Jon Kessler
27 May 2013 - 14 Aug 2014
JON KESSLER
Japanese - Box
27 May - 14 August 2013
JON KESSLERS POSTUTOPISCHE VISIONEN
Peter Weibel
Die Moderne und die Maschine sind untrennbar miteinander verbunden, wenn nicht sogar die Evolution der Maschine der Hauptmotor der Moderne gewesen ist. Im Zeitalter der maschinenbasierten industriellen Revolution kam es zu solch gewaltigen Änderungen der Gesellschaftsverträge und der Verträge des Menschen mit der Natur, daß die Emanzipation der erniedrigten Massen und soziale Revolutionen reale Möglichkeiten schienen. Durch die Emergenz von Maschinen und Technologie kam es zu radikalen Systemänderungen, zu neuen sozialen und urbanen Beziehungen. Die politische Revolution in Frankreich und die industrielle Revolution in England bilden daher Eckpfeiler der Moderne. Das Pathos der Weltrevolution und die Verklärung der Maschine (»Es lebe die Maschinenkunst Tatlins«, George Grosz und John Heartfield, 1920) kennzeichnen daher von Konstruktivismus bis Surrealismus die Stationen der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der technologische Fortschritt und die künstlerische Avantgarde bildeten bis zur Neomoderne (siehe zum Beispiel die Manifeste von Lucio Fontana) parallele Bewegungen. Im Lichtkinetismus der europäischen Moderne (von Pevsanek bis Zero) kulminierte diese parallele Logik in besonderem Maße.
Die Erfahrungen der totalitären Systeme im 20. Jahrhundert, die beiden Weltkriege, die ökologischen und ökonomischen Krisen haben das Vertrauen in die maschinengestützten Utopien der Moderne, in die Weltrevolution, in die Versprechen von Systemänderungen relativiert. Die utopischen Visionen waren brüchig geworden. Die Postmoderne wurde geboren. Die Fortschritte und Veränderungen der sozialen Systeme erfolgten durch informationsbasierte postindustrielle Revolutionen. Es wurde zur postmodernen Praktik, die Visionen der Moderne weder aufzugeben noch aufzuheben, aber sie in ihrer Absolutheit und in ihren totalitären Ansprüchen nicht zu akzeptieren und anders zu formulieren. Die Eckpfeiler der Moderne schienen nicht mehr so unverrückbar, sondern durchaus kollabierbar, zumindest mobil. Politische und technische Revolutionen wurden nicht mehr verabsolutiert, die Urszene von Maschine und Moderne wurde nicht mehr so inbrünstig gekoppelt und so oft gespielt. Die Inkommensurabilität zwischen Gesellschaft und Technologie, zwischen Technologie und Natur, zwischen System und Individuum wurden betont. Das Werk von Jon Kessler verdankt sich dieser Logik der Postmoderne. Der spielerische, fast kindliche Umgang mit den lichtkinetischen Objekten zeigt gleichsam die Fußnoten in den historischen Gesellschafts-, Natur- und Nationenverträgen, zeigt die Gewalt der Namen, der symbolischen Ordnungen. Die Aura der Antiautorität seiner formal und konzeptuell komplexen Werke ist nicht nur gegen den Namen des Vaters gerichtet, sondern gegen jedwede Hegemonie und Dominanz. Das Pathos der Verabsolutierung einzelner formaler Elemente der Kunst, die Reinheit der Form, als Spiegel und Wunschbild revolutionärer Träume, wurde gebrochen. Die Heterogenität seiner Mixedmedia, seiner verwendeten Materialien, die Strukturen seiner Komposition, von der Bricollage bis zur Scatter-Technik, widersprechen den historischen Autonomie- und Absolutheitsansprüchen der Kunst. Statt Pathos Witz, statt Moderne und Monumentalität (vergl. Manzonis »socle du monde«) Postmoderne und Spiel, statt Ausnahmezustand Alltag, statt Hero der Clown. Kessler verschiebt die Skalierungen, verdreht die Vorzeichen. Statt Vertreibung der Referenten (Abstraktion) die Rückkehr des Referenten.
