Kunsthalle Münster

Little Warsaw

10 Jul - 05 Sep 2010

Qualities, 2001, 12 painted plaster, 12 lebensgroße Gips-Plastiken
Gesamtinstallation: 2m x 15m
Courtesy: MODEM Centre for Contemporary Art and Culture, Debrecen, Hungarn
Foto: Attila Gerencsér
LITTLE WARSAW
András Gàlik (*1970) und Bálint Havas (*1971)
Later On

10. Juli bis 5. September 2010

András Gálik (*1970) und Bálint Havas (*1971) – beide in Budapest geboren – haben ihre Kindheit im sozialistischen Ungarn der 1970er und 1980er Jahre verbracht. Ihre Zusammenarbeit begann in den späten 1990er Jahren, nach ihrem Kunststudium an der Budapester Kunstakademie. Als „Little Warsaw“ gehören sie in Ungarn zu den bekanntesten Künstlern ihrer Generation. Die Veränderungen der politischen Referenzsysteme haben ihre politische wie künstlerische Wahrnehmung geprägt. Ungarn hat in den vergangenen zwanzig Jahren einen grundlegenden Wandel erlebt. Es veränderte sich von einem Industrie-Agrarland unter planwirtschaftlichen Bedingungen in eine postindustrielle Marktwirtschaft, die sich der Innovation, Dienstleistung und modernen Agrarkultur verschreibt. Das Aufbrechen des diktatorischen Systems mit seinen alten Befehlsstrukturen und administrativen Zwängen war begleitet von einer politischen Aufbruchsstimmung in eine lebendige, junge und authentische Demokratie, die sich nicht ohne Widerstände entwickelte und in dem die Kultur eine bedeutende Rolle spielte.

János Can Togay, Direktor des Collegium Hungaricum Berlin, brachte die politische Situation der vergangenen 20 Jahre in seiner Eröffnungsrede von „Scene Ungarn in NRW“ (12. 4. 2010, Dortmund) so auf den Punkt: „Verschiedene Traumata der vergangenen hundert Jahre drängten auf einmal zur Oberfläche: Angefangen bei den großen Verlusten als katastrophale Folge des Ersten Weltkrieges und der Aufarbeitung der großen Eigenverantwortung in Folge des Zweiten Weltkrieges, über die Jahre der Unterdrückung durch Fremdherrschaft, die Wunden des mutigen 1956er-Aufstandes, das politisch korrupte und verlogene Kádár-Regime bis hin zu der überaus widersprüchlichen Transformationszeit mit ihrer ständig schwelenden, manchmal fast bürgerkriegsähnlichen Gespaltenheit, die wir in den letzten 20 Jahren erlebt haben.“ Auf die Frage, wie sich diese Transformation in der Kunst widerspiegelt, antwortet er: „Die Aufgabe für die ungarischen Künstler nach der politischen Wende war es einerseits, sich ihrer eigenen Wurzeln frei zu besinnen und andererseits, sich dem Gegenwartsgeschehen der europäischen und der Weltkunst so innovativ und authentisch wie nur möglich anzuschließen.“ János Can Togay resümiert: „Wenn ich ein Thema ansprechen müsste, was alles dies aufgreifen kann, wäre das die Entdeckung und Aufdeckung des Persönlichen und die Sehnsucht nach der Tradition.“

Die künstlerische Arbeit von András Gálik und Bálint Havas lässt sich nicht losgelöst von der politischen Situation ihres Landes verstehen, etwa wenn das Künstlerduo Little Warsaw ideologische Symbole und Referenzsysteme dekonstruiert und im Kontext der Kunst neu konstruiert. Stets auf die Gegenwart ihres eigenen Landes bezogen, beziehen sie sich immer auch auf das System Kunst, um diese manchmal ironisch und respektlos auf den Prüfstand zu stellen. Dabei finden sie immer neue Anknüpfungspunkte für einen internationalen, kulturpolitischen Dialog, der um die Themen „Identität“, „Repräsentation“ und „Institutionskritik“ kreist. Im Fokus ihres künstlerischen Denkens steht dabei an erster Stelle die Analyse der gesellschaftlichen Veränderungen und den daraus resultierenden Bedeutungsverschiebungen – aus politischen Positionsbestimmungen halten sie sich heraus.

