Albrecht Schäfer
Möglichkeiten einen Stein zu betrachten
16 Nov 2024 - 13 Jan 2025
Anlässlich der Vorbereitung für die Ausstellung ,Möglichkeiten einen Stein zu betrachten’ in der Galerie Petra Rinck führte Franziska Lamprecht per E-Mail ein Interview mit Albrecht Schäfer.
Franziska Lamprecht ist Autorin und Künstlerin aus Upstate New York und wohnt derzeit in Taipei. Sie arbeitet unter dem Namen eteam mit Hajoe Moderegger zusammen.
FL: Kannst Du kurz beschreiben, was in der Ausstellung zu sehen sein wird?
AS: In der Galerie werde ich Malerei, Wandobjekte und zwei Installationen zeigen. Die Hauptarbeit ist eine große Fläche, ca. 20 qm, aus Steinen, sehr feinem Sand und Staub. Das Material stammt von einem Schotterweg ganz in der Nähe unseres Hauses, übrigens direkt neben dem Berghain, wo im Moment eine große Baustelle ist. Von diesem Schotterweg werde ich am nächsten Wochenende, wenn keine Bauarbeiten stattfinden, mit Hilfe von Dora oder Selma die oberste Schicht der Steine sammeln, vielleicht auch ein paar andere Sachen, die so rumliegen, aber im Wesentlichen die Steine und genau in dieser Anordnung – mehr oder weniger – in der Galerie wieder aufbauen.
FL: Wenn ich an das Ausstellen von Staub, Steinen und Erde in einer Galerie denke, dann habe ich The New York Earth Room von Walter de Maria vor Augen. 1977 wurden in einem Loft in der Wooster Street in NYC 197 Kubikmeter Erde auf 335 Quadratmetern Bodenfläche verteilt und seitdem wird die Installation von der DIA Art Foundation als permanente Skulptur unterhalten. Die Arbeit wird, ich nehme an u.a. auch wegen ihrer Dicke von 56 cm, als Skulptur bezeichnet. Deine Bodenarbeit ist dagegen flach, es scheint Dir also eher um die Oberfläche zu gehen, d.h. Du kreierst ein Bild, welches nicht an der Wand hängt, sondern auf dem Boden liegt. Liege ich damit richtig oder mache ich diese Annahme nur, weil Du mir die Vorschau dieser Arbeit als Foto geschickt hast, eine Abbildung die ich gleich mit deiner Malerei von Steinen in Verbindung bringe.
AS: Der für mich wichtigste Lehrer in meinem Kunststudium war Roger Ackling am Chelsea College of Art in London. Er gehörte zu einem Kreis von Künstlern, zu denen auch Richard Long und Hamish Fulton gehörte. Durch seine Arbeit und ihn selbst habe ich einen für mich sehr prägenden Eindruck der Konzeptkunst und Land-Art der 1960-er Jahre bekommen, die mich immer mehr angezogen hat, als die amerikanische. Auch die Arte Povera war für mich kunsthistorisch in diesem Zusammenhang wichtig. Die Arbeit Staub, Sand und Steine in ihrer direkten Übertragung von Material von einem Ort zu einem anderen hat für mich eher eine Nähe zu Richard Longs frühen Arbeiten, als zu Robert Smithson oder Walter de Maria.
Aber Du hast recht, die Arbeit ist von mir auch als Bild gedacht, das für mich wechselweise an eine Mondlandschaft, einen Zengarten oder an ein großes Stillleben erinnert. Darin hat es natürlich sehr viel mit meiner Malerei zu tun, wo ich oft Stillleben aus Steinen neben der Staffelei aufbaue und abmale. Die Steine sehe ich als Skulpturen oder als Berge in einer sehr weiten, wüstenartigen Landschaft. Oder eben als Steine.
FL: Wie gehst Du bei der Bodenarbeit vor?
AS: Ich unterteile am Originalort das Feld zuerst in Quadrate, sammle dann die Steine in jedem Quadrat getrennt und stelle dann in der Galerie Quadrat für Quadrat wieder nach. In der Ausstellung wird unter die Steine allerdings zuerst noch eine gleichmäßige Fläche mit Staub bzw. sehr feinem Sand aufgesiebt.
FL: Du beschreibst Dein Tun als Nachbau. Warum hast Du nicht Umbau oder Neubau gesagt?
AS: Umbau oder Neubau klingt für mich nach der Absicht, etwas zu arrangieren oder dazuzuerfinden. Aber in meiner Arbeit geht es nicht um Erfindung, sondern um genaue Beobachtung und die Transformation dieser Erfahrung in ein anderes Medium oder in eine andere Form. Es gibt dieses schöne Buch von Francis Ponge, das Notizbuch vom Kiefernwald, in dem er versucht, einen Kiefernwald zu beschreiben und schon im ersten Satz feststellt, dass er den Gegenstand nicht genau erfasst. Das ganze Buch ist ein zum Scheitern verurteilter und dabei sehr poetischer Versuch, einen Gegenstand in Sprache zu übersetzen. Der Text ist immer anders als der Gegenstand, aber der Prozess der Annäherung oder Transformation ist interessant und sagt genauso etwas über den Gegenstand aus, als über den Autor und seine Weilt. Diese Transformation und die damit verbundene Haltung zur Welt interessiert mich mehr, als etwas neu zu erfinden.
F.L. Ja, genau. Im Tao Te Ching steht im ersten Kapitel:
道可道。
非常道。
名可名。
非常名。
無名天地之始。
有名萬物之母。
故常無欲。
以觀其妙。
常有欲以觀其徼。
此兩者同出而異名。
同謂之玄。
玄之又玄。
衆妙之門。
“The Tao that can be told is not the eternal Tao.
The name that can be named is not the eternal name.
The nameless is the beginning of heaven and earth.
The named is the mother of ten thousand things.
Ever desireless, one can see the mystery.
Ever desiring, one can see the manifestations.
These two spring from the same source but differ in name;
this appears as darkness.
Darkness within darkness.
The gate to all mystery.”
Und dies ist nur eine, von wahrscheinlich hunderten, englischen Übersetzungen aus dem Chinesischen. Die Spruchkapitel, so nimmt man an, wurden im 4. Jahrhundert v. Chr. möglicherweise von Laozi aufgeschrieben.
Sieh Dir mal dazu im Vergleich eine der deutschen Übersetzungen an:
Der Weg mag gesagt,
schwerlich immerzu der Weg.
Ein Name mag genannt,
schwerlich durchgehend ein Name.
„Ohne“ benennt des Himmels und der Erde Anfang.
„Mit“ benennt aller Dinge Mutter.
Deshalb [sei] beständig ohne Wünschen,
somit erkenne ihre (winzigen) Feinheiten,
beständig mit Wünschen, somit erkenne ihre Äußerlichkeiten.
Diese Beiden (Erkenntnisweisen / Betrachtungsweisen)
[sind] gemeinsamen Ursprungs und doch verschieden genannt.
Der gemeinsamen Auffassung verborgen,
des (mystischen) Dunkels abermals Dunkel,
der zahllosen Feinheiten (Sinnes-) Tor.
Schon an diesem Beispiel sieht man, dass sich die Menschen seit Jahrtausenden mit Übersetzungen und ihren Diskrepanzen beschäftigt haben. Wahrscheinlich sind es die kleinen Feinheiten dieser Abweichungen, die es uns überhaupt erst ermöglichen über die Welt und unseren Platz darin nachzudenken. Das ist ja auch, warum es Spass macht, sich Deine Arbeit vor Augen zu führen. Erst wahllos die Steine vorm Berghain auf dem Schotterweg, dann, akribisch, dieselben Steine in ähnlicher Formation auf dem Boden der Galerie, das ist so eine Aufgabe, die sich, zumindest am Anfang, so darstellt, als könnte ich sie in Angriff nehmen.
