GIANLUCA RANZI: VALÉRIE FAVRE ...
Gianluca Ranzi: Valérie FavreEs irrt der Mensch, solang er strebt
Johann Wolfgang Goethe, Faust I
Au Lapin Univers/Agile
Kulturgeschichte ist auch immer eine Geschichte vom Menschen und seinem Irren, was zugleich im Sinne des Irrtums wie etymologisch aufgefasst werden kann als Umherschweifen, unablässige Suche und Bewegung als Voraussetzung neuer Erkenntnisabenteuer sowie als vitale Reaktion gegen Verkrustungen und Verhärtungen.
Der Goethe so liebe Gedanke des Umher-Irrens ist unverzichtbare Grundbedingung, um zur Wahrheit zu gelangen, und beinhaltet eine positive Einstellung zum Zweifel, zum Nomadentum, zur Entdeckung, zum Experiment.
Die Arbeit Valérie Favres lebt ganz grundsätzlich von dieser Hingabe an die Bewegung und wird dadurch zu einem anarchischen, ins Freie weisenden Aktionsfeld eines gemeinsamen Spiels ohne feste Zuordnungen von Haupt- und Nebenrollen, individuellen und kollektiven Phantasmen, unvermeidbaren und unübertragbaren persönlichen wie auch allgemein transkulturellen, archetypischen Mythen.
Shakespeare legt im Sturm Prospero die Worte in den Mund, dass der Mensch aus eben dem Stoff sei, aus welchem die Träume sind; und die Inschrift auf dem Grabstein John Keats auf dem protestantischen Friedhof in Rom lautet: »Here lies one whose name was wright in water«.
Ja, und die Malkunst von Valérie Favre ist genau daraus gemacht: aus Träumen und Wasser, aus Nichtfassbarem und Fließendem als Garantie auf Freiheit, auf das Vorstoßen in unbekanntes Terrain, auf die Entdeckung neuer Gefühlswelten, auf das Aufbrechen von Schattenreichen, in die nie auch nur ein Sonnenstrahl drang. Diese Bilder mit ihrer exorbitanten Fabulierkunst stimulieren unsere Lust aufs Erzählen, auf die abertausend möglichen Geschichten, die den Horizont unseres Lebenssinns unendlich erweitern um die Vielzahl der gangbaren Wege heraus aus dem Käfig unumstößlicher Wahrheiten.
Wie das Kind, welches vor noch nicht allzu langer Zeit als kleiner Träumer im Mutterbauche schlummerte, voll Freude den Geschichten zuhört, die ihm erzählt werden, umhüllen Erzählungen in einer bunten Seifenblase ihre Zuhörerschaft, wie die Wasserschleier, die die letzten Arbeiten der Künstlerin zu verhängen scheinen, uns ein Traumland eröffnen, auf dessen Boden wir Bekanntschaft machen mit ihrer ganz eigenen Welt mythologischer und alltäglicher Fauna sowie phantasmagorischer Flora, sprechender und sich bewegender Puppen, bedrohlicher Heiligenfiguren und beruhigender Putten sowie jener Häschen in ihrer vermeintlich kindlichen Treuherzigkeit, die jedoch so ohne Arg nicht mehr sind, haben sie doch die erste Unschuld längst verloren und wissen auch um die Furchtbarkeit von Enttäuschungen.
Wasser, Träume, Umherschweifen - die Vorstellungswelt einer Künstlerin, ihr Nomadentum, pervers und vielförmig, ist es, was den kleinen Leuten die Welt, die sie umgibt, als jenen ewigen Kreuzweg des Daseins erscheinen lässt, von dem aus alle Richtungen zur freien Wahl stehen.
