Kunsthalle Bern

Villa Jelmini

The complex of respect

28 Jan - 27 Mar 2006

Villa Jelmini - the complex of respect
28. Januar bis 27. März 2006

Mit Tonico Lemos Auad, Christina Braein, Balthasar Burkhard, Roberto Cuoghi, Art Farm/Wim Delvoye, Gardar Eide Einarsson, Armen Eloyan, Marius Engh, Jaime Gili, Henry VIII's Wifes, Ivan Grubanov, Frantiček Klossner, Michael S. Riedel, Tommy Simoens, Stammerstudio, Boy Stappaerts, a.o.

Einleitende Bemerkungen zu einer (un)möglichen Ausstellung

Von der Stadt Bern wurde ich angefragt, eine Ausstellung zu organisieren, die sich mit dem intellektuellen und geistigen Erbe Harald Szeemanns befasst. Ich wollte keine Gedenkausstellung machen (was als Projekt auch eher in ein Kunstmuseum passen würde und mit Sicherheit mehr dokumentarischer Art wäre), ich wollte ebenfalls nicht in eine Vergangenheit eintauchen, die Herrn Szeemann an einem Ort – der Kunsthalle Bern – zelebrieren würde, den er als künstlerisches Labor der Gegenwart definierte, wo er aber dermassen grosse Schwierigkeiten hatte, seine Ideen zu verteidigen, dass er schliesslich beschloss, ihn zu verlassen...

Harald Szeemanns unabhängige Organisation AGENTUR FÜR GEISTIGE GASTARBEIT hatte die Kommunikation seiner Vision einer radikal anderen Dimension von Energie, Leidenschaft und Intensität zum alleinigen Ziel. Jede seiner Ausstellungen, von den frühen Siebzigerjahren an bis zum Schluss, war definiert als “geistige Gastarbeit”, entstanden im Dienste einer “möglichen Visualisierung eines Museums der Obsessionen”.

Das einzige Museum, das ihn wirklich interessiere, sagte Szeemann, sei dasjenige in seinem Kopf: eine imaginäre Entität einer anderen Welt, eine Art utopische Sphäre, auf welche die tatsächliche Ausstellung jeweils nur eine Anspielung sein konnte. Ein Museum der Obsessionen, wie Szeeman insistierte, “in dem keine Obsessionen erkennbar sind. Ich habe keinen Grund, zu verweilen”.

So wollte ich eine Ausstellung kuratieren, die sich sowohl mit dem komplizierten und vieldeutigen Begriff des Respekts (im Zusammenhang mit der „bigger than life“-Geschichte der internationalen Beachtung von Szeemann als Kurator aber auch mit dem Reflex eines Establishments einer Provinzstadt, einen ehemaligen Rebellen zu zelebrieren) als auch mit einigen von Szeemanns Obsessionen (die nicht historische Annäherung, der Schaffensprozess, das Visionäre, die individuelle Mythologie, das Gesamtkunstwerk, die Enzyklopädie...), transferiert an diesen (un)möglichen Ort: Villa Jelmini.

Die aktuelle Ausstellung funktioniert als eine andere oder eine weitere Heterotopie in Beziehung zu einer Gruppe ikonischer Bilder des 20. Jahrhunderts einerseits, andererseits zu Szeemanns utopischem Museum der Obsessionen. Villa Jelmini berücksichtigt Szeemanns Ausstellungen als mnemonische Spuren, wobei bereits unfreiwillige Symptome reaktivierende Elemente enthalten können. So kann der tatsächliche Gravitationsfokus der Ausstellung als realer Raum mit den Eigenschaften einer „Abweichung“ oder „Krise“ innerhalb eines komplexen Schaltpunkts zwischen erwarteter Zukunft und rekonstruierter Vergangenheit betrachtet werden. Was übrig bleibt, ist die Ausstellung als unabhängige Organisationsstruktur.

Das kuratorische Erbe Szeemanns wird der Ausgangspunkt für eine Ausstellung sein, die die (Un)möglichkeit, einen Raum zu konstruieren, in welchem unterschiedliche Erinnerungen und Traditionen aufeinander treffen, analysiert. Ist es möglich, unserem Gedankensystem ein „Anderes“ gegenüberzustellen und wie können wir diese Andersartigkeit spezifizieren? Die Unmöglichkeit der gemeinsamen Grundlage in einem erweiterten Kunstverständnis bildet womöglich das interessanteste Ergebnis von Szeemanns kuratorischer Praxis. Was zerstört wird ist die „Site“, der „stumme Boden“, auf welchem die verschiedenen Entitäten nebeneinander gestellt werden können. Die Unmöglichkeit der Enzyklopädie ist die Unmöglichkeit eines bestimmten Gedankens, in sich selbst eine Abweichung zu denken ohne Relation zur Identität: Im Hegelianischen Terminus die Andersartigkeit ohne Beziehung zu Opposition, Widerspruch und letztendlich Grundlage. Sich auf dieses „Stören der Identität“ konzentrierend, beschäftigt sich die Ausstellung mit Heteroklisie und Heterotopie und verbindet sie mit der Aphasie: Dem Verlust eines allgemeinen Verständnisses, Dinge zu ordnen und zu benennen.

Villa Jelmini: Ein Ort jenseits des Üblichen, der Peripherie – in ihrem nicht-geopolitischen Sinn – oder des Verdrängten. Im Gegensatz zur Utopie, mit ihrer symbolischen Bedeutung eines idealen Ortes, welcher physisch nirgendwo ausser in seiner Darstellung existiert, wird Villa Jelmini zu einem tatsächlichen Ort „irgendwo“, dessen Nichtmessbarkeit ihn zu einem Ort der Unstabilität und der Zuwiderhandlung macht.

Der Begriff „Respekt“ oder „Ehrfurcht“, als das andere zentrale Moment der Ausstellung, ergibt eine seltsame Kombination aus Furcht und Ehre. Furcht, die ehrt; Ehre, die durchdrungen ist von Furcht. Doch welche Art der Furcht könnte dies sein? Bestimmt nicht eine Furcht, die uns angesichts von etwas Schädlichem oder Ängstigendem befällt - eine solche Furcht würde bewirken, dass wir uns verteidigen oder in Sicherheit bringen. Diese Ausstellung sucht im Gegensatz dazu die Gefahr. Sie möchte einen Ort der Verwundbarkeit schaffen, an dem sich die Geister von Szeemanns „Obsessionen“ niederlassen.

Die Ausstellung ist vom „Negativ“ der Ausstellung her konstruiert. Verbinden wir ihre metonymischen Fragmente im Gedächtnis, können wir uns einer Ausstellung annähern, die wir nicht wirklich gesehen haben. Einer „Ausstellung“, die zu einem heterogenen psychischen Objekt wird, welches sich aus Kunstwerken zusammensetzt, die in Raum und Zeit verstreut sind.

(„Villa Jelmini“ bezieht sich auf einen Rotwein, den Szeemann gerne trank. Sein Archiv bewahrte er grösstenteils in leeren Villa Jelmini - Weinkartons auf)

Philippe Pirotte

www.kunsthalle-bern.ch

© Foto:Balthasar Burkhard
 

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