Kestner Gesellschaft

Joachim Koester

26 Nov 2010 - 06 Feb 2011

Joachim Koester, Barker Ranch # 1 2008
Series of 4 silver gelatin prints, 44 x 58.3 cm
Courtesy Joachim Koester; Galleri Nicolai Wallner, Copenhagen; Jan Mot, Brussels © Joachim Koester
JOACHIM KOESTER
Ich Bin Selbst Nur Ein Aufnahmeapparat
26 November 2010 – 06 February 2011

Die Themenwahl des dänischen Künstlers Joachim Koester (*1962 in Kopenhagen) zeigt eine Vorliebe für das Okkulte, Verborgene, Düstere und Verdrängte unserer Geschichte. Analog dazu bezeichnet er seine Arbeitsweise als ›Geister jagen‹. In »Boarded Up Gallery« (1994-2008) hat er seine Galerien von außen mit Holz verbarrikadiert, so dass sie wie unnütze, verbotene Räume wirken. An solchen Orten ist nach Koester jedoch der Geist des Zufälligen präsent, den wir brauchen, um Geschichte in einer anderen Weise zu sehen und fortzuschreiben. Diese Idee einer konstruktiven Nutzbarmachung des Verdrängten und Verlassenen vermittelt die Ausstellungsarchitektur: In einem Spiel von Ver- und Entdecken trennt sie die Filmprojektionen und Fotografien voneinander und macht sie zu zu entdeckenden Orten.

Um geographische Orte drehen sich Koesters Fotoarbeiten wie »The Kant Walks« (2003-2004): Darin geht er die berühmten Spaziergänge des Philosophen Immanuel Kant im einstigen Königsberg und heutigen Kaliningrad ab. Blinde Flecken der Vergangenheit begegnen ihm: vergessen wirkende Plätze, die Geschichte nicht als linearen, sondern chaotischen Prozess darstellen. Das Düstere zeigt sich in »The Barker Ranch« (2008). Koester fotografiert die verlassene Behausung in der kalifornischen Wüste, in der sich die Mitglieder der Manson-Family Ende der 1960er Jahre verschanzten, nachdem sie grausam gemordet hatten. So schreibt sich Gewalt in eine mit Freiheit und Weite assoziierte Western-Landschaft ein, vielleicht ein Hinweis darauf, dass der Freiheitsmythos selbst mit Gewalt durchsetzt ist.
In letzter Zeit arbeitet Koester vermehrt auch mit dem menschlichen Körper als Speicher von Geschichte wie im Film »Tarantism« (2007). Im Italien des Mittelalters soll ein ritueller Tanz Abhilfe von den Wirkungen des giftigen Tarantelbisses verschaffen. Tanz als körperliche Kur zur Genesung wäre also die eine, normativ korrekte Lesart. Koester inszeniert diese Kulturtechnik jedoch als anarchisches Moment der Entgrenzung, der Hysterie und der Flucht vor restriktiven Gesellschaftsordnungen, ähnlich dem Karneval. In der von fließenden, zuckenden bis hin zu spastisch wirkenden Bewegungen bestimmten Choreographie schimmern beide Bedeutungsebenen auf.

In »I Myself Am Only a Receiving Apparatus« (2010) steht eine Geste im Zentrum: der Kopf eines Mannes zittert und wackelt unaufhörlich. Bedrückend erscheint der Mime, der in der Hannoveraner Rekonstruktion des Merzbaus von Kurt Schwitters agiert, einem Künstler, dessen Werk im Nationalsozialismus als ›entartet‹ galt. Der Satz »Ich bin selbst nur ein Aufnahmeapparat« ist einem Brief von Schwitters aus dem Exil entnommen und bezieht sich auf den Prozess künstlerischen Schaffens selbst. Die Rekonstruktion als Ort vorgestellter Realität wie die aufgeführte Geste können wir als Hinweis auf die Geschichte und Zerstörung des Merzbaus im 2. Weltkrieg lesen. Einer vorhandenen Partitur folgen die Bewegungen in »To Navigate, in a Genuine Way, in the Unknown Necessitates an Attitude of Daring, but not one of Recklessness (Movements Generated from ›The Magical Passes‹ of Carlos Castaneda)« (2009) [Navigieren im Unbekannten, auf ernsthafte Weise, erfordert eine Haltung des Wagemuts, nicht eine der Rücksichtslosigkeit (Bewegungen abgeleitet aus ›The Magical Passes‹ von Carlos Castaneda)]. Der US-amerikanische Anthroposoph Castaneda hat ein Set schamanistischer Übungen festgelegt, die einen Zugang zu anderen Realitäten geben sollen – in der filmischen Performance wirken die Gesten dennoch kryptisch.

