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BIRGIT ANTONI
 

SCHLEUDERBALL

»SCHLEUDERBALL« ODER DIE AKTIVIERUNG DES AUGES
Text: Pia Müller-Tamm
Das Auge ist das Leitorgan unserer Zeit. Wir leben in einer Kultur der Bilder, der alles dominierenden Visualität. Die sich stets beschleunigenden Apparate des Sehens – sei es im Großen und Fernen oder im Nano-Bereich der kleinsten wahrnehmbaren Teilchen – ermöglichen einen fortwährenden Zugewinn an Sichtbarkeit. Die virtuelle Expansion unserer Wahrnehmungsorgane ist uns gleichsam zur zweiten Natur geworden. Die digitale Welt konfrontiert uns mit Seherfahrungen wie zerfließenden Körpern oder scheinbar grenzenlosen Räumen, die unser Realitätsverständnis insgesamt verändern. Symptomatisch für unsere optisch expandierende Epoche ist die Wiederentdeckung des »wilden«, exzentrischen visuellen Erlebens der 1960er Jahre. Damals verband sich der Anspruch der Gegenkultur auf ein gesellschaftspolitisch »erweitertes« Bewusstsein mit den Verheißungen der sexuellen Revolution, den Verlockungen bewusstseinserweiternder Drogen und der optisch-physiologischen Erfahrung von Haltlosigkeit, Schwindel, De-Zentrierung. Die Op Art und der Experimentalfilm waren Teil eines gesellschaftlichen und kulturellen Aufbruchs, in dem Sichtbarkeit im Zeichen von Befreiung und Erweiterung stand. Das Wiederaufleben des Interesses an Op Art lässt sich bereits in den 80er Jahren beobachten: Die längere Zeit verpönte Kunst von Victor Vasarely, die Malerei Bridget Rileys oder die französische Groupe de Recherche d’Art Visuel (GRAV) wurden von internationalen Künstlern wieder genauer studiert. Malerische Rauminstallationen im Grenzbereich zur Lounge- und Clubkultur, in denen sich die Wände ornamental zu verflüssigen scheinen, zeugen ebenso wie die ästhetik zahlreicher heutiger Musikvideos von der visuellen Attraktivität der Op Art für die jüngere Künstlergeneration. Eine historische Aufarbeitung, häufig mit Bezug zur aktuellen Kunstproduktion, lieferten Ausstellungen wie Palomino von Carsten Höller in Leipzig 2001, The Expanded Eye in Zürich 2006 oder Op Art in Frankfurt 2007.
Mitte der 80er Jahre hat Birgit Antoni ihr Kunststudium beendet, und man wird die delirierende visuelle Kultur der 60er wie deren erstes Revival in den 80er Jahren durchaus als Folie für ihr künstlerisches Projekt voraussetzen dürfen. Zu Beginn ihrer Tätigkeit widmet sich die Künstlerin zehn Jahre mit Leidenschaft und Ausdauer der Herstellung von Animationsfilmen. Sie zeichnet zumeist abstrakte, seltener gegenständliche Motive auf Folien, die mit einer 16mm–Trickkamera gefilmt werden. In der Dauerprojektion von 24 Bildern pro Sekunde ergibt sich eine rhythmisch bewegte Struktur, von der eine fast hypnotische Wirkung auf den Betrachter ausgeht. Als Endlosschleife konzipiert, verzichten diese frühen filmischen Miniaturen auf jede innere Dramaturgie, auf Anfang, Steigerung und Ende. Ihr Ziel ist die flackernd–nervöse Bewegungsfolge voneinander abgeleiteter, auseinander hervor gehender Formen. Beim Versuch, Einzelelemente zu isolieren, gerät der Betrachter schnell in einen optischen Strudel, die rasante Schnelligkeit der Bildfolge und die Vielschichtigkeit der Bilder verhindern die Fixierung des Auges.
Die dynamischen Muster von Antonis Zeichentrickfilmen sind die logische Vorstufe ihrer Malerei. Seit Anfang der 90er Jahre arbeitet die Künstlerin an Bildstrukturen, die sich als Stillstellung von filmischer Bewegung und übersetzung in die statische »Mehrfachprojektion« von farbigen Formen aufLeinwand beschreiben lassen. Mit dem Wechsel des Mediums setzt sich allmählich der Kreis als Modul ihrer Tafelbilder durch. Birgit Antonis Kreise sind frei mit der Hand gezeichnet und daher nicht geometrisch. Durch die Schichtung und folienartige überlagerung mehrerer Bildebenen aus Kreisformen bilden sich Schnittmengen, deren farbige Fassung wiederum nach einem vorgefassten Plan, mithin logisch nachvollziehbar, erfolgt. Im Ergebnis bilden sich unterschiedlich dichte, in sich rhythmisierte Strukturen farbiger Formen auf der Fläche aus. Antonis Tableaus sind zumeist im Sinne des All–over konzipiert, das heißt, die Formkonstellationen ihrer Bilder erscheinen nur in seltenen Fällen relational auf das Bildformat bezogen, sondern als potentiell erweiterbare Ausschnitte aus größeren Zusammenhängen. Ein kleiner Punkt als richtungsweisendes Element bezeichnet in jedem Bild die untere rechte Ecke.
