Grazer Kunstverein

Michaela Meise

18 Jan - 18 Mar 2011

Installation view
MICHAELA MEISE
Akkumulation
Kurator / curator: Søren Grammel
18.01. – 19.03.2011

Ich möchte heute über eine Gruppe von Skulpturen von Michaela Meise reden, die ich als "Gestelle" bezeichne, und die sie für ihre Ausstellung im Kunstverein neu produziert hat.
Mit dem Ausdruck beziehe ich mich nicht auf ein gebautes Detail, sondern auf ein Verfahren der ästhetischen Kommunikation, dass diese verkörpern. Wie schon andere Raumstrukturen Michaelas, verweisen diese Arbeiten auf eine von der Künstlerin empfundenen Notwendigkeit, ihr eigenes Display für die An-Ordnung der für sie bedeutenden Referenzen zu definieren. Die Gestelle entstehen durch die Einlagerung diverser Gegenstände zwischen eine Anzahl von transparenten Plexiglasscheiben, die auf schwarz lackierten Stahlprofilen aufgelegt sind.
Die Scheiben zeigen diese Artefakte wie in einer Vitrine. Während die Objekte in einer Vitrine aber meist nebeneinander und Hintereinander so angeordnet sind, dass der Blick auf jedem ungestört verharren kann, kreieren die Gestelle eine Anzahl von unterschiedlich dichten Überlagerungen. Der schichtartige Aufbau tauscht das Nebeneinander einer Vitrine mit dem Übereinander des Layers aus. Wir können auf die Gestelle wie auf die vergrößerten Glasplättchen eines Mikroskops schauen.
Michaela verfolgt einen Collage-Ansatz. Von der Seite betrachtet erinnert das Prinzip zwar an einen Sandwich, in dem jede Zutat durch eine Weißbrotscheibe von der anderen getrennt ist. Beugt man sich aber über die Gestelle und betrachtet sie von oben, so erscheinen die eingelagerten Dokumente miteinander verknüpft. Das Gestell ist ein visuelles Bezugssystem, es stellt eine Begegnung zwischen unterschiedlichen Dokumenten und Fundstücken her. Ich erinnere mich an das symbolische Bild des Seziertischs, auf dem der Künstler Man Ray die Begegnung eines Regenschirms mit einer Nähmaschine inszenierte.
Das Schichten der Objekte verweist auf das Verfahren der Archäologie. Durch das Bergen, Lesen und Interpretieren verschiedener Dinge, die aus langatmigen Ablagerungsprozessen wieder hervorgeholt werden, gewinnen wir Einsichten in die menschliche Kultur.
Archäologische Verfahren können nicht nur in Bezug auf Gegenstände gedacht werden. Für den französischen Philosophen Michel Foucault war Archäologie eine Technik, zu erkennen, wie bestimmte Formationen des Wissens entstanden sind. Sein Vorgehen beschrieb er als eine Arbeit an Archiven oder als eine „Archäologie“ von Diskursformationen. Auch Michaela bezieht sich im Gespräch auf die Archäologie. Weniger, weil ihr Vater Hobbyarchäologe ist. Sondern weil auch sie "alte Dinge, die teilweise kaputt gegangen sind", in ihren Arbeiten wieder hervorholt.
Welche Zusammenhänge und Begehren eröffnen sich aber zwischen den in den Gestellen solchermaßen sichtbar gemachten Gegenständen und Dokumenten? Wo liegen beispielsweise die Bezugslinien, die sich im Miteinander von Thomas Gainsboroughs Doppelportaits seiner beiden Töchter Mary und Margaret aus den 1750er Jahren und den verschieden-sprachigen Ausgaben des Buchs „Schwarze Sonne“ der Psychoanalytikerin Julia Kristeva ergeben? Müssen wir ihr erst Buch gelesen haben, um Michaelas Arbeit zu verstehen?
Statt Definitionen möchte ich versuchen, einige mögliche Bezüge zwischen den unterschiedlichen Referenzen der Gestelle zu benennen – so, wie ich sie sehe. Denn schließlich bewegen sich Michaelas Skulpturen und Installationen an einer durch die Minimal Art forcierten Schnittstelle zwischen der Beschaffenheit formaler Strukturen und deren Öffnung für die Selbstprojektionen ihrer Betrachter – also auch mir.
