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WOLF SCHMELTER
 

DER LANDVERMESSER: WOLF SCHMELTERS ILLUSIONSMASCHINE

Auszug aus dem Pressetext zu ANGSTRAUM, Kuenstlerhaeser Worpswede (6.12.08-15.01.09)

(...) Der Bildraum in den Fotografien von Wolf Schmelter lässt begehbare Landschaften assoziieren. Aufgeladen in ihrer dramatischen Lichtführung verweisen sie auf die Bedingungen ihres Sehens, sie erlauben Einblick in etwas, das sich mit dem Sehen des Sehens umschreiben lässt und zugleich die Trennschärfe zwischen Gesehenem und Imaginiertem aufhebt. In der Auflösung im Bilddunkel und ihrer Unschärfe reflektiert Schmelter auf die Medialität der Fotografie als Doppelgängerin des historischen Mediums Malerei. Zugleich enthüllen seine Arbeiten in der Wahrnehmung dessen, was konstituiert durch die technische Bedingtheit fotografischer Bilder als äussere Realität erfahren wird: das Optisch-Unbewusste. Diesem, durch Walter Benjamin geprägten Begriff zufolge, bildet die Kamera Wirklichkeit nicht ab, sondern dringt in sie ein und enthüllt an ihr das Optisch-Unbewusste, analog dem Triebhaft-Unbewussten der Freudschen Psychoanalyse. Die Orte, die hierfür aufgesucht werden - ein nächtliches Maisfeld, ein abgeschiedener Teich, eine Wiese am Waldrand - verwandeln sich in der Art ihrer Darstellung in ein mythisches Dickicht, in einen phantasmatischen Raum als leere Oberfläche, als eine Art Leinwand für die Projektion des Begehrens. Angst droht Lacan zufolge hier nicht in dem Verlust eines Objektes, sondern darin, sich dem Objekt zu sehr zu nähern. Diese Angst vor dem „Mangel eines Mangels“ lässt die Orte in ihrer Ausschnitthaftigkeit immer auch auf einen anderen, abwesenden verweisen - sei es in der seriellen Hängung und ihrer darin angedeuteten Erzählung oder in ihrer Dekonstruktion in Form des Als-ob.



Katalogtext zu Video Illusionsmaschine (2001)

Der Landvermesser: Wolf Schmelters Illusionsmaschine

Wer möchte jene melancholischen Momente missen, die man manchmal erlebt, wenn man im Winter in einem Regionalzug über Land fährt. Eine feine Schneeschicht bedeckt die Felder. Der Himmel ist wie ein weisses Laken über die Landschaft gespannt. Unmöglich zu sagen, wie spät es ist. Die Zeit zwischen Abfahrt und Ankunft des Zugs dehnt sich. Man könnte für immer so weiterfahren. Die Sinne werden unscharf, und man befindet sich in jenem tagträumerischen, anästhetischen Zustand, der gern mit "weisses Rauschen" beschrieben wird. Jeder kann diese Stimmung aus der Erinnerung evozieren. Bestimmte Geräusche, Gerüche oder auch ein Begriff wie "Provinz" bringen sie zum klingen. Aber wie lassen sich jene Momente festhalten oder darstellen? "Landschaft" ist ja kaum darstellbar, ohne dass man in jenen reaktionären Strudel der "Natur" zu geraten droht, den Robert Smithson einmal ironisch "eine dieser Erfindungen des 19. Jahrhunderts" nannte.

Wolf Schmelter hat Video-Aufnahmen aus dem Fenster eines Bummelzugs so montiert, dass die Fahrt endlos im Kreis zu verlaufen scheint. In Schmelters Film kommt keine Architektur vor. Kein Mensch ist zu sehen. Aber dennoch ist die Landschaft offensichtlich eine vom Menschen gemachte. Sie ist gegliedert von Starkstrommasten, Entwässerungskanälen, Feldwegen sowie einem Waldstück, dessen Bäume ordentlich in Linien gepflanzt sind. Es ist ein Stück jener nordwestdeutschen Landschaft, in der Schmelter aufgewachsen ist. Ein Stück einer durch und durch künstlichen Landschaft, die erst vor hundert Jahren dem Meer abgetrotzt wurde und die sich in Wirklichkeit nicht endlos, sondern gerade einmal fünf Kilometer weit ausdehnt. Das Fiktive und das Wirkliche, das Gesehene und das Erinnerte befinden sich in einer Balance. Schmelter hat die imaginäre Landschaft exakt vermessen - mittels Diagrammen und Zeichnungen, welche ihrerseits die Betrachter in immer neuen Abstraktionen verunsichern.

Bevor das Kino kam, gab es an den Bahnhöfen Panoramen, wo die Menschen sich gegen Eintritt einen Moment in fiktiven Szenarien eintauchen konnten, in Landschaften, Geschichten, Märchen. Schmelters Projekt erinnert an diese Institution. Er möchte es eines Tages in einem völlig verdunkelten, grossen Raum testen. Falls jemand einen Film über Franz Kafkas Roman Das Schloss machen möchte und sich für die Ankunft des Landvermessers interessiert: Schmelters Illusionsmaschine bietet die Kulisse.

Philip Ursprung