Wie die Filme, so entstehen auch die Gemälde der Künstlerin in akribischer manueller Arbeit. Malen bedeutet hier streng genommen das Ausfüllen einer vorher zeichnerisch angelegten Struktur. Disziplin und Methode bändigen jede ausschweifende Geste. Pastositäten und taktile Qualitäten werden bewusst zurückgenommen. Ihr Umgang mit den malerischen Mitteln lässt kaum ein Eigenleben der Farbe zu. Dennoch sind Birgit Antonis Bilder weit mehr als leblose Deduktionen nach einem vorgefertigten Plan. Die vielfache überlagerung farbiger Flächen verleiht den Bildern eine matt schimmernde, samtene Oberfläche, gibt ihnen eine subtile malerische Textur. Entscheidend ist jedoch die Spannung ihrer Bilder zwischen konzeptueller Ordnung und handschriftlicher Abweichung. Die kalkulierte Ordnung von Antonis Bildern wird dynamisiert durch die individuelle Brechung des gedanklichen Prinzips. Das Einschreiben ihres subjektiven Rhythmus in die Zeichnung der Bilder bewirkt eine latente Unruhe der Strukturen aus Kreisflächen und –segmenten. Zwischen höher und tiefer gelegenen Schichten des Bildes, zwischen harmonierenden und kontrastierenden Farbstellungen entstehen Interferenzen, die in manchen Fällen ein leichtes optisches Vibrieren hervorrufen. Die Grenzbereiche zwischen den Einzelformen zeigen die überlagerungsstruktur und die Vielschichtigkeit eines jeden Bildes.
Antonis Verfahren ermöglicht eine verblüffende Varietät an Bildlösungen. Vor allem in der Farbwahl – mal modisch–grell, mal dezent, mal kontrastierend, mal harmonierend – und der Anzahl der verwendeten Töne unterscheiden sich die Bilder erheblich. Bei nur zweifarbigen Werken wie Schleuderball und Schleuderball entsteht der Eindruck ausgestanzter Formen, während bei mehrfarbigen Gemälden wie Moni, Gerti oder Rosi die Farbe die dynamische Interaktion der Formen steigert. Neuere Werke aus dem Jahr 2006 – wie z.B. Lura und Lura – zeigen vollständige Kreise ohne überschneidungen und eine bisher ungewohnte Mittenzentrierung. Ihre zumeist quadratischen, immer rahmenlosen Tableaus bewegen sich zwischen handlichen Klein– und wandfüllenden Großformaten. Es gibt Einzelbilder, Bildpaare, seltener mehrteilige Folgen. Mit ihren subtilen Regellosigkeiten bewirkt die Künstlerin gleichsam eine Emotionalisierung oder Humanisierung ihrer abstrakten Bildformen. Die Titel der Gemälde, häufig weibliche Vornamen, unterstreichen die Individualität eines jeden Bildes.
Eine Kunst, die anscheinend jede Brücke zu den Daten der äußeren Wirklichkeit abgebrochen hat, die auf ähnlichkeit mit sichtbaren Gegenständen, auf Erzählung und Dramaturgie verzichtet, ist einem verbreiteten Missverständnis ausgesetzt: Sie läuft Gefahr, der unverbindlichen Sphäre des Dekorativen anheim zu fallen. Zweifellos üben Birgit Antonis Werke, zumal die Großformate, eine positive Ausstrahlung auf ihre räumliche Umgebung und eine geradezu erheiternde Wirkung auf den Betrachter aus. Sie sind im besten Sinne dekorativ. Aber darin erschöpft sich keineswegs ihr Bildsinn. Denn Antonis Bilder sind durch eine Ambiguität charakterisiert, die sich dem Betrachter nur in einem dynamischen Akt der Wahrnehmung erschließt. Während der Blick aus der Distanz das Werk simultan erfasst, es damit als energetisches Feld aus dem Kontinuum seiner Umgebung gleichsam ausschneidet, verstrickt die Nahsicht das Auge des Betrachters in die Binnenstruktur der Formen. In dieser Perspektive gibt es kein wiedererkennendes Sehen von Vorgewußtem, auch keine Wahrnehmung von Rapporten, die die Nähe zu Dekoration und Ornament herstellen würde. Im sukzessiven Nachvollzug der dem Bild innewohnenden vielfältigen Verbindungen und Brüche erfährt der Betrachter eine flexible, instabile, fortwährend überraschende Dimension ihrer Kunst. Auf dieser Ebene eröffnet sich der Ereignischarakter von Antonis Malerei, denn die Wahrnehmung der möglichen Konjunktionen des Bildes setzt ein Auge voraus, das sich von den starren Konventionen des konstatierenden Sehens löst und prozessual und dynamisch verfährt. Das latente Bewegungspotential in den Bildstrukturen überträgt sich bei längerer Betrachtung der Konstellationen des Bildes auf das Sehen selbst: Optische Inversionen zwischen positiv und negativ, zwischen über– und untergeordneter Form aktivieren das Auge. Die Intensität der Erfahrung wächst mit der Dauer der Betrachtung. Simultaneität und Sukzession als die Bedingungen allen Sehens treten hier in ein ganz besonderes Wechselspiel und konstituieren den spezifischen Sinn von Birgit Antonis Kunst.