Aufgepasst aber: Die Geschichten der Valérie Favre gehen nicht auf in der einen, wirklichen Geschichte, sondern sind offene Räumlichkeiten, um darin auch all die Geschichten einladen und lebendig werden lassen zu können, die noch zu erzählen sind, die erzählt werden müssten; sie sind Inhalt und Behältnis zugleich und zeigen an sowohl die Fülle der eigenen Individualgeschichte als auch die nötige Leere, die darauf wartet, mit unseren Geschichten bevölkert zu werden. Favres Arbeit ist, wie es dem reinen schöpferischen Geist zukommt, frei von Richtungsangaben und Sicherheiten und besitzt jenen neuen Relativismus, der ausgehend von der unglaublichen Komplexität der Entwicklungen in der heutigen Welt ihre Vorhersagbarkeit in Frage stellt und Chaos produziert. Gerade dies aber ist die intellektuelle Herausforderung, welche sich einer Begriffsverengung im Sinne eines reduktiven Aus-den-Fugen-geraten-Seins verweigert in Richtung auf produktive Auseinandersetzung.
Die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes der Instabilität ist zugleich auch Ausdruck der postmodernen Praxis und ihrer Poetik des Alltäglichen, Inhalt und Form in Fragmente zu zergliedern, wie sie auch vorgeführt wird von anderen europäischen Künstlerinnen, seien es Eva Marisaldi, Cornelia Parker, Elke Kristufek oder Marlene Dumas, und in der Malkunst der neunziger Jahre von den Amerikanerinnen wie Sue Williams oder Karen Kilimnik. Ihr Umgang mit Fragen der Subjektivität und Selbstfindung führt Favre allerdings nicht zu jenem Stil der Eigenwerbung, der Künstler wie Jeff Koons ins Rampenlicht befördert hat, bestätigt allerdings eine thematische Verschiebung in den Künsten auf bis dato gering geschätzte low-tech-Wirklichkeiten der Selbstbespiegelung, die den Aspekt des Sozialen als nebenseitig verstehen, ohne dabei jedoch in der Sackgasse des Narzismus zu enden, wohl aber und ganz im Gegensatz dazu auf dem Plateau der Menschheit.
Es vibriert eine Poetik der Anhäufung im Mnemo-Dschungel Valérie Favres, die Atmosphärisches bei Ensor erinnert und die Leinwand zu einem Schlachtfeld der Dialektik von Vergangenheit und Gegenwart macht, um zur Synthese der Widerspruchspaare zu gelangen - man erinnere Jung -: von Denken und Fühlen, Gefühl und Intuition, Männlichem und Weiblichem, Intro- und Extraversion sowie, könnte man getrost anfügen, von Unschuld und Sündenfall, Apotheose und Verdammnis.
Auf diese Weise wird es der Künstlerin möglich, sich von der bloßen Chronik der Ereignisse zur Geschichte, vom Vergänglichen zum Bleibenden, von der Synchronie zur Diachronie fortzuentwickeln und den Beweis ihrer ästhetischen Autonomie anzutreten auf der Grundlage von Entpersönlichung des Endprodukts und einem entwickelten formalen Gespür.
Lapin Univers ist der Titel einer Serie von jüngeren Arbeiten, begonnen 1999, und wird dann zur Jahrtausendwende verändert in Lapin Agile - wiederum ein Raum, ein Ort des Zusammentreffens, des Austauschs, der Weitervermittlung von Erfahrungen, ihrer Multiplikation dank all derer, die sich damit auseinandersetzen - und ist zugleich natürlich eine Hommage an jenen legendären Ort, jenen wegweisenden Treffpunkt der grössten Künstler im Paris des gerade angebrochenen 20. Jahrhunderts. Ähnlich wie beim Prozess der Zellteilung stellt die neue Version von Lapin Univers/Agile, ohne auf Kontinuität zu dringen, eine Rapidität in Zeit und Raum unter Beweis und sammelt in ihrem Netz dennoch die Konstanten, die die Geschichte des Daseins und der Kultur ausmachen. Oder wie es Valérie Favre ausdrückt: »Toutes les filles s’appellent Sophie. Tous les garçons s’appellent Patrick«.