Sabine Knust

Georg Baselitz und Ernst Ludwig Kirchner

10 Oct - 04 Nov 2008

Ernst Ludwig Kirchner
GEORG BASELITZ UND ERNST LUDWIG KIRCHNER
Von Landschaft und Bäumen

10.Oktober – 4.November 2008

Baumzeichen

Baselitz und Kirchner: Beiden gemeinsam ist ein von Rang und Umfang bedeutendes zeichnerisches Werk.Von verschiedenen historischenAusgangspunkten ausgehend, konvergieren ihre Zeichnungen in einer spannungsreichen, abstrakten Zeichensprache, welche die Naturformen nicht nachbildet. Beiden gemeinsam ist die starke Übersetzungskraft, Natur in Kunstformen zu verwandeln. Bei Baselitz und Kirchner haben die Zeichnungen nicht die Funktion einer Vorzeichnung, eines Entwurfs oder einerWerkzeichnung. Als autonome Zeichnungen stellen sie ein Experimentierfeldzur Gewinnung neuer Formen dar. Sie erweitern und bereichern das Arsenal der Künstlerzeichnungen, indem sie die Grenzen der bisherigen Zeichnung sprengen. Es ist interessant zuuntersuchen,wodurch sich die Arbeiten von Kirchner und Baselitz einerseits gleichen und andererseits unterscheiden. Kirchner hat seine Zeichnungen „vielleicht das Reinste, Schönste seiner Arbeit“ genannt. Das Reinste, weil sie als spontane Niederschrift ihr Vokabular offen zu erkennen geben und als Zeichenspur auf dem Papier jede Bewegung der Hand und Empfindung des Zeichners festhalten. In ständigem Zeichnen übte er,dieUmsetzung desWahrgenommenen in Zeichenformen zu automatisieren,um sie nicht durch bewusste Absichten zu stören.
„Kirchner zeichnet, wie andere Menschen schreiben“ (Kirchner unter demPseudonym L. de Marsalle). DieZeichnung als Schriftsprache,die nichtmitBildern arbeitet, sondern mit abstrakten Formen,die Kirchner Hieroglyphen nannte. Seine „Hieroglyphen“ haben jedoch keine festen Bedeutungen, vielmehr erhalten sie diese nur im Zusammenhang des ganzen Bildes. Damit betont Kirchner zumeinen die Selbstverständlichkeit der Tätigkeit seines Zeichnens und zum andern die Verwandtschaft seines Zeichnungsstils mit einer persönlichen Handschrift.Tatsächlich erkennt man Kirchner-Zeichnungen an seiner charakteristischen Zeichnungsschrift, in der sich dieVitalität und Erregung seiner Persönlichkeitoffenbart, die aber zugleich alsKunstwerk das Subjektive übersteigt.
Im Gegensatz dazu lehnt Baselitz dasHandschriftliche einer Zeichnung als Charakterschrift als zu subjektiv ab. DieZeichnung soll auf sich selbst verweisen und nicht auf den Künstler.
Baselitz kultiviert keinen durchgängigen Stil, sondern nennt seineArbeiten in den verschiedenen Phasen seines Werks, das sich in Brüchen immer wieder neu gestaltet, stillos. Vergleicht man eine Baumdarstellung in Tuschfeder und Aquarell aus der Remix-Zeit von 2007 mit Baum-Aquarellen von 1978, dann erkennt man eine völlig andere Art des Zeichnens. Die neuen Arbeiten wirken noch freier in der Setzung der Striche und Flecken.
Dünne Tuschfederlinienin verschiedenen Richtungen dynamisieren die Bodenfläche. Schwarze, ausgefranste Flecken, die ein bizarresGeflecht bilden, markieren Stämme und Äste. Die blaue Fläche hinter den Bäumenund die weiße Übermalung der Baumkronen suggerieren Räumlichkeit. Das Aquarell ist in erster Linie ein farbiges Gebilde auf dem Zeichenpapier und evoziert außerdem das Bild eines natürlichen Baumes. Der Ausgangspunkt für die Zeichnung bei Kirchner ist das Naturerlebnis. Den Reichtum der Formen schöpft er aus der unendlichenNatur, deren Vielfalt verhindert, dass seine Kunst in routinierter Manier erstarrt. Baselitz dagegen entwickelt die Zeichnung aus dem Zeichnen. Was abstrakt auf dem Papier beginnt, gewinnt in der Entfaltung eine identifizierbare Gegenstandsbezogenheit wie Baum, Adler oder Akt. Das Naturvorbild ist für ihn nur ein Bezugspunkt, die Zeichnung inhaltlich erkennbar zu machen und nicht in ein willkürliches Spiel abgleiten zulassen. Für seine Zeichnungen gilt dasselbe, was Kirchner zu seinen Arbeiten gesagt hat: „Sie sind keine Abbildungen bestimmter Dinge oderWesen, sondern selbständige Organismen aus Linien, Flächen und Farben, die Naturformen nur insoweit enthalten alssie als Schlüssel zumVerständnis notwendig sind.“