Aber nun weitergedacht: 1931 hat der polnisch-amerikanische Ingenieur und Philosoph Alfred Korzybski geschrieben A map is not the territory and the word is not the thing, später hat sich dann die Version: all models are wrong (but some are useful). verbreitet. Man hat also erkannt, das das Ding an sich immer nur in einer Art unvollständigen Abstraktion gesehen, dargestellt oder mitgeteilt werden kann und fragt sich nun nach dem Nutzen solcher Tätigkeiten. Wie ist das bei Dir mit dem Nutzen? Hast Du ästhetische Motive, wenn Du die Steine und den Staub vom einen Platz in den anderen verlagerst? Sieht Deine Präsentation der Steine auf dem Staub schöner aus, als dies der Schotterweg hat zustande bringen können?
AS: Nein, der Originalweg ist für mich immer schöner, aber ich nehme ihn vielleicht erst durch die künstlerische Transformation war. Das wäre auch, wenn man so will, ein Nutzen der Kunst. Dieses Wahrnehmen der Dinge, die vor uns liegen. Wir müssen, glaube ich, unsere Neugier, die wir in uns haben, wach halten. Sonst verkümmern wir innerlich. Aber auf was richtet sich diese Neugier? Wir suchen es in der Ferne oder denken, dass man es nur mit hohem materiellen Einsatz erreichen kann oder durch Stimulanzien aller Art. Aber eigentlich müssen wir nicht weit schauen. Auch so verstehe ich den Titel Möglichkeiten einen Stein zu betrachten. Der Stein ist aber nicht nur der Kieselstein am Wegrand, sondern auch der größte irdische Stein, die Erde selbst.
Aber zu dem Zitat von Lao-Tse: Es ist kaum zu glauben, dass man einen Text, der so alt ist, so aktuell und richtig klingt finden kann. Und ich stimme Dir in jedem Fall zu, dass es diese Feinheiten und Abweichungen sind, vielleicht auch die Räume zwischen den Wörtern, die wichtig sind. Ich denke auch noch an etwas anderes. Peter Doig hat mal in einem Interview über seine Bilder gesagt: They are totally non-linguistic. There is no textual support to what you are seeing. Often I am trying to create a ‘numbness (Taubheit). I am trying to create something that is questionable, something that is difficult, if not impossible, to put into words. Natürlich redet auch Doig über seine Bilder. und sie haben Titel. und es gibt einen Diskurs darüber u.s.w. Aber er spricht dennoch von dieser nicht-textlichen Ebene. Das ist vielleicht nochmal etwas anderes, als das, was in Deinem Zitat angesprochen wird, aber diese Erfahrung spielt für mich auch eine Rolle. Wenn ich etwas textlich formuliere – dieser Text eingeschlossen – , dann fühle ich immer eine grundsätzliche Unsicherheit, die dazu führt, dass ich die Sätze dann in der Regel korrigiere, kürze, oft weglasse, sogar oft Titel vermeide. Das kann auch einfach eine Textschwäche sein oder eine künstlerische Prägung. Dennoch, das Faszinierende an einem Stein ist für mich in dem Zusammenhang auch, dass er dem Textlichen – und dem Menschen – gegenüber vollkommen indifferent ist. Das Thema zieht mich einfach an. Diese Indifferenz ist es auch, denke ich, warum es in der klassischen europäischen Kunstgeschichte, soweit ich weiß, keine Stillleben mit Steinen gibt. Es wird alles abgebildet, aber das Naheliegende, das immer schon gesammelt wurde, immer schon mit Bedeutung aufgeladen wurde, z.B. die Steine auf Gräbern, die Grabsteine überhaupt usw… dass die Steine trotzdem auf den Stillleben nicht zu finden ist.
F.L. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Stein an sich, weder dem Menschen noch dem Textlichen gegenüber indifferent ist. Der Stein ist Teil der Welt, so wie der Mensch, d.h. wir stehen im direkten Austausch. Willst Du den Steinen, die Du abgemalt oder eingesammelt hast, das Recht absprechen, dass sie Dich möglicherweise in ihren Bann gezogen haben? Du sagst, Du hast sie ausgesucht, vielleicht war es aber auch umgekehrt, vielleicht haben sie sich ja Dich auch auserwählt, mit ihnen in einen besonderen Austausch zu treten. Offensichtlich hatten sie Dir ja was mitzuteilen.
Ich habe mir gerade ein Bild von Gao Xu angesehen, das hat er 1503 gemalt. Auf Englisch heißt der Titel: Mi Fu Bowing to a rock. Die Erklärung dazu ist die folgende:
The scholar-artist Mi Fu was an eccentric of the eleventh century, and one of the four great calligraphers of the Song dynasty. It was well-known that he had a peculiar admiration for certain rocks. In this period, men of culture collected and placed in their gardens rare and unusual rocks from Lake Tai, which had become pitted and worn by the actions of wind and waves over many centuries. Mi Fu believed that some these rocks had their own souls and he was in the habit of paying them his respects, by bowing before them as if they were venerable old gentlemen.
Was das Textliche betrifft, gibt es noch ein zweites Bild in der Serie. Da sitzt ein Mann vor einem großen Gelehrtenstein mit einer losen Rolle Papier in der Hand. Der Titel des Bildes heisst: Seeking a Suitable Phrase.
AS: Die Steine, die ich meine, sind nicht die besonderen, wie die in den chinesischen Bildern abgebildeten, sondern eher die gewöhnlichen Kieselsteine, die überall rumliegen. Aber Du sprichst etwas Wichtiges und Grundsätzliches an. Ich finde das auch deshalb interessant, weil Du Dich ja viel mit der chinesischen Kultur, der zeitgenössischen, aber auch der traditionellen, beschäftigt hast, einige Jahre in Asien gelebt hast, auch aktuell in Taipei lebst und auch Chinesisch lernst. Für mich ist das unsicheres Terrain. Aber ich denke, ja, natürlich sind wir nicht getrennt von dem Stein, materiell nicht und ökologisch sowieso nicht. Ich bin überzeugt, dass vom Stein zu uns ein Kontinuum ohne Grenze besteht. Ich meinte nicht leblos im Sinne einer Subjekt-Objekt-Trennung, sondern in biologischer Hinsicht. Wenn man dem Stein nun etwas zuspricht, das über die pure Materialität und unsere ökologische Verbundenheit hinausgeht, etwas, was natürlich immer gemacht wurde, der heilige Stein, der Erinnerungsstein, seit es die Menschheit gibt. Bredekamp schreibt in einem Text, dass sogar schon Affen Steine als quasi-rituelle Orte gesammelt haben und das eines der allerersten Zeichen für Kultur sein könnte. Also das gab es immer und dennoch habe ich da meine Schwierigkeiten zu folgen. Für mich ruft der Berg nicht, sondern wir wollen gerufen werden. Diese Wunschübertragung, psychologisch gesprochen, funktioniert natürlich gut, weil der Stein nicht widersprechen kann, er ist perfekt dafür geeignet. Aber gleichzeitig denke ich manchmal, wenn ich Steine abmale, dass alles auch ganz anders sein könnte und versuche in den Stein hineinzulauschen. Vermutlich wäre ich dann einer der ersten, die vor dem Stein in die Knie gehen würde, wenn er sich einmal melden würde, aber bisher war das nicht der Fall.
FL: Für mich ist es wertvoll zu wissen, dass Dir Deine Töchter beim Sammeln der Steine behilflich sein werden, und ich finde es toll, dass sie mitmachen. Welche Fähigkeiten und Erwartungen werden da in Deinen Töchtern wach oder geschult, wenn sie da am Wochenende vorm Berghain auf der Baustelle sitzten und für ihren Vater kleine Steine aufsammeln?