Das Performative ist schon in Koesters früher Arbeit »Pit Music« (1996) angelegt. Eine Treppe führt auf ein Podest, von dem aus wir über einen Graben, im Englischen ›pit‹, eine wandfüllende Videoprojektion einer Konzertaufführung betrachten. In dieser Situation doppeln wir das Publikum, das im Film ebenso erhöht steht. Während wir die Betrachter betrachten, hören wir wie sie Schostakowitschs Streichquartett Nr. 8, 1960 zu Ehren der Opfer von Faschismus und Krieg komponiert, das dramatische und bedrohliche Passagen aufweist. Überraschend ist die Kameraführung, die zwar an Dokumentationen der flüchtigen Kunstform der Performance erinnert, zugleich aber durchsetzt ist von Zeitlupen und Kreisbewegungen, die eher an Horrorfilme denken lässt. Eine deutliche Referenz an das Genre der Horrorliteratur ist »Numerous Incidents of Indefinite Outcome« (2008) [Zahlreiche Ereignisse mit unbestimmtem Ausgang], ein Computerprogramm, das Fragmente aus H.P. Lovecrafts »Notes and Commonplace Book« (1934) – einer Anleitung für das Schreiben merkwürdiger Fiktion – zu Sätzen zusammenfügt, eine sich kontinuierlich ändernde Text-Performance. Die Idee einer idealen Gesellschaft, von der Manson-Family auf fatale Weise propagiert, findet sich auch in Koesters Arbeit »One+One+One« (2006). Ein Haus im sizilianischen Celafù dient in den 1920er Jahren einer sektenhaften Gemeinschaft um den Briten Aleister Crowley als Abtei. Magische Exerzitien, Orgien und Drogenkonsum bestimmen das Zusammenleben unter der Leitmaxime »Tu, was du willst«, bis es 1923 von Mussolini wegen des Verdachts des Dissenses beendet wird. In der Doppelprojektion entdeckt eine Frau das längst zugewucherte Gebäude. Auf einem Schlagzeug vor dem Haus spielt sie den Rhythmus von »Sympathy for the Devil«, einer Hymne der Popkultur der 1970er Jahren.

Der bewusste Einsatz von Drogen als Erkundung von unbekannten Territorien bestimmt »My Frontier Is an Endless Wall Of Points (After ›The Mescaline Drawings‹ of Henri Michaux)« (2007) [Meine Grenze ist eine endlose Wand aus Punkten (Nach den ›Meskalin-Zeichnungen‹ von Henri Michaux)], eine Animation der Meskalin-Zeichnungen von Henri Michaux (die 1974 in der kestnergesellschaft präsentiert wurden). Michaux hat diese Selbstversuche als identitätsspaltend beschrieben. Formal schließt daran die Fotografie »Demonology« (2010) an: Sie zeigt eine mittelalterliche Wandmalerei in einer Kirche in Südnorwegen. Wie im psychedelischen All-Over der Meskalinzeichnungen gehen Myriaden dämonischer Fratzen ineinander über.

Joachim Koester hat 1997 an der documenta X und 2005 an der Biennale in Venedig teilgenommen. Seine Werke finden sich in den Sammlungen des Metropolitan Museum of Art, des Museum of Modern Art in New York, des Statens Museum for Kunst in Kopenhagen sowie des Moderna Museet in Stockholm.

Die Ausstellung wird gefördert von der Stiftung Niedersachsen, Statens Kunstrad und dem Förderkreis der kestnergesellschaft. Die kestnergesellschaft wird durch das Land Niedersachsen unterstützt.
 

Tags: Joachim Koester, Henri Michaux, Kurt Schwitters