Die heterogenen Versatzstücke aus der alltäglichen Wirklichkeit — unheroisch, unrein, normal, banal, unpathetisch — bilden das Material seiner Konstruktionen, nicht die reinen, wohlproportionierten, edlen Materialien. Es geht Kessler weder um die Magie des Materials noch um seine Bedeutung, sondern er gleitet und surft über das Material wie Channelzapping über die Programme. Es geht ihm also gar nicht um die Materialität, sondern um die materialisierte Bedeutung. Es geht ihm um das Gleiten, den Wechsel, die Mobilität, die Veränderung. Er verläßt den Rahmen der Moderne nicht, nämlich Systemänderung und Maschine, Gesellschaft und Technologie, aber innerhalb dieses Rahmens gleitet er respektlos über die Trümmer der einstigen Eckpfeiler. Die feste Welt wird zu einer flottierenden Welt. Er injiziert in die vorgefundenen Materialien der Alltagswelt, in die Readymades, soziale und psychologische Referenzen.
Die Transformationen von sozialen Relationen, politischen Systemen und urbanen Beziehungen, zwischen Natur und Gesellschaft und zwischen den Kulturen, die durch die Emergenz von Maschine und Technologie erfolgt sind, projiziert Kessler auf das skulptural erweiterte Feld. Die Heterogenität seiner Materialien und Prozeduren, das im Gleiten über das Material, im Channelsurfing über die materialisierten Referenzen zum Ausdruck kommt, ist Ausdruck einer fundamentalen Heterogenität der Postmoderne: die Rekonfiguration von Natur und Kultur als das Andere, das Fremde. Daher »Kessler's Asia«, das Beziehen auf die fremde Kultur als Konstitution seiner kulturellen Identität, die auf der Desintegration der eigenen modernistischen Kultur aufbaut.
Die sozialen und psychologischen Referenten in Kesslers Werk, in dem die Materialien konkrete materialistische Bedeutungen darstellen, und die Mechanik der Bühne, welche die Welt bedeutet, als Mechanismus eines radikalen Spektakels gezeigt wird, verweisen auf diese Momente der Desintegration und Rekonfiguration. Dies geschieht weder als Trauerarbeit noch in Agonie, sondern in einem fröhlichen Anarchismus, der die Grenzen der Historizität überwindet. So gelingen ihm lichtkinetische Objekte, die nicht die Fundamente der eigenen Kultur und der Moderne, den Glauben an die Revolution und die Maschinen feiern, sondern im Gegenteil dem Unbehagen und dem Ungenügen in der eigenen Kultur und der Sehnsucht nach dem Anderen, der fremden Kultur, Ausdruck geben. Insofern ist die Multimedialität von Kesslers Werk Ausdruck von Multikulturalität und Inkommensurabilität. Kesslers Werke zeigen die Inkommensurabilitäten in den modernen maschinengestützten Träumen. Die Gleichung Moderne und Maschine besteht nicht mehr aus festen, unverbrüchlichen Werken, sondern aus tragisch schwankenden Variablen; sie wird zu einem Klammerausdruck, zu einem Bruch, zur Erfahrung des Bruchs. In dieser heterogenen Erfahrung, die entgegen ihrer technologischen Modernität eher an Polke als an Tinguely gemahnt, in dieser heterogenen Erfahrung der Desintegration der Moderne und der eigenen Kultur, der Ideologie wie der Realität, bleiben noch Visionen, allerdings postutopische und nachmoderne, zum Beispiel Visionen von Asien, von Heteronomie, von anderen, parallelen, möglichen Welten.
aus: Jon Kessler’s Asia, Ausstellungskatalog, Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz 1994.
Jon Kessler (geb. 1957 Yonkers in NY) hat an zahlreichen Ausstellungen in Museen und Galerien in Amerika, Europa und Japan teilgenommen. Eine Retrospektive seiner Werke war in der Kestner- Gesellschaft in Hannover und in der Neuen Galerie in Graz zu sehen. Er hatte Einzelausstellungen im MoMA PS1, NY, Carnegie Museum of Arts, Pittsburgh, Sammlung Falckenberg, Hamburg, Louisiana Museum of Moderne Kunst, Kopenhagen. Soeben ist seine Ausstellung im Swiss Institute NY zu Ende gegangen. Seine Werke befinden sich u.a. in den Sammlungen des Museum of Modern Art, dem Whitney Museum of American Art, dem Walker Art Center und dem MOCA in Chicago und Los Angeles. Kessler ist Professor an der Columbia University’s School of the Arts.