AS: Es war schön heute mit meiner Tochter, wir haben nebenher über alles mögliche geredet, zwischendurch kam lauter Techno aus dem Berghain. Weiter hinten auf dem Brachgelände, wo der Schotterweg ist, wohnen illegal Menschen, die auch vorbeigekommen sind und mit uns geredet haben. Nebenan ist ein Baumarkt, dann die Metro mit einem Sportplatz auf dem Dach, eine riesige Baustelle, wo gerade ein ganzes Stadtviertel gebaut wird, die Opernwerkstatt, das Neue Deutschland, ein Nachbarschaftsgarten… Es ist eine sehr faszinierende Ecke, mitten in Berlin und sehr nah an unserer Wohnung. Es war interessant mit meiner Tochter über diesen Ort zu reden. Sie hatte auch gute Ideen zu meiner Arbeit, zum Beispiel sagte sie, dass man nach dieser Arbeit, nochmals die eine zweite oder weitere Arbeiten machen kann, die immer die nächste Schicht von dem Weg abtragen. Super Idee – die übrigens das Flächige der Arbeit sehr genau erfasst, wovon Du sprichst…
Meine andere Tochter hat mir letzte Woche geholfen. Sie steckt nochmals ganz anders in der Arbeit, weil sie, seit sie ein kleines Kind war, Steine gesammelt hat und eine sehr schöne Steine-Sammlung besitzt. Sie hat mir auf allen Urlauben und Spaziergängen über Jahre wunderschöne Steine gezeigt und vermutlich bin ich auch deshalb auf die Idee mit den Steine-Stillleben gekommen.
FL: Was gibt es noch in der Ausstellung zu sehen?
AS: Im gleichen Raum wie die Steine- und Staub-Fläche wird auf der Wand eine ca 3 x 6 m große hellgrüne, rechteckige monochrome Fläche sein, die mit fast reinem Chlorophyll gemalt ist, das ich aus Spinat oder Brennesseln herstelle. Ich versuche der Steine-Fläche, die ja etwas Zeitloses und Lebloses hat, etwas Lebendiges, sich Veränderndes gegenüberzustellen. Das Blattgrün, das ja für biologisches, pflanzliches Leben steht, verblasst an der Wand schnell und ist nach wenigen Wochen fast nicht mehr zu sehen. Es ist auch ein wenig die Farbveränderung im Herbst oder wenn Blumen welken, wobei natürlich immer viele verschieden chemische und biologische Faktoren eine Rolle spielen.
FL: Ich kann mir keine Staub-und Steinfläche vorstellen, die etwas Zeitloses oder Lebloses hat. Für mich sind Steine in ständiger Veränderung, genau wie Bäume oder Wolken oder Menschen, sie werden nass, sie werden staubig, sie rollen rum, die mineralische Zusammensetzungen verändern sich aufgrund von Temperatur- oder Druckschwankungen, sie rutschen ab, sie spalten sich, erodieren, werden verschüttet, bröseln, ein Vogel kackt drauf, ein Bär stülpt sie um, der Fluss wäscht sie rund, und manche von ihnen fliegen Jahrmillionen lang durchs Weltall und knallen dann bei irgendjemanden durchs Dach. Kannst Du Dich noch an die herrliche Stelle bei Rico, Oscar und der Diebstahlstein von Andreas Steinhöfel erinnern? Da hat sich doch dann irgendwann herausgestellt, dass der kranke Nachbar Fitzke, der über den beiden Jungs in der Diefenbachstrasse in Berlin gewohnt hat, eine riesige Sammlung von sogenannten Zuchtsteinen hatte, die er Rico dann vererbt hat. War das nicht so, dass Fitzke bestimmte Steine miteinander gekreuzt hat, in der Hoffnung, dass sie Nachwuchs hervorbringen? Und war er nicht sogar erflogreich mit diesem sogenannten Kalbstein, der dann aufgrund seines angenommenen, hohen Wertes auch noch gestohlen wurde.
AS: Das stimmt, Steine sind nur scheinbar zeitlos, tatsächlich aber voller Geschichte und Verwandlungen. Und vermutlich ziehen mich Steine auch deshalb so an, weil sie, trotz ihrer scheinbaren Leblosigkeit und ihres unfassbaren Alters oder gerade deshalb, einen Eindruck der Geschichte und Veränderung vermitteln. Der Stein ist älter als wir Menschen und wird die Menschheit auch überdauern.
Die Schotterfläche besteht allerdings tatsächlich aus einer Mischung aus Natursteinen und aus Betonschottersteinen, einem Industrieprodukt, das eine sehr junge, ziemlich brutale und menschengemachte Geschichte in sich trägt. Es ist also eine Mischung aus natürlichem und industriellen Material, in dem feinen Sand und Staub ist die Mischung nicht mehr auseinanderzuhalten. Das Material ist in dem Sinne aber doch leblos, dass es sich ohne Fremdeinwirkung in unserer Lebenszeit kaum noch verändern wird.
Bei der Ausstellung geht es mir dabei besonders um das Verhältnis verschiedener Zeitlichkeiten und den großen Kontrast zwischen den Steinen und der Chlorophyllfläche.
FL: Ja, die Chlorophylfläche existiert in einer anderen Zeitebene als die der Steine, und beide Arbeiten nebeneinader veranlassen den Betrachter sich das jetzt im Plural vorzustellen und sich zu fragen, ob Zeit als solches eigentlich existiert oder ob es nur ein Hilfsmittel ist, die sich ständig vollziehenden Veränderungen aus dem Chaos heraus in ein kalkulierbares, dem Kapitalismus förderliches Effizienzsystem zu ziehen. Die Zeit der Uhr ist eine Illusion, sagte Einstein. Wie stellst Du Dir die Zeit der Chlorophyllfläche vor?
AS: Ich finde die Vorstellung, dass das Grün verblasst, schön, wie ein Klang, der verhallt. Man kann sich das zeitlich gerade noch vorstellen. Die Veränderung der Steine ist mir zwar bewusst, aber sie entzieht sich meiner Vorstellungskraft.
FL: Ich nehme mal an dass Dein Chlorophyllbild über die Zeit verbleicht, weil das Chlorophyll, abgetrennt von der Pflanze, abstirbt. Du sagtest, Du wirst Spinat oder Brennessel mixen, was würde aber passieren, wenn Du grüne Eichenblätter oder Ahornblätter verwendest, Blätter also die sich im Herbst erst stark verfärben, bevor sie absterben? Würde Dein Wandbild dann erst durch eine Gelbphase oder durch eine Rotphase durchgehen, bevor es verbleicht?
AS: Ich habe im Frühjahr in Fachsenfeld zwei Wandmalerein gemacht mit Farben, die ich aus unterschiedlichen Blättern gekocht habe. Bei einer der Flächen mit der Farbe einer Rotbuche, war das ein wenig der Fall, die Färbung veränderte sich ein wenig von einem Rot mit Grünstich hin zu einem rötlichen Braun. Nur finden im Blatt noch viel mehr chemische Prozesse statt, als wenn die Farbe herausgelöst wird und an der Wand vergilbt oder braun wird. Aber mir würde die Idee gefallen, den ganzen herbstlichen Verfärbungsprozess an der Wand stattfinden zu lassen.
Ich denke, biologisch betrachtet, verfärbt sich isoliertes Chlorophyll selbst nicht wie ein Herbstblatt, es verblasst nur durch Licht- und Sauerstoffeinwirkung. Aber diese Sensitivität finde ich gerade interessant und natürlich hat diese grüne Fläche für mich auch eine metaphorische Bedeutung.
F.L. Wenn wir so darüber sprechen, stelle ich mir gerade vor, dass wir die Welt vielleicht ähnlich wie die Blätter wahrnehmen. Wir filtern das aus der Atmosphäre heraus, was wir direkt verarbeiten können, und das, was wir nicht zum direkten Lebenserhalt benötigen, das werfen wir als Bilder, Ideen, Illusionen und Vorstellungen in die Welt zurück. Vielleicht kann man ja deshalb auch sagen, dass jedes grüne Blatt eine Künstler/in ist, der oder die sich im Grünbereich ausdrücken.
