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MIRIAM WANIA
 

UNERREICHBARE ZIELE

Einzelne Menschen bewegen sich in verschiedenen Richtungen über einen großen, weitgehend leeren Platz. Das Ambiente suggeriert einen austauschbaren sterilen Citybereich mit Fußgängerzone, der jedoch ein ungewöhnliches Element aufweist. Über die weißgraue Fläche des Platzes laufen dunkle, sich leicht schlängelnde Linien, die sich teilweise kreuzen und mit ihren gleichmäßigen Unterteilungen an Straßenmarkierungen erinnern. Doch sie sind auf die einzelnen Personen bezogen und ihren Weg über den Platz. Und sie markieren auch die Strecken, die die Passanten erst zurücklegen müssten.

Es liegt nahe, die Linien nicht als reales Element des Platzes zu interpretieren, der selbst irreale Züge aufweist.Dass er weniger gepflastert denn von unten diffus beleuchtet erscheint, wäre naturalistisch gelesen eine raffinierte Lichtgestaltung,beispielsweise mit Neon unter Milchglas, aber auf diese Lesart deutet nichts wirklich hin. Denn der Boden suggeriert keinen festen Aggregatzustand wie den von Glas, sondern wirkt weich, als ob es sich um eine farblose Rasenfläche handelte.
Oder lauert hier gar ein Abgrund, in den die Menschen hineinfielen, würden sie den schmalen, vorgezeichneten Pfaden nicht folgen? Statt einer realen Situation scheint eher eine gleichnishafte Darstellung der Conditio Humana vorzuliegen, eine Allegorie auf die Wege des Lebens und ihre möglicherweise schicksalhafte Vorbestimmtheit.

Die Vogelperspektive, aus der auch wir Betrachter auf den Platz und die Menschen blicken, scheint mit dem Wissen einer höheren Macht verbunden, welcher die zukünftigen Lebenswege der Menschen wie Darstellungen auf einer Landkarte lesbar sind.
Und so erscheinen die vor- oder nachgezeichneten Wege über den Platz wie Handlinien, aus deren Verlauf und Länge die Menschen, die an ihre Aussagekraft glauben, das weitere Schicksal der Person vorhersagen zu können meinen. Wer aus den Handlinien liest, mag an Zufälle nicht glauben. Das scheinbar kontingente Zusammentreffen zweier Personen, bei denen es ebenso spontan wie lebensentscheidend funkt, wäre ebenso vorgezeichnet wie die Einsamkeit und Anonymität der Menschen, deren Wege an keinen entscheidenden Kreuzungen entlangführen.

Einsamkeit ist ein Thema, das auf Miriam Wanias Bildern immer wieder auf gänzlich unpathetische Weise anklingt. Die Tänzerin im Flamenco-Kleid, deren Darbietung zwischen den leeren Tischen eines Cafés und vermeintlich dekorativ platzierten Blumenkübeln offenbar ohne Publikum stattfindet. Der blaue Schuh neben ihr erinnert an das von Aschenputtel verlorene Pantöffelchen. Aber könnte er nicht auch zu einer ganz anderen Person gehören?
Der Blick von oben, auf diesem Bild ganz vertikal, ordnet die Dinge fast automatisch zu Konstellationen und suggeriert Beziehungen, die vielleicht gar nicht existieren. Die Tänzerin sehen wir allerdings von der Seite, so dass der vertikale Blick wieder durchbrochen wird.
Vergleichbare räumliche Irritationen erzeugt ein Bild, dessen maritime Motivik auf ein bei der Künstlerin immer wiederkehrendes Themenfeld weist. Ein Boot liegt wie gestrandet auf einem Riff und eine neben ihm stehende Person blickt fast wie eine Rückenfigur Caspar David Friedrichs auf das Meer. Oder ist es der Himmel? Der Betrachterstandpunkt ist nicht eindeutig lokalisierbar, und der großflächig gemalte, gelbe Hintergrund könnte auch eine Kulisse sein und das ganze ein Bühnenbild.
Miriam Wania wählt häufig ein Kolorit, das sich von den Gegenstandsfarben löst und für Empfindungen und Stimmungslagen steht, womit sie die traumhaft-romantisierende Ebene ihrer Bilder verstärkt. Und verbindet sich die allgemeinste Vorstellung von Romantik nicht mit Einsamkeit, Sehnsucht und der Unmöglichkeit, ein Ziel zu erreichen? Die beiden Männer, die verzweifelt einen Hubschrauber zu erreichen versuchen, werden dies auf immer und ewig vergeblich tun und als gemalte Rückenfiguren in der Luft hängen bleiben. Es ist ja schließlich – nur? – ein Bild.


Text von Ludwig Seyfarth im Katalog zur Ausstellung " Vom Gehenmüssen und Bleibenkönnen", 2008