Japanese - Box
27 May - 14 August 2013
JON KESSLERS POSTUTOPISCHE VISIONEN
Peter Weibel
Die Moderne und die Maschine sind untrennbar miteinander verbunden, wenn nicht sogar die Evolution der Maschine der Hauptmotor der Moderne gewesen ist. Im Zeitalter der maschinenbasierten industriellen Revolution kam es zu solch gewaltigen Änderungen der Gesellschaftsverträge und der Verträge des Menschen mit der Natur, daß die Emanzipation der erniedrigten Massen und soziale Revolutionen reale Möglichkeiten schienen. Durch die Emergenz von Maschinen und Technologie kam es zu radikalen Systemänderungen, zu neuen sozialen und urbanen Beziehungen. Die politische Revolution in Frankreich und die industrielle Revolution in England bilden daher Eckpfeiler der Moderne. Das Pathos der Weltrevolution und die Verklärung der Maschine (»Es lebe die Maschinenkunst Tatlins«, George Grosz und John Heartfield, 1920) kennzeichnen daher von Konstruktivismus bis Surrealismus die Stationen der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der technologische Fortschritt und die künstlerische Avantgarde bildeten bis zur Neomoderne (siehe zum Beispiel die Manifeste von Lucio Fontana) parallele Bewegungen. Im Lichtkinetismus der europäischen Moderne (von Pevsanek bis Zero) kulminierte diese parallele Logik in besonderem Maße.
Die Erfahrungen der totalitären Systeme im 20. Jahrhundert, die beiden Weltkriege, die ökologischen und ökonomischen Krisen haben das Vertrauen in die maschinengestützten Utopien der Moderne, in die Weltrevolution, in die Versprechen von Systemänderungen relativiert. Die utopischen Visionen waren brüchig geworden. Die Postmoderne wurde geboren. Die Fortschritte und Veränderungen der sozialen Systeme erfolgten durch informationsbasierte postindustrielle Revolutionen. Es wurde zur postmodernen Praktik, die Visionen der Moderne weder aufzugeben noch aufzuheben, aber sie in ihrer Absolutheit und in ihren totalitären Ansprüchen nicht zu akzeptieren und anders zu formulieren. Die Eckpfeiler der Moderne schienen nicht mehr so unverrückbar, sondern durchaus kollabierbar, zumindest mobil. Politische und technische Revolutionen wurden nicht mehr verabsolutiert, die Urszene von Maschine und Moderne wurde nicht mehr so inbrünstig gekoppelt und so oft gespielt. Die Inkommensurabilität zwischen Gesellschaft und Technologie, zwischen Technologie und Natur, zwischen System und Individuum wurden betont. Das Werk von Jon Kessler verdankt sich dieser Logik der Postmoderne. Der spielerische, fast kindliche Umgang mit den lichtkinetischen Objekten zeigt gleichsam die Fußnoten in den historischen Gesellschafts-, Natur- und Nationenverträgen, zeigt die Gewalt der Namen, der symbolischen Ordnungen. Die Aura der Antiautorität seiner formal und konzeptuell komplexen Werke ist nicht nur gegen den Namen des Vaters gerichtet, sondern gegen jedwede Hegemonie und Dominanz. Das Pathos der Verabsolutierung einzelner formaler Elemente der Kunst, die Reinheit der Form, als Spiegel und Wunschbild revolutionärer Träume, wurde gebrochen. Die Heterogenität seiner Mixedmedia, seiner verwendeten Materialien, die Strukturen seiner Komposition, von der Bricollage bis zur Scatter-Technik, widersprechen den historischen Autonomie- und Absolutheitsansprüchen der Kunst. Statt Pathos Witz, statt Moderne und Monumentalität (vergl. Manzonis »socle du monde«) Postmoderne und Spiel, statt Ausnahmezustand Alltag, statt Hero der Clown. Kessler verschiebt die Skalierungen, verdreht die Vorzeichen. Statt Vertreibung der Referenten (Abstraktion) die Rückkehr des Referenten.