Welche metaphorische Bedeutung hat die grüne Fläche für Dich?
AS: Das ist wunderbar formuliert. Möchte ich nichts hinzufügen.
FL: Mit Fossil stellst Du den nächsten, für mich offensichtlichen Zeitträger in the Raum. Du hast den körperliche Überrest eines versteinerten Farns auf ein Stück altes Holz gemalt, welches im Vergleich zum Farn, die laut Fossiliendefinition mindestens 10.000 Jahre sein sollte, wahrscheinlich ganz jung ist. Sagen wir einfach mal, dass das Brett auf das Du gemalt hast 30 Jahre alt ist, und der Baum von dem dieses Brett geschnitten wurde 100 Jahre alt war. Da tragen dann also 130 Jahre Realmaterial die Vorstellungskraft von 10.000 Jahren. In welcher Relation steht dazu, falls Dir dieses leicht absurde Rechenpuzzle nicht zu blöd erscheint, das Entstehungsjahr des Bildes: 2024?
AS: Genau so sehe ich das Bild auch und die Malerei fügt diesen Zeitschichten noch eine weitere, eine aktuelle hinzu, die Zeit des gemalten Bildes, die Zeit des Pinselstrichs.
FL: Zu Deiner Malerei: Die Kohlengrube ist irgendwie anders als die anderen Bilder. die Du zeigst. Das Bild hat etwas Märchenhaftes und scheint sich nicht davor zu scheuen, eine Geschichte zu erzählen. Wie ist das Bild entstanden?
AS: Das Bild ist für eine Ausstellung in einer Ruine entstanden, die mal ein Zechenhaus einer längst aufgegebenen Braunkohlegrube südlich von Berlin war. Die Ausstellung, de von Vlado Velkov kuratiert wurde, fand vor ein paar Wochen im Freien und nur an einem einzigen Tag statt. Morgens hängten wir die Bilder auf, abends wieder ab.
Das Bild zeigt das Modell dieser Braunkohletagebaulandschaft, das ich in der Nähe in einem Heimatmuseum befunden habe. Es fällt insofern heraus, weil es tatsächlich diese narrative Ebene hat: So hat es dort einmal ausgesehen… Es ist gleichzeitig aber auch eine Variation der Interieurbilder, die auch immer das Modell eines konkreten Ortes, mein Atelier, zeigen. Der Ort der Ruine und der daneben liegende See ist für mich sehr ausdrucksstark in Beziehung auf die vielen geologischen und historischen Schichten, die Transformation von Material. Es führt, wenn man so will, auch direkt zu den Atelier-Interieurs, die ich dort auch gezeigt habe. Der Brauchkohlebergbau war, wie die vielen Ziegeleien in der Gegend, mit der dort gewonnenen Braunkohle und Ton, zentrale Materialien, die das Berlin der Gründerzeit hervorgebracht haben und in der auch das Haus gebaut wurde, in dem mein Atelier ist. Das Gebäude stammt genau aus der gleichen Zeit und die Zeigelsteine, die ich in der Umgebung in Baugruben gefunden und gemalt habe, wurden möglicherweise in genau dieser Gegend hergestellt.
Der Ort der Ausstellung ist aber auch ökologisch interessant, da der Tagebau schon im 19. Jahrhundert aufgegeben wurde und die Gegend, die eigentlich eine Industriefolgelandschaft ist, längest wieder von der Natur eingenommen wurde…
F.L. Wir haben jetzt viel über die Relativität von Zeit und Wahrnehmung gesprochen, also darüber nachgedacht, wie unsere Wahrnehmung nie absolut sein kann, sondern ein Konglomerat von bestimmten Umständen ist, dass sich ständig verändert und deshalb nicht absolut sein kann. Mir macht es deshalb immer viel Spass über Deine Astarbeiten nachzudenken. Du nimmst einen Ast, der sich ja natürlicherweise zur Spitze hin verjüngt, schneidest ihn in dünne Scheiben, bohrst ein Loch in die Mitte der Scheiben und fädelst sie dann so auf eine Schnur, wie genau nach welchem Prinzip, das müsstest Du bitte noch mal erklären.
AS: Wenn ich den Ast zersägt und gelocht habe, kann ich die Reihenfolge beliebig verändern und es entstehen immer andere Muster. Ich habe auch schon mehrere Äste wieder aufgefädelt und für eine neue Ausstellung oder nur für mich wieder neu angeordnet. Das hat eher einen spielerischen Charakter, keinen systematischen. Was aber immer gleich bleibt, ist die Vorgabe, dass ich nur jeweils einen Ast für eine Arbeit verwende.
FL: Wenn ich mir die Arbeit ansehe, denke ich, dass Du durch Deinen Eingriff die Linearität unterbrochen hast. Du hast die Verjüngung des Astes zehn mal verkürzt und komprimiert. Da Du alle Teile linear aneinanderhängst, ist die Länge des Astes am Ende noch dieselbe. Die dem Ast innenwohnende Kontinuität wurde durch eine zehnfache Wiederholung einer komprimierten Form dieser Kontinuität ausgedrückt. Was mir dazu einfällt, ist Fliessbandarbeit, industrielle Effizienz, Musterekennung, Regelmässigkit, Berechenbarkeit. Ich könnte mir vorstellen, dass eine maschinelle, künstliche Intelligenz die Dinge um uns herum ähnlich erkennt, oder aufteilt. Aber bevor wir die Interpretation der Arbeit vorwegnehmen, was hat Dich eigentlich dazu veranlasst, den Ast in Scheiben zu schneiden? Wie hat es angefangen mit den Astarbeiten?
AS: Für mich haben die Arbeiten nicht den Charakter von Fließbandarbeit, auch wenn es sehr repetitiv ist. Die Äste entstehen über viele Wochen oder Monate und meistens mache ich nicht nur diese Arbeit, sondern parallel andere Arbeiten, Malerei etc. Ich konzipiere meine Arbeiten auch immer so, dass ich das Allermeiste alleine machen kann und ich finde diese Unabhängigkeit auch angenehm. Du arbeitest ja meistens mit anderen Menschen zusammen, in der Regel mit Hajoe oder auch Euren Kindern. Das finde ich auch sehr schön, aber bei mir ist das nur sehr selten der Fall, ich bin eher der einsame Atelierkünstler… Bei den Ästen ist es ein sehr haptisches Arbeiten mit einem Material, bei dem der Ast genauso mitbestimmt, wie die Arbeit wird, wie ich selbst. Es ist eine Zusammenarbeit, wenn man so will, zwischen mir und dem Ast. Ein Dialog auf Augenhöhe. Der Eingriff ist schon stark, das Zersägen und Durchlochen… Aber am Ende ist auch von dem Ast noch sehr viel mitbestimmt. Ich finde das ist sehr weit weg von einer künstlichen Intelligenz, ich berühre jeden Zentimeter des Astes, jedes Segment habe ich unzählige Male in der Hand gehalten, gesägt, gelocht, geschliffen, es ist sehr körperlich, es riecht gut etc. Und wie gesagt, alleine die Aufteilung in gleiche Abschnitte ist für mich nicht gleichzusetzen mit einer mathematischen Rationalität. Unser Atem, unser Herzschlag, die Schritte, wenn wir gehen… Ich sehe da eher einen Zusammenhang in diese Richtung.
FL: Noch eine Frage: Du stellst diese Steinfläche in einer kommerziellen Galerie aus. Falls sie verkäuflich ist, was sind die Bedingungen für den Käufer? Kann er die Materialien in der Kiste besitzen, oder muss die Arbeit aufgebaut sein?
AS: Ich habe schon oft Installationen aufgebaut, auch in Galerien, die erstmal überhaupt nicht für den Verkauf bestimmt waren. Mit den Galerien einigt man sich schnell auf den Preis „auf Anfrage“ und redet nicht weiter darüber. Ich habe aber auch die Erfahrung gemacht, dass nur Leute oder Institutionen Kaufinteresse an solchen Arbeiten haben, die genau wissen, auf was sie sich einlassen und mit solchen Arbeiten umgehen können. Man findet dann eine Lösung, wenn es soweit ist.