Es war ein Bruch mit dem Kanon akademischer Motive, als Gainsborough in den 1740er Jahren anfing, die Beziehung zu seinen Töchtern über Jahre malerisch zu thematisieren.
Seine Bilder scheinen die Psyche der Töchter zu erforschen. Die Intimität der Bilder ist bemerkenswert, aber auch gruselig. Was bedeutete diese Vermischung der Arbeit des Vaters mit dem Alltag der Töchter für alle Beteiligten? Den Bezug Michaelas zu Gainsborough verstehe ich in ihrer eigenen Auseinandersetzung mit dem Motiv der Familie als einer sowohl gesellschaftlich bedingten wie auch psychologischen Konstellation.
In der Arbeit "Wir lesen" zeigt die Künstlerin Familienfotos aus den 70/80er Jahren, die Lesen als einen festen Bestandteil des damaligen Familienalltags zeigen:
- Vater hält die Zeitung, während er das Kind balanciert;
- Mutter liest konzentriert ohne Notiz vom Fotografen zu nehmen;
- Bruder ist in einem Verkehrsmittel ganz mit seinem Buch beschäftigt.
Im selben Gestell liegt ein Foto der Sängerin Alexandra (wurde 1969 bekannt mit: "Mein Freund der Baum"). Handelt es sich um eine Anspielung auf den Vornamen des Bruders Alexander? Oder verkörpert Alexandra eine weibliche Künstleridentität, auf die Michaela eigene Vorstellungen projiziert? Verweist Alexandra einfach auf ein bestimmtes bildungsbürgerliches Milieu?
Eine Reihe ausgeschnittener Buchstaben ist schichtweise zwischen die Glasplatten gelegt. Rückwärts buchstabiert ergibt sich ein alter Kosename der Künstlerin, "Michi".
Die Buchstaben verdecken sich gegenseitig. Das letzte "i" ist kaum sichtbar. Das Wort kann auch als "Mich" gelesen werden, könnte also auf die Frage anspielen, was "Ich" und "Mich" eigentlich bedeutet. Hier ergibt sich eine weitere Variante des Archäologischen:
Das Bergen verloren gegangener Schichten ist auch ein Verfahren der Psychoanalyse.
Durch Traumdeutung und assoziative Gespräche werden verdrängte Schichten des Bewusstseins freigelegt, deren Interpretation Einsichten über das eigene Wesen geben können.
Auf Michaelas Interesse an der Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und deren Position im Verhältnis von Geschlecht und Gesellschaft verweisen verschiedene präsentierte Ausgaben Julia Kristevas Buch "Schwarze Sonne". Die dem Poststrukturalismus zugeordnete Autorin beschäftigt sich darin mit Symptomen der Depression und Melancholie, denen sie Kreativität und künstlerische Praxis als eine Art positiver Symptomatik zuordnet.
Aber warum erscheint das Buch hier in drei unterschiedlichen Sprachen? Welche Strategie verfolgt Michaela mit diesen Referenzen? Und in welcher 'Sprache' können wir sie lesen?
Die Bedeutung der Gestelle liegt natürlich nicht in der Verifizierung behaupteter Thesen der Künstlerin durch unsere wiederholende Prüfung. Die in den Gestellen aufgeführten Artefakte schließen unendlich viele gedanklich-thematische Aspekte in sich ein, über deren Auswahl nichts anderes entscheidet, als die Intention des Erkennenden. Auf diese Frage spielt vielleicht die Postkarte in einem der Gestelle an, die ein Puzzle mit einem fehlenden Teil zeigt, darunter den Text: „Du fehlst mir!“Dieses fehlende Puzzlestück ist vielleicht ein Platzhalter für die Möglichkeit der Betrachter, zwischen sich und den gezeigten Objekten eine persönliche Beziehung herzustellen, die eigene Erfahrung auf sie zu projizieren. Der 'implizite' Leser sozusagen.
Kristeva schreibt über das Lachen als einer revolutionären Praxis. Jede Praxis, die ihre eigenen Ränder überschreitet, die mit ihren Codes bricht – also eine Innovation schafft – bezeichnet sie als eine Art des Lachens. Diese Vorstellung von Lachen lässt mich an das Lachen der Fischerjungen-Skulpturen des französischen Bildhauers Jean-Baptiste Carpeaux denken, auf den sich Michaela in der Ausstellung hier zwei Videos bezieht.
