. Die Einverstandenen verteidigen durch ihr Einverständnis das Reale vor der Moral. Nietzsches amor fati ist die Formel eines solchen Einverständnisses. Das Schicksal zu lieben im Sinne Nietzsches, bedeutet nicht schicksalsgläubig zu sein. Im Gegenteil: Nietzsches Schicksalsliebe bekämpft den Schicksalsglauben.

Der Schicksalsglaube nährt sich aus Obskurantismus und Verdunkelung. Die Schicksalsliebe macht aus dem Subjekt dieser Liebe ein Subjekt der Klarheit. Es ist Subjekt des Tages, Subjekt der Selbstdurchleuchtung. Während das Subjekt des Schicksalsglaubens sich seinem Schicksal fügt, ist das Subjekt des Einverständnisses, das Subjekt der Schicksalsliebe, ein Subjekt, das einverstanden ist mit dem “Schicksal”, d.h. mit der Realität, wie sie hier und jetzt ist. Die Schicksalsliebe ist eine weiter gehende und riskantere Bejahung als der Schicksalsglaube, der das Subjekt des Ressentiments und mystischen Paranoia beherrscht. Subjekt des Schicksalsglauben zu sein, bedeutet kaum noch Subjekt zu sein. Es bedeutet, Objekt der Umstände, das heisst Opfer der Geschichte oder dunkler Mächte, zu sein. Das Subjekt des Schicksalsglaubens glaubt an diese Mächte, an die “Macht des Schicksals”. Es ist nicht einverstanden mit seiner Situation. Das Subjekt der Schicksalsliebe liebt das Reale wie ein Schicksal, ohne schicksalsgläubig zu sein. Es ist einverstanden mit seiner Situation und Realität.

Das Einverständnis ist der Anfang, die Bedingung der Möglichkeit jeder effizienten Intervention. Die Gegen-Gemeinschaft zur Gemeinschaft der Einverstandenen ist die Gemeinschaft der Negativen. Die Negativen lieben nicht das “Schicksal”, sie fügen sich, enttäuscht, verzweifelt oder zynisch, in es ein. Die Negativen wie die Enttäuschten sind schicksalsgläubig noch dann, wenn sie Ungläubige, wenn sie “Realisten” sind. Der Realismus ist ihr Glaube. Ihre Schicksalsgläubigkeit heisst Realitätsgläubigkeit. Es ist der Tatsachen-Obskurantismus von Subjekten, die nur glauben an nichts zu glauben, während ihre Religion in allen ihren Urteilen und Operationen wirkt.

Weit davon entfernt ein Arrangement mit der politischen, sozialen oder ökonomischen Lage zu sein, bedeutet Einverständnis im Sinne Müllers vorallem Zurückweisung der Negativität, des Zynismus, der überhasteten Abstandnahme, die das Werte-Register eines immer moralischen Nihilismus reguliert.
Wie man weiss, ist Nietzsche der Denker dieser allgemein gewordenen Erschöpfung: “Nihilismus [ich zitiere Heidegger] ist jener geschichtliche Vorgang, durch den das ́Übersinnliche ́in seiner Herrschaft hinfällig und nichtig wird, so daß das Seiende selbst seinen Wert und Sinn verliert.” Der europäische Nihilismus ist christlich-platonischer Werte-Nihilismus. Es ist nicht so, dass er keinerlei Werte kennt. Im Gegenteil: Das nihilistische Moral-System ist zunächst ein Werte-System. Es ist ein gewaltiges Archiv von Verboten und Handlungsanweisungen. Ein Speicher, in dem die Werte sich geradezu stauen. Aber die Werte dieses Speichers, die überlieferten Werte, wie man auch sagt, sind Werte, die den Wert der Realität, des Wirklichen, verneinen. Es sind Verneinungs-Werte, die auf der Wertlosigkeit des Welt-Wirklichen und der Subjekte und ihrer Körper, die dieses Wirkliche bevölkern insistieren. Der Werte-Nihilismus insistiert auf der Wertlosigkeit all dessen, was ist. Werte sind Ideen und Ideale. Es gibt sie nur als leere Hülsen. Sie sind Imperative, die das Subjekt des Nihilismus zur Aufgabe seiner Körperlichkeit aufzufordern versuchen. Sie überreden das Subjekt, hier nichts und dort, angesichts der idea tou agathou, der Idee des Guten, wie Plato sagt, oder angesichts Gottes, wirklich zu sein.
Nietzsche bekämpft den Werte-Nihilismus, der wesentlich Werte-Idealismus ist, indem er diese (priesterliche) Überredung zur Nichtigkeit des Subjekts bekämpft. Es geht ihm darum, das Subjekt von neuem aufzurichten. Ein mutiges, wirklichkeitsbeständiges Subjekt zum Stehen zu bringen. Deshalb ist das Anliegen Nietzsches nicht die Destruktion der Werthaftigkeit des Welt-Wirklichen, sondern die Abschaffung des Werte-Nihilismus, der diese Werthaftigkeit untergräbt.

“Das allgemeinste Vorhaben von Nietzsche ist dies: in die Philosophie die Begriffe von Sinn und Wert einzubringen”, sagt Deleuze. Das bedeutet: Nietzsches Philosophie ist ein Denken, das auf den Sinn und den Wert des Wirklichen setzt. Sie tut es, indem sie die idealistischen Verleugnungen dieser Sinn- und Werthaftigkeit als nihilistische Anstrengungen denunziert. Was sich als Sinn- und Wertbehauptung tarnt (die platonisch-christliche Körper-Welt-Verleugnung), ist die wirkungsmächtige Tradition des europäischen Nihilismus, die die Potenzialität des menschlichen Körpers, d.h. das Subjekt als Subjekt einer elementaren Bejahung, des grossen Einverständnisses, verneint.