Franziska Lamprecht ist Autorin und Künstlerin aus Upstate New York und wohnt derzeit in Taipei. Sie arbeitet unter dem Namen eteam mit Hajoe Moderegger zusammen.
FL: Kannst Du kurz beschreiben, was in der Ausstellung zu sehen sein wird?
AS: In der Galerie werde ich Malerei, Wandobjekte und zwei Installationen zeigen. Die Hauptarbeit ist eine große Fläche, ca. 20 qm, aus Steinen, sehr feinem Sand und Staub. Das Material stammt von einem Schotterweg ganz in der Nähe unseres Hauses, übrigens direkt neben dem Berghain, wo im Moment eine große Baustelle ist. Von diesem Schotterweg werde ich am nächsten Wochenende, wenn keine Bauarbeiten stattfinden, mit Hilfe von Dora oder Selma die oberste Schicht der Steine sammeln, vielleicht auch ein paar andere Sachen, die so rumliegen, aber im Wesentlichen die Steine und genau in dieser Anordnung – mehr oder weniger – in der Galerie wieder aufbauen.
FL: Wenn ich an das Ausstellen von Staub, Steinen und Erde in einer Galerie denke, dann habe ich The New York Earth Room von Walter de Maria vor Augen. 1977 wurden in einem Loft in der Wooster Street in NYC 197 Kubikmeter Erde auf 335 Quadratmetern Bodenfläche verteilt und seitdem wird die Installation von der DIA Art Foundation als permanente Skulptur unterhalten. Die Arbeit wird, ich nehme an u.a. auch wegen ihrer Dicke von 56 cm, als Skulptur bezeichnet. Deine Bodenarbeit ist dagegen flach, es scheint Dir also eher um die Oberfläche zu gehen, d.h. Du kreierst ein Bild, welches nicht an der Wand hängt, sondern auf dem Boden liegt. Liege ich damit richtig oder mache ich diese Annahme nur, weil Du mir die Vorschau dieser Arbeit als Foto geschickt hast, eine Abbildung die ich gleich mit deiner Malerei von Steinen in Verbindung bringe.
AS: Der für mich wichtigste Lehrer in meinem Kunststudium war Roger Ackling am Chelsea College of Art in London. Er gehörte zu einem Kreis von Künstlern, zu denen auch Richard Long und Hamish Fulton gehörte. Durch seine Arbeit und ihn selbst habe ich einen für mich sehr prägenden Eindruck der Konzeptkunst und Land-Art der 1960-er Jahre bekommen, die mich immer mehr angezogen hat, als die amerikanische. Auch die Arte Povera war für mich kunsthistorisch in diesem Zusammenhang wichtig. Die Arbeit Staub, Sand und Steine in ihrer direkten Übertragung von Material von einem Ort zu einem anderen hat für mich eher eine Nähe zu Richard Longs frühen Arbeiten, als zu Robert Smithson oder Walter de Maria.
Aber Du hast recht, die Arbeit ist von mir auch als Bild gedacht, das für mich wechselweise an eine Mondlandschaft, einen Zengarten oder an ein großes Stillleben erinnert. Darin hat es natürlich sehr viel mit meiner Malerei zu tun, wo ich oft Stillleben aus Steinen neben der Staffelei aufbaue und abmale. Die Steine sehe ich als Skulpturen oder als Berge in einer sehr weiten, wüstenartigen Landschaft. Oder eben als Steine.
FL: Wie gehst Du bei der Bodenarbeit vor?
AS: Ich unterteile am Originalort das Feld zuerst in Quadrate, sammle dann die Steine in jedem Quadrat getrennt und stelle dann in der Galerie Quadrat für Quadrat wieder nach. In der Ausstellung wird unter die Steine allerdings zuerst noch eine gleichmäßige Fläche mit Staub bzw. sehr feinem Sand aufgesiebt.
FL: Du beschreibst Dein Tun als Nachbau. Warum hast Du nicht Umbau oder Neubau gesagt?
AS: Umbau oder Neubau klingt für mich nach der Absicht, etwas zu arrangieren oder dazuzuerfinden. Aber in meiner Arbeit geht es nicht um Erfindung, sondern um genaue Beobachtung und die Transformation dieser Erfahrung in ein anderes Medium oder in eine andere Form. Es gibt dieses schöne Buch von Francis Ponge, das Notizbuch vom Kiefernwald, in dem er versucht, einen Kiefernwald zu beschreiben und schon im ersten Satz feststellt, dass er den Gegenstand nicht genau erfasst. Das ganze Buch ist ein zum Scheitern verurteilter und dabei sehr poetischer Versuch, einen Gegenstand in Sprache zu übersetzen. Der Text ist immer anders als der Gegenstand, aber der Prozess der Annäherung oder Transformation ist interessant und sagt genauso etwas über den Gegenstand aus, als über den Autor und seine Weilt. Diese Transformation und die damit verbundene Haltung zur Welt interessiert mich mehr, als etwas neu zu erfinden.
F.L. Ja, genau. Im Tao Te Ching steht im ersten Kapitel:
道可道。
非常道。
名可名。
非常名。
無名天地之始。
有名萬物之母。
故常無欲。
以觀其妙。
常有欲以觀其徼。
此兩者同出而異名。
同謂之玄。
玄之又玄。
衆妙之門。
“The Tao that can be told is not the eternal Tao.
The name that can be named is not the eternal name.
The nameless is the beginning of heaven and earth.
The named is the mother of ten thousand things.
Ever desireless, one can see the mystery.
Ever desiring, one can see the manifestations.
These two spring from the same source but differ in name;
this appears as darkness.
Darkness within darkness.
The gate to all mystery.”
Und dies ist nur eine, von wahrscheinlich hunderten, englischen Übersetzungen aus dem Chinesischen. Die Spruchkapitel, so nimmt man an, wurden im 4. Jahrhundert v. Chr. möglicherweise von Laozi aufgeschrieben.
Sieh Dir mal dazu im Vergleich eine der deutschen Übersetzungen an:
Der Weg mag gesagt,
schwerlich immerzu der Weg.
Ein Name mag genannt,
schwerlich durchgehend ein Name.
„Ohne“ benennt des Himmels und der Erde Anfang.
„Mit“ benennt aller Dinge Mutter.
Deshalb [sei] beständig ohne Wünschen,
somit erkenne ihre (winzigen) Feinheiten,
beständig mit Wünschen, somit erkenne ihre Äußerlichkeiten.
Diese Beiden (Erkenntnisweisen / Betrachtungsweisen)
[sind] gemeinsamen Ursprungs und doch verschieden genannt.
Der gemeinsamen Auffassung verborgen,
des (mystischen) Dunkels abermals Dunkel,
der zahllosen Feinheiten (Sinnes-) Tor.
Schon an diesem Beispiel sieht man, dass sich die Menschen seit Jahrtausenden mit Übersetzungen und ihren Diskrepanzen beschäftigt haben. Wahrscheinlich sind es die kleinen Feinheiten dieser Abweichungen, die es uns überhaupt erst ermöglichen über die Welt und unseren Platz darin nachzudenken. Das ist ja auch, warum es Spass macht, sich Deine Arbeit vor Augen zu führen. Erst wahllos die Steine vorm Berghain auf dem Schotterweg, dann, akribisch, dieselben Steine in ähnlicher Formation auf dem Boden der Galerie, das ist so eine Aufgabe, die sich, zumindest am Anfang, so darstellt, als könnte ich sie in Angriff nehmen.
