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MARCUS STEINWEG
 

WAHRHEITSWELT

Die hyperboreische Welt ist Welt der Wahrheit, solange wir unter Wahrheit die Zone der Inkommensurabilität, des Austrags des Konflikts von Licht und Dunkelheit, Erinnerung und Vergessen, Öffnung und Verschliessung, aletheia und lethe verstehen. Die hyperboreische Wahrheitswelt ist die Sphäre dieses Konflikts, der Raum der diaphora, der als Hypo-, Inter- und Hyper-Sphäre das Universum der Tatsachen von allen Seiten her begrenzt. Diaphora ist das griechische Wort für den Streit oder Ur-Streit, wie Heidegger übersetzt. Die diaphora umreißt das Umrißlose, das Unermessliche, die primordiale Ungeordnetheit des Seienden in seiner ungezählten Mannigfaltigkeit. Wahrheit ist deshalb weder Aussagen-Wahrheit, noch beugt sie sich, wie die Richtigkeit (orthotes) dem Gesetz der Zählbarkeit, dem Kalkül.

Wahrheit als diaphora meint nichts als das, was dem Kalkül im vornhinein entweicht. Was das Kalkül verunmöglicht und als Verunmöglichung bedingt. Die Wahrheits-Welt begrenzt den Raum der Rechenbarkeit und Werte – sie öffnet ihn durch Begrenzung –, indem sie ihm eine unendliche Grenze, eine absolute Überforderung einschreibt. Die Welt der Wahrheit ist die Welt des Unmöglichen. Das hyperboreische Subjekt betritt diese Welt nicht ohne eine gewisse Verlust-Erfahrung. Es riskiert sein ganzes Eigentum, alle seiner Kapazitäten. Es verliert sich, sein Selbst, in der Berührung dieses Außen, das jegliche identitäre Gewißheit zerstört.

Eine Wahrheits-Berührung geschieht immer dann, wenn das Subjekt dieser Berührung über sein aktuales Selbst hinauszubeschleunigen gezwungen ist, wenn es sich im Kontakt mit dem Nicht-Kontaktierbaren im uferlosen Meer der Unentscheidbarkeit verliert. Und dennoch ist dieses Sich-Verlieren alles andere als negativ oder beliebig. Das Subjekt verliert sich, um sich als Subjekt des Selbstverlusts (der identitären Ungesichertheit) zu konstituieren. Das Subjekt des Selbstverlusts ist hyperboreisches Subjekt einer Wahrheits-Berührung, die zugleich Selbst-Konstitution, Selbst-Erfindung und Selbst-Behauptung einschließt. Die Welt der Wahrheit zu berühren, heißt seine Grenzen zu erfahren und diese Erfahrung der eigenen Begrenztheit als Öffnung auf ein anderes Selbst zu affirmieren. Wahrheits-Welt ist ein Name für das irreduzible Chaos, das reine Nichts der reinen transzendentalen Virtualität. Das Virtuelle ist nicht das Scheinhafte und das Transzendentale ist mehr als bloß nacktes Struktur-Gefüge. Das Transzendentale ist, wie Zizek mit Deleuze betont, das “unendliche potentielle Feld von Virtualitäten, aus denen heraus sich die Realität aktualisiert.” Die Wahrheits-Welt ist Welt dieser transzendentalen Virtualitäten: präontologische Welt reiner Noumena, die, im Unterschied zu den aktualisierten Phänomena, “nicht bloß als Erscheinungen” (als positive ontologische Entitäten), “sondern als Dinge an sich selbst” gedacht werden müssen. Das Denken der Noumena – insofern es nur als intellektuale, von der Rezeptivität der Sinnlichkeitsformen von Raum und Zeit unabhängige, Anschauung denkbar ist – ist Denken des Undenkbaren. Das Undenkbare denken, ist was wir eine Wahrheits-Berührung nennen, in den Kontakt mit dem Nicht-Kontaktierbaren treten, das Unberührbare berühren.