Mit demThema Baum und Waldlandschaften haben sich beide Künstler in Bildern, Druckgraphiken und zahlreichen Zeichnungen in verschiedenen Materialien wie Blei, Tusche, Farbstift oder Aquarell beschäftigt. Die Folge von 36 Radierungen Bäume, 1974/75, von Georg Baselitz führt eine Vielfalt an graphischen Konstruktionen in verschiedenen Radiertechniken wie Kaltnadel, Ätzung oder Aquatinta vor.
Auf der formalen Ebene könnte man von der Einübung unterschiedlicher Kompositionen von Blatt zu Blatt und der Erarbeitung eines Repertoires von Formen sprechen.
Spröde Kaltnadelstriche unterschiedlicher Stärke, geätzte Linien und durch Ätzung oder Aquatinta getönte Flächen verbinden sich zu einem großen Formenreichtum, der als abstrakte Konstruktion schon an sich interessant ist. Die Zeichnungselemente verweben sich zu einem Formgefüge, dessen Gesetzmäßigkeit sich erst mit seiner Entstehung bildet und weder die Gegenstände abbildet nocheine expressive oder automatische Handschrift ist. Aber das Wesentliche an den radierten Bildern ist, dass in diesen formalen Zeichnungsnetzen dieNaturhaftigkeit der verschiedenen Wuchsformen von Bäumen und Baumgruppen, die sich in manchen Blättern zu fast
altmeisterlichen Waldlandschaften verdichten, eingefangen ist. In ihrem Reichtum an Formen und Grautönen korrespondieren die radierten Bilder mit den vielfältigen Erscheinungen der Natur. Sie besitzen die Lebendigkeit selbständiger Organismen. Mit dem Naturvorbild verbindet sie nicht das Abbildhafte, sondern ihre Vitalität, die in der Dynamik der Formenund Striche liegt.Nach seiner Übersiedlung in die Schweiz 1917 widmet sich Kirchner in allen Medien seiner Kunst intensiv derGestaltung der neuen Erlebnisse der Alpenlandschaft und der Bergwälder. Seine kräftigen Tuschpinselzeichnungen lösen das Waldinnere in ein Muster von Flecken und Strichen auf, das Assoziationen an Stämme und Äste, Licht und Schatten weckt. Aus vertikalen und horizontalen Richtungskräften entsteht ein vibrierendes Gleichgewicht der Formen.Die Radierungen sind den Zeichnungen ähnlich,denn Kirchner zeichnet mit der kalten Nadel auf der Zinkplatte wie mit dem Bleistift auf Papier und bereichert die Strichzeichnungen häufig durch Pinselätzung mit lavierten Flächen. SeineRadierungen wie Bergtannen, 1920 (dube r. 349), oder Bergtannen im Nebel, 1921 (dube r. 354), besitzen durch die Übersetzung der Naturformen in ein Flächenmuster von Strichen und Linien eine große Ähnlichkeit mit den Baum-Radierungen von Baselitz.Doch trotz des hohenAbstraktionsgrads entstammen die einen unverwechselbar der Hand von Kirchner und die anderen der von Baselitz. Die unterschiedliche Körpersprache, die sich über die Hand dem Bild mitteilt, und der historische Abstand von mehr als 50 Jahren lassen sich nicht verleugnen.
Die verschiedenen künstlerischen Anfänge, die bei Kirchner in der expressiven Kunst und bei Baselitz in der abstrakten liegen, machen sich auch in den späterenWerken bemerkbar. Wenn Kirchner in den Bergtannen im Nebel auch das Atmosphärische einfängt – man glaubt, die Nebelschwaden zwischen denTannen ziehen zu sehen –, dann offenbart sich eine romantische Naturauffassung. Die Zeichnungen von Baselitz dagegen blacken weniger nach außen, als dass sie auf dieRealität des Bildes verweisen.

Günther Gercken
 

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