Aber nun weitergedacht: 1931 hat der polnisch-amerikanische Ingenieur und Philosoph Alfred Korzybski geschrieben A map is not the territory and the word is not the thing, später hat sich dann die Version: all models are wrong (but some are useful). verbreitet. Man hat also erkannt, das das Ding an sich immer nur in einer Art unvollständigen Abstraktion gesehen, dargestellt oder mitgeteilt werden kann und fragt sich nun nach dem Nutzen solcher Tätigkeiten. Wie ist das bei Dir mit dem Nutzen? Hast Du ästhetische Motive, wenn Du die Steine und den Staub vom einen Platz in den anderen verlagerst? Sieht Deine Präsentation der Steine auf dem Staub schöner aus, als dies der Schotterweg hat zustande bringen können?
AS: Nein, der Originalweg ist für mich immer schöner, aber ich nehme ihn vielleicht erst durch die künstlerische Transformation war. Das wäre auch, wenn man so will, ein Nutzen der Kunst. Dieses Wahrnehmen der Dinge, die vor uns liegen. Wir müssen, glaube ich, unsere Neugier, die wir in uns haben, wach halten. Sonst verkümmern wir innerlich. Aber auf was richtet sich diese Neugier? Wir suchen es in der Ferne oder denken, dass man es nur mit hohem materiellen Einsatz erreichen kann oder durch Stimulanzien aller Art. Aber eigentlich müssen wir nicht weit schauen. Auch so verstehe ich den Titel Möglichkeiten einen Stein zu betrachten. Der Stein ist aber nicht nur der Kieselstein am Wegrand, sondern auch der größte irdische Stein, die Erde selbst.
Aber zu dem Zitat von Lao-Tse: Es ist kaum zu glauben, dass man einen Text, der so alt ist, so aktuell und richtig klingt finden kann. Und ich stimme Dir in jedem Fall zu, dass es diese Feinheiten und Abweichungen sind, vielleicht auch die Räume zwischen den Wörtern, die wichtig sind. Ich denke auch noch an etwas anderes. Peter Doig hat mal in einem Interview über seine Bilder gesagt: They are totally non-linguistic. There is no textual support to what you are seeing. Often I am trying to create a ‘numbness (Taubheit). I am trying to create something that is questionable, something that is difficult, if not impossible, to put into words. Natürlich redet auch Doig über seine Bilder. und sie haben Titel. und es gibt einen Diskurs darüber u.s.w. Aber er spricht dennoch von dieser nicht-textlichen Ebene. Das ist vielleicht nochmal etwas anderes, als das, was in Deinem Zitat angesprochen wird, aber diese Erfahrung spielt für mich auch eine Rolle. Wenn ich etwas textlich formuliere – dieser Text eingeschlossen – , dann fühle ich immer eine grundsätzliche Unsicherheit, die dazu führt, dass ich die Sätze dann in der Regel korrigiere, kürze, oft weglasse, sogar oft Titel vermeide. Das kann auch einfach eine Textschwäche sein oder eine künstlerische Prägung. Dennoch, das Faszinierende an einem Stein ist für mich in dem Zusammenhang auch, dass er dem Textlichen – und dem Menschen – gegenüber vollkommen indifferent ist. Das Thema zieht mich einfach an. Diese Indifferenz ist es auch, denke ich, warum es in der klassischen europäischen Kunstgeschichte, soweit ich weiß, keine Stillleben mit Steinen gibt. Es wird alles abgebildet, aber das Naheliegende, das immer schon gesammelt wurde, immer schon mit Bedeutung aufgeladen wurde, z.B. die Steine auf Gräbern, die Grabsteine überhaupt usw… dass die Steine trotzdem auf den Stillleben nicht zu finden ist.
F.L. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Stein an sich, weder dem Menschen noch dem Textlichen gegenüber indifferent ist. Der Stein ist Teil der Welt, so wie der Mensch, d.h. wir stehen im direkten Austausch. Willst Du den Steinen, die Du abgemalt oder eingesammelt hast, das Recht absprechen, dass sie Dich möglicherweise in ihren Bann gezogen haben? Du sagst, Du hast sie ausgesucht, vielleicht war es aber auch umgekehrt, vielleicht haben sie sich ja Dich auch auserwählt, mit ihnen in einen besonderen Austausch zu treten. Offensichtlich hatten sie Dir ja was mitzuteilen.
Ich habe mir gerade ein Bild von Gao Xu angesehen, das hat er 1503 gemalt. Auf Englisch heißt der Titel: Mi Fu Bowing to a rock. Die Erklärung dazu ist die folgende:
The scholar-artist Mi Fu was an eccentric of the eleventh century, and one of the four great calligraphers of the Song dynasty. It was well-known that he had a peculiar admiration for certain rocks. In this period, men of culture collected and placed in their gardens rare and unusual rocks from Lake Tai, which had become pitted and worn by the actions of wind and waves over many centuries. Mi Fu believed that some these rocks had their own souls and he was in the habit of paying them his respects, by bowing before them as if they were venerable old gentlemen.
Was das Textliche betrifft, gibt es noch ein zweites Bild in der Serie. Da sitzt ein Mann vor einem großen Gelehrtenstein mit einer losen Rolle Papier in der Hand. Der Titel des Bildes heisst: Seeking a Suitable Phrase.
AS: Die Steine, die ich meine, sind nicht die besonderen, wie die in den chinesischen Bildern abgebildeten, sondern eher die gewöhnlichen Kieselsteine, die überall rumliegen. Aber Du sprichst etwas Wichtiges und Grundsätzliches an. Ich finde das auch deshalb interessant, weil Du Dich ja viel mit der chinesischen Kultur, der zeitgenössischen, aber auch der traditionellen, beschäftigt hast, einige Jahre in Asien gelebt hast, auch aktuell in Taipei lebst und auch Chinesisch lernst. Für mich ist das unsicheres Terrain. Aber ich denke, ja, natürlich sind wir nicht getrennt von dem Stein, materiell nicht und ökologisch sowieso nicht. Ich bin überzeugt, dass vom Stein zu uns ein Kontinuum ohne Grenze besteht. Ich meinte nicht leblos im Sinne einer Subjekt-Objekt-Trennung, sondern in biologischer Hinsicht. Wenn man dem Stein nun etwas zuspricht, das über die pure Materialität und unsere ökologische Verbundenheit hinausgeht, etwas, was natürlich immer gemacht wurde, der heilige Stein, der Erinnerungsstein, seit es die Menschheit gibt. Bredekamp schreibt in einem Text, dass sogar schon Affen Steine als quasi-rituelle Orte gesammelt haben und das eines der allerersten Zeichen für Kultur sein könnte. Also das gab es immer und dennoch habe ich da meine Schwierigkeiten zu folgen. Für mich ruft der Berg nicht, sondern wir wollen gerufen werden. Diese Wunschübertragung, psychologisch gesprochen, funktioniert natürlich gut, weil der Stein nicht widersprechen kann, er ist perfekt dafür geeignet. Aber gleichzeitig denke ich manchmal, wenn ich Steine abmale, dass alles auch ganz anders sein könnte und versuche in den Stein hineinzulauschen. Vermutlich wäre ich dann einer der ersten, die vor dem Stein in die Knie gehen würde, wenn er sich einmal melden würde, aber bisher war das nicht der Fall.
FL: Für mich ist es wertvoll zu wissen, dass Dir Deine Töchter beim Sammeln der Steine behilflich sein werden, und ich finde es toll, dass sie mitmachen. Welche Fähigkeiten und Erwartungen werden da in Deinen Töchtern wach oder geschult, wenn sie da am Wochenende vorm Berghain auf der Baustelle sitzten und für ihren Vater kleine Steine aufsammeln?
