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MARCUS STEINWEG
 

WARUM EIN MÄDCHEN? (2008)

Vielleicht, weil es im Zustand der Veränderung verharrt. Nicht mehr Kind, noch nicht Frau, diesseits des Erwachsenseins und bereits jenseits der Kindheit, ist das Mädchen reines Werden, Bild ontologischer Unschlüssigkeit. Noch scheint es sich für nichts entschieden zu haben als für seine Unbestimmtheit, seine leichte schwirrende Präsenz. Noch weigert es sich, etwas anderes zu sein als dieses Werden, das seine Gegenwart auf sein Verschwinden offen hält. Denn es ist offensichtlich, dass sein Sein sich einer Unbestimmtheit verdankt, die der Raum seiner Abwesenheit ist. Die Präsenz des Mädchens hält diesen unmittelbaren Kontakt zur Absenz, zur Ungreifbarkeit und Gespenstigkeit, die seine Gegenwart durchzieht. Das Mädchen wird zur Figur eines Widerstands, der ihre Fixierung im Raum der Tatsachen und Gewissheiten unendlich erschwert. Sie ist da, ohne da zu sein. Immer auf dem Sprung in ein anderes Leben als jenes, in dem es identifizierbar bleibt und erkannt werden kann. Als diese Resistenzfigur durchlöchert das Mädchen die fixierten Realitäten auf ein Jenseits dieser Realitäten hin. Auf eine andere Evidenz als die der beglaubigten Tatsachen, auf eine Evidenz, die dem Obskurantismus widersteht, indem sie sich, statt sie zu bestreiten, den unbestimmten Anteilen der sogenannten Wirklichkeiten öffnet. Auf eine auf die Inkonsistenz der Gewissheitssphäre geöffnete Evidenz, die den Unterschied zwischen Realität und Irrealität zumindest problematisch macht, oder, wie Derrida es ausdrückt, unentscheidbar. Hier könnte die Evidenz der Mädchenfigur liegen, in dieser Komplizierung der einfachsten Unterschiede. Wo das Mädchen aufkreuzt, verdichten sich die Schwierigkeiten, die ältesten Gewissheiten verlieren an Autorität. Denn als Bild des reinen Werdens, dieser fliehenden Unbestimmtheit und insistenten Verweigerung, zeigt das Mädchen in die Leere inmitten der Realitäten, blickt es in den Abgrund der Welt. Deshalb muss man es vermeiden, ihm eine träumerische Existenz zu unterstellen, um es in sein Imaginäres einzuschliessen. Genau genommen ist das Mädchen, was sich diesem Einschluss verweigert, was sich seiner Einsperrung in der Realität (die doch nichts als die Maske ihrer Inkonsistenz bleibt) entzieht. Nicht um sein Leben irgendwelchen Träumen zu opfern, sondern um es einer Realität zu öffnen, die die Grenze der etablierten Realitäten wie der in ihr möglichen Träume markiert. Auf der Grenze zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit, Präsenz und Absenz, Realität und Traum, bewegt sich das Mädchen auf ein Leben zu, das ohne Massstab auszukommen scheint: Eigenschaftsloses Leben, da es doch nichts als das Leben selbst ist, reines Werden, unqualifizierte Existenz. Das Mädchen erinnert uns daran, dass es jenseits der identifizierbaren Ziele und Träume, jenseits also der Realität, noch dieses Leben gibt, das sich seiner Entschärfung im Register der Wirklichkeiten entzieht. Das ist das Leben, das vom Unlebbaren nicht mehr zu unterscheiden ist. Es ist das ungelebte Leben, das Leben als Unlebbarkeit und zerreissende Inkommensurabilität. Man muss seinen ganzen Mut aufbringen, um sich der Masslosigkeit des reinen Lebens nicht unmittelbar zu verschliessen, um überhaupt anzufangen zu leben. Es kommt einer schon beinahe unmenschlichen Anstrengung gleich, für eine Sekunde die Zeit anzuhalten, den Lauf der Dinge zu unterbrechen, um aus der Realität in ihren Abgrund zu blicken, in die Untiefe des Lebens, das von seinen Eigenschaften befreit, in seiner Indifferenz erstrahlt. Vielleicht liegt in dieser Anstrengung das Versprechen einer Leichtigkeit, die zu einer Bejahung ermutigt, zu der nur jemand fähig ist, der um diese Indifferenz weiss: Um die Leere im Herzen der Bedeutungen, um den Abgrund des Sinns, um die Unmenschlichkeit eines Lebens, das an den Nicht-Sinn grenzt. Auf der Bruchlinie zwischen diesen beiden Ordnungen des Sinns und des Nicht-Sinns zögert das Mädchen sich einer dieser Ordnungen einzuschreiben, sich gegen ihr Leben zu entscheiden, das unbestimmt bleiben muss, um ihres zu sein. Und dennoch weiss es nur zu gut, dass es, statt im Besitz ihres Lebens zu sein, von ihm besessen wird, dass das Leben nur ein anderer Name des Unbesitzbaren ist. Deshalb insistiert es als Bild reiner Besitzlosigkeit, die ihm die Präsenz von etwas Abwesendem verleiht.