Ist diese Malerei ein selbstbezügliches und zeitenthobenes Exerzitium oder hat sie – jenseits des modischen »Looks« – etwas mit unserer Gegenwart zu tun? Um die Sinnhaftigkeit unserer sinnlichen Erfahrung von Antonis Bildern zu erschließen, ist auf die Formentscheidung der Künstlerin zurückzugehen: auf ihre Wahl des Kreises als dem Modul ihrer Bilder. Und wir müssen die Vorstellung aufgeben, dass Abstraktion oder die Arbeit mit konkreten geometrischen Formen wie Kreisen, Quadraten u.a. immer Weltabkehr, Realitätsverlust und Bedeutungsindifferenz anzeigen. Mit Gottfried Boehm gehen wir vom umgekehrten Sachverhalt aus,dass nämlich selbst die hermetischste Form von Abstraktion immer »genuine Deutung von Realität« darstellt. Das abstrakte Bild ist demnach keine willkürliche Setzung, sondern es visualisiert – indirekt und vermittelt – eine spezifische Erfahrung von Realität. Die zirkuläre Verknüpfung von Abstraktion und Wirklichkeit gilt bereits für die Moderne, also für jene Epoche, in der sich erstmals auf breiter Basis das Bewusstsein durchsetzte, dass der Realität keine zwingende Ordnung mehr abgelesen werden kann. Eine als amorph, chaotisch und unübersichtlich wahrgenommene Welt, wie sie sowohl die Moderne als auch die nach–moderne Gegenwart charakterisiert, ist aber nur unter den Bedingungen der »Unähnlichkeit«, das heißt in nicht–gegenständlichen Bildern darstellbar. Abstrakte Kunst ist insoweit nicht vom Druck der Realität entlastet, sondern sie macht auf tiefgreifende Veränderungen im Wirklichkeitsbezug von Kunst aufmerksam.
Welche Erfahrungen macht der Betrachter von Antonis Malerei, die er ohne sie nicht machen würde? Welche Sicht auf die Realität entwerfen ihre Bilder? Das spezielle Wechselspiel von Simultaneität und Sukzessivität eröffnet eine anschauliche Erfahrung, die sich wesentlich vom bloßen Feststellen optischer Sachverhalte wie von der ungerichteten Sinnestätigkeit angesichts chaotischer Strukturen unterscheidet. Der sukzessive Erschließungsweg des Auges verfolgt eine Richtung von Element zu Element, ohne dass dabei die innere Komplexität der Bilder verloren ginge. Im Gegenteil: Sie bewahren ihre Anziehungskraft, denn in gewisser Weise verschließen sie sich in dem Maße, in dem sie erschlossen werden. Das Verfahren der Ergänzung, wie es dem Puzzle zugrunde liegt, funktioniert ebenso wenig wie der Versuch, die Ambiguitäten der Bilder in eindeutige Bestimmungen aufzulösen. Sie bewahren ihre Spannung und damit letztlich eine sehr subtile kritische Note. Denn das Auge wird im Prozess ihrer Wahrnehmung veranlasst, seine Konventionen und Konditionen zu überprüfen. Im Verfahren der Anschauung von Birgit Antonis Kunst eröffnet sich damit ein Erfahrungsraum, der über das bloß Retinale hinaus geht, und auf unsere Realitätswahrnehmung verweist.
Literatur: Gottfried Boehm, Abstraktion und Realität. Zum Verhältnis von Kunst und Kunstphilosophie in der Moderne, in: Philosophisches Jahrbuch im Auftrag der Görres–Gesellschaft 97, 1990, S. 325–337. Ders., Bildsinn und Sinnesorgane, in: Jürgen Stöhr (Hg.), ästhetische Erfahrung heute, Köln 1996, S. 148–165.
© bei der Autorin
Text aus dem Ausstellungskatalog »Birgit Antoni - Schleuderball« 2007, mit einem Vorwort von Dr. Bettina Ruhrberg.