AS: Es war schön heute mit meiner Tochter, wir haben nebenher über alles mögliche geredet, zwischendurch kam lauter Techno aus dem Berghain. Weiter hinten auf dem Brachgelände, wo der Schotterweg ist, wohnen illegal Menschen, die auch vorbeigekommen sind und mit uns geredet haben. Nebenan ist ein Baumarkt, dann die Metro mit einem Sportplatz auf dem Dach, eine riesige Baustelle, wo gerade ein ganzes Stadtviertel gebaut wird, die Opernwerkstatt, das Neue Deutschland, ein Nachbarschaftsgarten… Es ist eine sehr faszinierende Ecke, mitten in Berlin und sehr nah an unserer Wohnung. Es war interessant mit meiner Tochter über diesen Ort zu reden. Sie hatte auch gute Ideen zu meiner Arbeit, zum Beispiel sagte sie, dass man nach dieser Arbeit, nochmals die eine zweite oder weitere Arbeiten machen kann, die immer die nächste Schicht von dem Weg abtragen. Super Idee – die übrigens das Flächige der Arbeit sehr genau erfasst, wovon Du sprichst…
Meine andere Tochter hat mir letzte Woche geholfen. Sie steckt nochmals ganz anders in der Arbeit, weil sie, seit sie ein kleines Kind war, Steine gesammelt hat und eine sehr schöne Steine-Sammlung besitzt. Sie hat mir auf allen Urlauben und Spaziergängen über Jahre wunderschöne Steine gezeigt und vermutlich bin ich auch deshalb auf die Idee mit den Steine-Stillleben gekommen.
FL: Was gibt es noch in der Ausstellung zu sehen?
AS: Im gleichen Raum wie die Steine- und Staub-Fläche wird auf der Wand eine ca 3 x 6 m große hellgrüne, rechteckige monochrome Fläche sein, die mit fast reinem Chlorophyll gemalt ist, das ich aus Spinat oder Brennesseln herstelle. Ich versuche der Steine-Fläche, die ja etwas Zeitloses und Lebloses hat, etwas Lebendiges, sich Veränderndes gegenüberzustellen. Das Blattgrün, das ja für biologisches, pflanzliches Leben steht, verblasst an der Wand schnell und ist nach wenigen Wochen fast nicht mehr zu sehen. Es ist auch ein wenig die Farbveränderung im Herbst oder wenn Blumen welken, wobei natürlich immer viele verschieden chemische und biologische Faktoren eine Rolle spielen.
FL: Ich kann mir keine Staub-und Steinfläche vorstellen, die etwas Zeitloses oder Lebloses hat. Für mich sind Steine in ständiger Veränderung, genau wie Bäume oder Wolken oder Menschen, sie werden nass, sie werden staubig, sie rollen rum, die mineralische Zusammensetzungen verändern sich aufgrund von Temperatur- oder Druckschwankungen, sie rutschen ab, sie spalten sich, erodieren, werden verschüttet, bröseln, ein Vogel kackt drauf, ein Bär stülpt sie um, der Fluss wäscht sie rund, und manche von ihnen fliegen Jahrmillionen lang durchs Weltall und knallen dann bei irgendjemanden durchs Dach. Kannst Du Dich noch an die herrliche Stelle bei Rico, Oscar und der Diebstahlstein von Andreas Steinhöfel erinnern? Da hat sich doch dann irgendwann herausgestellt, dass der kranke Nachbar Fitzke, der über den beiden Jungs in der Diefenbachstrasse in Berlin gewohnt hat, eine riesige Sammlung von sogenannten Zuchtsteinen hatte, die er Rico dann vererbt hat. War das nicht so, dass Fitzke bestimmte Steine miteinander gekreuzt hat, in der Hoffnung, dass sie Nachwuchs hervorbringen? Und war er nicht sogar erflogreich mit diesem sogenannten Kalbstein, der dann aufgrund seines angenommenen, hohen Wertes auch noch gestohlen wurde.
AS: Das stimmt, Steine sind nur scheinbar zeitlos, tatsächlich aber voller Geschichte und Verwandlungen. Und vermutlich ziehen mich Steine auch deshalb so an, weil sie, trotz ihrer scheinbaren Leblosigkeit und ihres unfassbaren Alters oder gerade deshalb, einen Eindruck der Geschichte und Veränderung vermitteln. Der Stein ist älter als wir Menschen und wird die Menschheit auch überdauern.
Die Schotterfläche besteht allerdings tatsächlich aus einer Mischung aus Natursteinen und aus Betonschottersteinen, einem Industrieprodukt, das eine sehr junge, ziemlich brutale und menschengemachte Geschichte in sich trägt. Es ist also eine Mischung aus natürlichem und industriellen Material, in dem feinen Sand und Staub ist die Mischung nicht mehr auseinanderzuhalten. Das Material ist in dem Sinne aber doch leblos, dass es sich ohne Fremdeinwirkung in unserer Lebenszeit kaum noch verändern wird.
Bei der Ausstellung geht es mir dabei besonders um das Verhältnis verschiedener Zeitlichkeiten und den großen Kontrast zwischen den Steinen und der Chlorophyllfläche.
FL: Ja, die Chlorophylfläche existiert in einer anderen Zeitebene als die der Steine, und beide Arbeiten nebeneinader veranlassen den Betrachter sich das jetzt im Plural vorzustellen und sich zu fragen, ob Zeit als solches eigentlich existiert oder ob es nur ein Hilfsmittel ist, die sich ständig vollziehenden Veränderungen aus dem Chaos heraus in ein kalkulierbares, dem Kapitalismus förderliches Effizienzsystem zu ziehen. Die Zeit der Uhr ist eine Illusion, sagte Einstein. Wie stellst Du Dir die Zeit der Chlorophyllfläche vor?
AS: Ich finde die Vorstellung, dass das Grün verblasst, schön, wie ein Klang, der verhallt. Man kann sich das zeitlich gerade noch vorstellen. Die Veränderung der Steine ist mir zwar bewusst, aber sie entzieht sich meiner Vorstellungskraft.
FL: Ich nehme mal an dass Dein Chlorophyllbild über die Zeit verbleicht, weil das Chlorophyll, abgetrennt von der Pflanze, abstirbt. Du sagtest, Du wirst Spinat oder Brennessel mixen, was würde aber passieren, wenn Du grüne Eichenblätter oder Ahornblätter verwendest, Blätter also die sich im Herbst erst stark verfärben, bevor sie absterben? Würde Dein Wandbild dann erst durch eine Gelbphase oder durch eine Rotphase durchgehen, bevor es verbleicht?
AS: Ich habe im Frühjahr in Fachsenfeld zwei Wandmalerein gemacht mit Farben, die ich aus unterschiedlichen Blättern gekocht habe. Bei einer der Flächen mit der Farbe einer Rotbuche, war das ein wenig der Fall, die Färbung veränderte sich ein wenig von einem Rot mit Grünstich hin zu einem rötlichen Braun. Nur finden im Blatt noch viel mehr chemische Prozesse statt, als wenn die Farbe herausgelöst wird und an der Wand vergilbt oder braun wird. Aber mir würde die Idee gefallen, den ganzen herbstlichen Verfärbungsprozess an der Wand stattfinden zu lassen.
Ich denke, biologisch betrachtet, verfärbt sich isoliertes Chlorophyll selbst nicht wie ein Herbstblatt, es verblasst nur durch Licht- und Sauerstoffeinwirkung. Aber diese Sensitivität finde ich gerade interessant und natürlich hat diese grüne Fläche für mich auch eine metaphorische Bedeutung.
F.L. Wenn wir so darüber sprechen, stelle ich mir gerade vor, dass wir die Welt vielleicht ähnlich wie die Blätter wahrnehmen. Wir filtern das aus der Atmosphäre heraus, was wir direkt verarbeiten können, und das, was wir nicht zum direkten Lebenserhalt benötigen, das werfen wir als Bilder, Ideen, Illusionen und Vorstellungen in die Welt zurück. Vielleicht kann man ja deshalb auch sagen, dass jedes grüne Blatt eine Künstler/in ist, der oder die sich im Grünbereich ausdrücken.
Welche metaphorische Bedeutung hat die grüne Fläche für Dich?
AS: Das ist wunderbar formuliert. Möchte ich nichts hinzufügen.