Das hyperboreische Wahrheits-Subjekt ist Subjekt dieser hyperbolischen Berührung. Es überreizt sein aktuales Selbst in der Überschreitung seiner positiven onto-historischen Identität auf die Ordnung einer Wahrheit, die nichts als berührt und behauptet werden kann. Das Subjekt der Selbstüberreizung ist deshalb Subjekt der Berührung und Subjekt der Behauptung. Es überschreitet die gewohnten Modalitäten herkömmlicher Philosophie (wie Begründung, Reflexion, Argumentation etc.) auf den hyperbolischen Gestus einer unmöglichen Handlung. Es ist Behauptungs-Subjekt einer Wahrheits-Behauptung, indem es sich den Zwängen der Tatsachen-Logik, dem Kalkül der Tatsachen-Ökonomie, dem Pragmatismus der Tatsachen-Ethik verweigert. Es affirmiert sich als Subjekt eines den Tatsachen-Imperativen entzogenen Denkens, das das Denken der Wahrheits-Behauptung und Wahrheits-Verteidigung ist.

Das hyperboreische Subjekt ist hyperbolisches Subjekt der Wahrheits-Liebe. Es liebt, es behauptet und es verteidigt eine Wahrheit, die seine objektive (soziopolitische, kulturelle etc.) Identität ins Schleudern bringt. Das ist, was es vom politisierten Subjekt der Meinung unterscheidet: Es verweigert sich in der liebenden Wahrheitsbehauptung den Komfort und die Sicherheit der Doxa. Denn die Wahrheit für die dieses Subjekt einsteht, ist alles andere als gewiß. Gewißheit (certitudo) gibt es nur auf Seiten der Doxa, des gesunden Menschenverstands und seiner immer wertkonservativen Selbst- und Weltbilder.

Was die Wahrheit von der Gewißheit unterscheidet ist, dass sie als solche verrückt ist. Der Raum der Wahrheit (der Diaphora, der Unentscheidbarkeit, des Chaos), ist der Raum einer irreduziblen, einer primordialen Verrücktheit, in die sich das Subjekt ursprünglich eingelassen findet. Subjekt zu sein bedeutet, sich in ein explizites Verhältnis zu dieser Wahrheit zu setzen, die ebenso Unwahrheit, gleichermassen lethe (Verborgenheit) wie aletheia (Unverborgenheit) “ist”. Es ist dieses gleichermassen, diese ungeheure Gleichzeitigkeit und Ebenbürtigkeit oder “Gleichursprünglichkeit der Wahrheit und der Unwahrheit” , die das Subjekt von Anfang an in Atem hält. Das Subjekt dieser monströsen Gleichzeitigkeit ist Subjekt der Unruhe. Es erfährt sein Sein als Schauplatz dieser konfliktuösen Vereinigung des Unvereinbaren, der Kompossibilität von Tod und Leben, Anfang und Ende, Ursprung und Horizont.

Wahrheits-Behauptung und Wahrheits-Liebe geschehen, indem das Subjekt die Bürde dieser Kompossibilität auf sich nimmt, ohne sich im Verhältnis zu diesem ontologischen Erbe zu passivieren. Es ist das Drama dieser Erbschaft, dem die Subjekte der Meinung ausweichen, indem sie die Gewißheit vor der Wahrheit privilegieren. Der Gewißheit diesen ontologischen Vorzug einzuräumen, bedeutet das Phantasma einer wie immer gearteten Harmonie an die Stelle jenes ursprünglichen Konflikts treten zu lassen. Die Gewißheit wird immer mit einer Art Obskurantismus der Selbstberuhigung kooperieren. Sie koaliert mit der angstvollen, sentimentalischen oder schlicht mystifizierenden Tendenz des Subjekts der Meinung, alles zu tun, um die verstörende Erfahrung der Unentscheidbarkeit (der Wahrheit, die zugleich Unwahrheit ist) durch irgendeine konstruierte Idylle, eine Metaphysik der Selbstberuhigung, zu substituieren.