Die heterogenen Versatzstücke aus der alltäglichen Wirklichkeit — unheroisch, unrein, normal, banal, unpathetisch — bilden das Material seiner Konstruktionen, nicht die reinen, wohlproportionierten, edlen Materialien. Es geht Kessler weder um die Magie des Materials noch um seine Bedeutung, sondern er gleitet und surft über das Material wie Channelzapping über die Programme. Es geht ihm also gar nicht um die Materialität, sondern um die materialisierte Bedeutung. Es geht ihm um das Gleiten, den Wechsel, die Mobilität, die Veränderung. Er verläßt den Rahmen der Moderne nicht, nämlich Systemänderung und Maschine, Gesellschaft und Technologie, aber innerhalb dieses Rahmens gleitet er respektlos über die Trümmer der einstigen Eckpfeiler. Die feste Welt wird zu einer flottierenden Welt. Er injiziert in die vorgefundenen Materialien der Alltagswelt, in die Readymades, soziale und psychologische Referenzen.
Die Transformationen von sozialen Relationen, politischen Systemen und urbanen Beziehungen, zwischen Natur und Gesellschaft und zwischen den Kulturen, die durch die Emergenz von Maschine und Technologie erfolgt sind, projiziert Kessler auf das skulptural erweiterte Feld. Die Heterogenität seiner Materialien und Prozeduren, das im Gleiten über das Material, im Channelsurfing über die materialisierten Referenzen zum Ausdruck kommt, ist Ausdruck einer fundamentalen Heterogenität der Postmoderne: die Rekonfiguration von Natur und Kultur als das Andere, das Fremde. Daher »Kessler's Asia«, das Beziehen auf die fremde Kultur als Konstitution seiner kulturellen Identität, die auf der Desintegration der eigenen modernistischen Kultur aufbaut.
Die sozialen und psychologischen Referenten in Kesslers Werk, in dem die Materialien konkrete materialistische Bedeutungen darstellen, und die Mechanik der Bühne, welche die Welt bedeutet, als Mechanismus eines radikalen Spektakels gezeigt wird, verweisen auf diese Momente der Desintegration und Rekonfiguration. Dies geschieht weder als Trauerarbeit noch in Agonie, sondern in einem fröhlichen Anarchismus, der die Grenzen der Historizität überwindet. So gelingen ihm lichtkinetische Objekte, die nicht die Fundamente der eigenen Kultur und der Moderne, den Glauben an die Revolution und die Maschinen feiern, sondern im Gegenteil dem Unbehagen und dem Ungenügen in der eigenen Kultur und der Sehnsucht nach dem Anderen, der fremden Kultur, Ausdruck geben. Insofern ist die Multimedialität von Kesslers Werk Ausdruck von Multikulturalität und Inkommensurabilität. Kesslers Werke zeigen die Inkommensurabilitäten in den modernen maschinengestützten Träumen. Die Gleichung Moderne und Maschine besteht nicht mehr aus festen, unverbrüchlichen Werken, sondern aus tragisch schwankenden Variablen; sie wird zu einem Klammerausdruck, zu einem Bruch, zur Erfahrung des Bruchs. In dieser heterogenen Erfahrung, die entgegen ihrer technologischen Modernität eher an Polke als an Tinguely gemahnt, in dieser heterogenen Erfahrung der Desintegration der Moderne und der eigenen Kultur, der Ideologie wie der Realität, bleiben noch Visionen, allerdings postutopische und nachmoderne, zum Beispiel Visionen von Asien, von Heteronomie, von anderen, parallelen, möglichen Welten.
aus: Jon Kessler’s Asia, Ausstellungskatalog, Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz 1994.
Jon Kessler (geb. 1957 Yonkers in NY) hat an zahlreichen Ausstellungen in Museen und Galerien in Amerika, Europa und Japan teilgenommen. Eine Retrospektive seiner Werke war in der Kestner- Gesellschaft in Hannover und in der Neuen Galerie in Graz zu sehen. Er hatte Einzelausstellungen im MoMA PS1, NY, Carnegie Museum of Arts, Pittsburgh, Sammlung Falckenberg, Hamburg, Louisiana Museum of Moderne Kunst, Kopenhagen. Soeben ist seine Ausstellung im Swiss Institute NY zu Ende gegangen. Seine Werke befinden sich u.a. in den Sammlungen des Museum of Modern Art, dem Whitney Museum of American Art, dem Walker Art Center und dem MOCA in Chicago und Los Angeles. Kessler ist Professor an der Columbia University’s School of the Arts.