FL: Mit Fossil stellst Du den nächsten, für mich offensichtlichen Zeitträger in the Raum. Du hast den körperliche Überrest eines versteinerten Farns auf ein Stück altes Holz gemalt, welches im Vergleich zum Farn, die laut Fossiliendefinition mindestens 10.000 Jahre sein sollte, wahrscheinlich ganz jung ist. Sagen wir einfach mal, dass das Brett auf das Du gemalt hast 30 Jahre alt ist, und der Baum von dem dieses Brett geschnitten wurde 100 Jahre alt war. Da tragen dann also 130 Jahre Realmaterial die Vorstellungskraft von 10.000 Jahren. In welcher Relation steht dazu, falls Dir dieses leicht absurde Rechenpuzzle nicht zu blöd erscheint, das Entstehungsjahr des Bildes: 2024?
AS: Genau so sehe ich das Bild auch und die Malerei fügt diesen Zeitschichten noch eine weitere, eine aktuelle hinzu, die Zeit des gemalten Bildes, die Zeit des Pinselstrichs.
FL: Zu Deiner Malerei: Die Kohlengrube ist irgendwie anders als die anderen Bilder. die Du zeigst. Das Bild hat etwas Märchenhaftes und scheint sich nicht davor zu scheuen, eine Geschichte zu erzählen. Wie ist das Bild entstanden?
AS: Das Bild ist für eine Ausstellung in einer Ruine entstanden, die mal ein Zechenhaus einer längst aufgegebenen Braunkohlegrube südlich von Berlin war. Die Ausstellung, de von Vlado Velkov kuratiert wurde, fand vor ein paar Wochen im Freien und nur an einem einzigen Tag statt. Morgens hängten wir die Bilder auf, abends wieder ab.
Das Bild zeigt das Modell dieser Braunkohletagebaulandschaft, das ich in der Nähe in einem Heimatmuseum befunden habe. Es fällt insofern heraus, weil es tatsächlich diese narrative Ebene hat: So hat es dort einmal ausgesehen… Es ist gleichzeitig aber auch eine Variation der Interieurbilder, die auch immer das Modell eines konkreten Ortes, mein Atelier, zeigen. Der Ort der Ruine und der daneben liegende See ist für mich sehr ausdrucksstark in Beziehung auf die vielen geologischen und historischen Schichten, die Transformation von Material. Es führt, wenn man so will, auch direkt zu den Atelier-Interieurs, die ich dort auch gezeigt habe. Der Brauchkohlebergbau war, wie die vielen Ziegeleien in der Gegend, mit der dort gewonnenen Braunkohle und Ton, zentrale Materialien, die das Berlin der Gründerzeit hervorgebracht haben und in der auch das Haus gebaut wurde, in dem mein Atelier ist. Das Gebäude stammt genau aus der gleichen Zeit und die Zeigelsteine, die ich in der Umgebung in Baugruben gefunden und gemalt habe, wurden möglicherweise in genau dieser Gegend hergestellt.
Der Ort der Ausstellung ist aber auch ökologisch interessant, da der Tagebau schon im 19. Jahrhundert aufgegeben wurde und die Gegend, die eigentlich eine Industriefolgelandschaft ist, längest wieder von der Natur eingenommen wurde…
F.L. Wir haben jetzt viel über die Relativität von Zeit und Wahrnehmung gesprochen, also darüber nachgedacht, wie unsere Wahrnehmung nie absolut sein kann, sondern ein Konglomerat von bestimmten Umständen ist, dass sich ständig verändert und deshalb nicht absolut sein kann. Mir macht es deshalb immer viel Spass über Deine Astarbeiten nachzudenken. Du nimmst einen Ast, der sich ja natürlicherweise zur Spitze hin verjüngt, schneidest ihn in dünne Scheiben, bohrst ein Loch in die Mitte der Scheiben und fädelst sie dann so auf eine Schnur, wie genau nach welchem Prinzip, das müsstest Du bitte noch mal erklären.
AS: Wenn ich den Ast zersägt und gelocht habe, kann ich die Reihenfolge beliebig verändern und es entstehen immer andere Muster. Ich habe auch schon mehrere Äste wieder aufgefädelt und für eine neue Ausstellung oder nur für mich wieder neu angeordnet. Das hat eher einen spielerischen Charakter, keinen systematischen. Was aber immer gleich bleibt, ist die Vorgabe, dass ich nur jeweils einen Ast für eine Arbeit verwende.
FL: Wenn ich mir die Arbeit ansehe, denke ich, dass Du durch Deinen Eingriff die Linearität unterbrochen hast. Du hast die Verjüngung des Astes zehn mal verkürzt und komprimiert. Da Du alle Teile linear aneinanderhängst, ist die Länge des Astes am Ende noch dieselbe. Die dem Ast innenwohnende Kontinuität wurde durch eine zehnfache Wiederholung einer komprimierten Form dieser Kontinuität ausgedrückt. Was mir dazu einfällt, ist Fliessbandarbeit, industrielle Effizienz, Musterekennung, Regelmässigkit, Berechenbarkeit. Ich könnte mir vorstellen, dass eine maschinelle, künstliche Intelligenz die Dinge um uns herum ähnlich erkennt, oder aufteilt. Aber bevor wir die Interpretation der Arbeit vorwegnehmen, was hat Dich eigentlich dazu veranlasst, den Ast in Scheiben zu schneiden? Wie hat es angefangen mit den Astarbeiten?
AS: Für mich haben die Arbeiten nicht den Charakter von Fließbandarbeit, auch wenn es sehr repetitiv ist. Die Äste entstehen über viele Wochen oder Monate und meistens mache ich nicht nur diese Arbeit, sondern parallel andere Arbeiten, Malerei etc. Ich konzipiere meine Arbeiten auch immer so, dass ich das Allermeiste alleine machen kann und ich finde diese Unabhängigkeit auch angenehm. Du arbeitest ja meistens mit anderen Menschen zusammen, in der Regel mit Hajoe oder auch Euren Kindern. Das finde ich auch sehr schön, aber bei mir ist das nur sehr selten der Fall, ich bin eher der einsame Atelierkünstler… Bei den Ästen ist es ein sehr haptisches Arbeiten mit einem Material, bei dem der Ast genauso mitbestimmt, wie die Arbeit wird, wie ich selbst. Es ist eine Zusammenarbeit, wenn man so will, zwischen mir und dem Ast. Ein Dialog auf Augenhöhe. Der Eingriff ist schon stark, das Zersägen und Durchlochen… Aber am Ende ist auch von dem Ast noch sehr viel mitbestimmt. Ich finde das ist sehr weit weg von einer künstlichen Intelligenz, ich berühre jeden Zentimeter des Astes, jedes Segment habe ich unzählige Male in der Hand gehalten, gesägt, gelocht, geschliffen, es ist sehr körperlich, es riecht gut etc. Und wie gesagt, alleine die Aufteilung in gleiche Abschnitte ist für mich nicht gleichzusetzen mit einer mathematischen Rationalität. Unser Atem, unser Herzschlag, die Schritte, wenn wir gehen… Ich sehe da eher einen Zusammenhang in diese Richtung.
FL: Noch eine Frage: Du stellst diese Steinfläche in einer kommerziellen Galerie aus. Falls sie verkäuflich ist, was sind die Bedingungen für den Käufer? Kann er die Materialien in der Kiste besitzen, oder muss die Arbeit aufgebaut sein?
AS: Ich habe schon oft Installationen aufgebaut, auch in Galerien, die erstmal überhaupt nicht für den Verkauf bestimmt waren. Mit den Galerien einigt man sich schnell auf den Preis „auf Anfrage“ und redet nicht weiter darüber. Ich habe aber auch die Erfahrung gemacht, dass nur Leute oder Institutionen Kaufinteresse an solchen Arbeiten haben, die genau wissen, auf was sie sich einlassen und mit solchen Arbeiten umgehen können. Man findet dann eine Lösung, wenn es soweit ist.