In dem Video "Etude Carpeaux", das in einem kleinen Zwischenraum des Kunstvereins projiziert wird, studiert Michaela die Körperposen und den Gesichtsausdruck - das Lachen - der zwei Fischerjungen Skulpturen ein. Dieses Lachen der Skulpturen erscheint aufreizend und etwas spöttisch zugleich. Wir sehen die Originalfiguren, nach denen Michaela posiert, zu Beginn des Videos als fotografische schwarz-weiß Abbildung. Es ist eine Innovation des 19. Jahrhunderts, Lachende Personen mit ihren halb geöffneten Mündern zu zeigen. Das Motiv entsprach nicht den Vorstellungen akademisch-klassischer Form. Ein offener Mund sieht allzu menschlich aus und stellt eine Herausforderung für die Aura des klassischen Kunstwerks dar. Wie Gainsborough vollzog also auch Carpeaux einen Bruch mit dem Kanon akademischer Motive.
Er stellt die Aura des Werks auch in anderer Hinsicht in Frage: Als einer der ersten Künstler des 19. Jahrhunderts hat er die Vervielfältigung seiner Skulpturen aus ökonomischen Motiven forciert betrieben. So hat er die mit Kunstwerken verbundene Vorstellung von deren Einmaligkeit pervertiert.
Weitere Bezüge zwischen Carpeaux und Gainsborough oder Kristeva bieten die Gestelle im Motiv der Familie. 1857 schildert der junge Carpeaux in einem Brief an seine Eltern die Erlebnisse während eines Reisestipendiums in Italien. Der Brief lässt den Künstler nicht als Genie sondern einfach als Sohn, also als Teil einer familiären Konstellation erscheinen.
Im Video "Lettre to the Eltern", das Michaela im Eingangsraum des Kunstvereins auf einem Monitor zeigt, wird der Brief gleich dreimal von verschiedenen befreundeten KünstlerInnen, und jeweils in einer anderen Sprachen vorgelesen.
Im letzten Ausstellungsraum finden wir wiederum drei verschiedene Ausgaben des Kristeva Buches in denselben drei Sprachen.
Durch die gewählten Artefakte und sozialhistorischen Referenzen scheint Michaela die Koordinaten eines Feldes zu skizzieren, in dessen Zentrum immer wieder die Familie bzw. die Künstleridentität als Teil einer Familie erscheint. In diesem Zusammenhang sehe ich assoziativ auch die ausgeschnittenen und auf die Schaufensterscheiben geklebten Hakle-Toilettenpapier Welpen, die mit ihrer am Computer nachgeklonten Niedlichkeit zugleich auch das Gespensthafte eines perfekten Heims - den Ort der Familie - für mich personifizieren.
Auch in den Gainsborough Bildern findet man den Hund als unersetzlichen Akteur familiären Alltags wieder. Warum grade dieser Liebling das ideale Symbol für Toilettenpapier darstellt, wäre wohl Gegenstand einer sozialpsychologischen Untersuchung.
Auf den Kontext des Familiären verweisend sehe ich auch Michaelas bewussten Einsatz der aus der Kindeserziehung bekannten antroposophischen Farben, aus deren heiterem Farbspektrum trübe Farben oder Schwarz ausgeschlossen sind, so, als ginge es darum, zwischen die Welt der Familie und die Realität da draußen einen ideologisch/ästhetischen Filter einzubauen.
Aber dies sind nur einige persönliche Lektüren der Arbeiten, die ich hier anbiete.
Auch hier gilt die Überlegung, dass das essayistische Arbeiten - welches ich Michaela unterstelle - den antisystematischen Impuls ins eigene Verfahren aufnimmt - und Begriffe subjektiv so einführt, wie es sie empfängt. Die Gestelle stellen also auch uns: nämlich vor die Herausforderung, aus ihrem Bestand die unterschiedlichsten (Bedeutungs-)Schichten zu bergen. In diesem Sinn erinnern mich die Arbeiten an eine Denkfigur Heideggers:
Wenn der Mensch etwas zu Entbergendes stellt, dann spricht Heidegger vom Gestell.

Søren Grammel
 

Tags: Søren Grammel, Michaela Meise, Man Ray