Kunsthalle Münster

Krieg / Individuum

20 Feb - 25 Apr 2010

Still aus dem Film "in transit" von Lida Abdul (2008)
Courtesy Giorgio Persano, Turin
KRIEG / INDIVIDUUM

20. Februar – 25. April 2010

In dem vielbeachteten Essay Das Leiden anderer betrachten (2003) von Susan Sontag lautet eine der Kernaussagen über die tausendfach in den Medien kursierenden Kriegsfotografien: „Sie können nur die Hölle zeigen, nicht den Weg hinaus.“ Um das Leiden der anderen zu verstehen – die Gründe dafür, die Lügen der Verantwortlichen, die Vernetzung mit der eigenen privilegierten Situation – brauche es interpretierende Texte, so Sontag. Aber trotz aller Manipulier- und Instrumentalisierbarkeit von Bildern gelte es weiterhin, sich ihnen auszusetzen und die Bilder vom Leiden anderer als ständiges Memento zu begreifen: „Menschen sind imstande, dies hier anderen anzutun – vielleicht sogar freiwillig, begeistert, selbstgerecht. Vergesst das nicht.“

Dieses Memento erzeugen auch die Kunstwerke der Ausstellung, die sich als eine Collage über die condition humaine in Zeiten global beobachteter Kriegshandlungen versteht. Die ausgestellten Arbeiten machen die Auswirkungen kriegerischer Ereignisse (Zweiter Weltkrieg, Vietnamkrieg, Nah-Ost-Konflikt, Jugoslawienkrieg, Kriege im Irak, in Iran und Afghanistan) auf Individuen, unterschiedliche Gruppen und Gesellschaften sichtbar und bewusst. So liegt der Fokus aller Arbeiten auf der körperlichen und psychischen Gewalt, die – mal stärker sichtbar, mal verborgener – das Individuum verstört oder sogar zu dessen Tod führen kann. In ständiger Todesgefahr zu leben ist ein Zustand, den man sich nur schwer vorstellen kann, wenn man ihn nicht selbst erlebt hat. Einige Werke können dem Betrachter ansatzweise eine Ahnung davon vermitteln. Die 15 internationalen Künstlerinnen und Künstler haben auch diesbezüglich einen unterschiedlichen Erfahrungshintergrund: Mal herrscht stärker eine Innenperspektive als direkt Betroffener oder Überlebender vor, mal stärker die Außenperspektive als empathischer Beobachter oder als politisch reflektiertes Individuum, das die Involviertheit des eigenen Landes in ein Kriegsgeschehen auf vielen Ebenen kritisch beleuchtet.

Seit es Kriege gibt, werden sie von (Medien-)Berichten begleitet. Neu ist seit dem Vietnamkrieg (1965–1975) die Live-Berichterstattung im Fernsehen und Radio, man spricht auch vom „living-room-war“ (1965). Heute herrscht ein Übermaß an Informationen in analogen und digitalen Medien zu allen Ereignissen rund um den Globus vor, häufig in Echtzeit. Während also in Medienberichten vor allem statistische Aufzählungen von Schäden, Opfern und Waffen sowie Manöverkritiken vorgenommen werden (embedded journalism), werden die kurz-, mittel und langfristigen Folgen für die Bevölkerung und das Land höchstens in ausführlicheren Hintergrundberichten problematisiert. Die scheinbar sichere Distanz, die man am Fernsehgerät oder beim Nachrichtenlesen noch aufrecht erhalten kann, wird von den künstlerischen Arbeiten für einen Moment aufgehoben, und sie schaffen so Zeit und Raum für Reflektionen. Aber nicht nur die Nachrichten erreichen einen non stop und widersprechen sich und machen es schwierig, sich zu den Ereignissen umfassend zu informieren und zu positionieren, sondern auch die kriegerischen Konflikte selbst sind hoch komplex. Die klassische Form des Krieges zwischen zwei oder mehreren Staaten, die auf dem Recht beruhte, Krieg zu führen, was traditionell als Inbegriff staatlicher Souveränität galt, ist spätestens durch die Ächtung des Krieges durch die UN-Charta 1945 von unübersichtlicheren Formen wie Bürgerkriegen, asymmetrischen Konflikten und Völkermorden abgelöst worden. Leidtragende sind in diesen kriegsähnlichen Situationen nicht mehr in erster Linie militärische Personen, sondern die Zivilbevölkerung, wovon auch immer wieder in den Medien berichtet wird. Seitdem durch die Interventionen der NATO im Jugoslawien-Krieg 1999 das Völkerrecht gebrochen wurde und erst Recht nach den Anschlägen vom 11. September 2001 werden die Prinzipien, für die der Westen steht und immer wieder kämpft – wie Demokratie, Menschenrechte und Toleranz – zunehmend ignoriert.

Die gezeigten Kunstwerke geben realen wie fiktiven Individuen eine Stimme und sichern ihnen eine Aufmerksamkeit jenseits von tagesaktuellen Berichten und Statistiken. Sie tun dies in einer mal poetischen, mal politischen, mal kritischen Weise, und erst auf den zweiten Blick wird das Grauen vorstellbar, bleibt aber in den meisten Werken unsichtbar. Es wird kein schnelles Einordnen und Vergessen ermöglicht, stattdessen sind Werke zu sehen, die nachhaltig umso intensiver wirken: Das Unheimliche und Unbegreifbare eines Krieges spielt sich in dieser Ausstellung in den Köpfen der Betrachter ab.