Die Ausstellung von Little Warsaw in der AZKM fasst eine Auswahl ihres Œuvres der vergangenen zehn Jahre zusammen und konfrontiert sie mit neueren Arbeiten.

Marble Street
Das acht mal fünf Meter messende, flache Silikon-Monument „Marble Street“ thematisiert das Verhältnis von romantischer Sehnsucht nach Tradition und zeitgemäßer Repräsentation. Die Wandinstallation konfrontiert die klassische Kompositionsstruktur mit dem emphatisch isolierten Übergangsraum und verbindet Pathos mit Ironie. Als Kopie einer Fassade eines operettenhaften Architekturausschnitts reflektiert das Monument die übertriebene Vorliebe der ungarischen Kultur für Medienbilder und ironisiert sie gleichzeitig durch eine „respektlose“ Gummi-Materialität. Dekontextualisierung und Rekontextualisierung geraten in eine unendliche Bedeutungsschleife, die zu Fragen nach der Haltbarkeit von Kultur in Zeiten des historischen Wandels anregt.

Der ausgestellte Wandteppich ist der Abguss eines (von zwei) Eingangspforten eines Veteranenheims für Soldaten des Ersten Weltkriegs. Er zeigt einen Soldaten mit einem Olivenzweig; über dem Pendant posiert ein anderer Soldat mit einer Handgranate.

Qualities
Die zwölf lebensgroßen Gips-Plastiken „Qualities“ versuchen eine Antwort auf die Frage zu geben, wie das Leben in einer hierarchischen Gemeinschaft mit dem Streben nach individueller Identität in Einklang zu bringen ist. In der seriellen Reihung werden die signifikanten Unterschiede der jungen Persönlichkeiten deutlich, die sich in den differierenden Haltungen und unterschiedlichen Gesichtsausdrücken zeigen. Die lebensgroßen Figuren spiegeln durch ihre spezifische Kleidung die Nostalgie und das Lebensgefühl der 1970er und 1980er Jahre wider. Die Rauminstallation spielt gleichermaßen mit der Aura des Monuments (für die unbekannten Helden) wie mit den zeitlosen Klischees von Gruppenfotos. Der Wunsch des Betrachters, die „Qualities„ der Heranwachsenden zu ergründen, wird bei näherer Betrachtung zurückgewiesen, denn die Augen der „Individuen“ sind geschlossen.

Monument of the last biennial
Das „Monument of the last biennial“ hat für Little Warsaw eine besondere Bedeutung, denn kurz bevor die Biennale-Jury das Künstlerduo für die Vertretung von Ungarn in Venedig auswählte, haben sie es realisiert – unabhängig, doch zeitgleich zur Teilnahme an der Biennale in Venedig 2003. Das „Denkmal“ – ein durchsichtig-abweisender Globus in Ketten – ist auf einem Grabsteinsockel befestigt. Obwohl das Objekt den Titel „Monument“ trägt, kann es eher mit einem Zeitpunkt als einem spezifischen Ort – einem Raumpunkt – in Verbindung gebracht werden. Die Zeit-Referenz auf die vergangene (oder letzte!?) Biennale ist dabei relativ, denn die Bedeutung des Titels lässt sich flexibel auf der Zeitleiste verschieben und stellt Fragen nach dem Zeitgemäßen künstlerischer Formate. Eine weitere Bedeutungsebene eröffnet die Anspielung auf die Kunstwelt in Ketten. Auch diese Arbeit stellt mehr Fragen als sie beantwortet und bezieht den Standpunkt des Betrachters in die Reflexion mit ein.

The Body of Nefertiti
Die Video-Projektion „The Body of Nefertiti“ dokumentiert den Biennale-2003-Beitrag von Little Warsaw, mit dem das Künstlerduo über die Landesgrenzen hinaus bekannt geworden ist. Die 3.000 Jahre alte Büste der altägyptischen Hauptgemahlin des Pharaos Echnaton, Nofretete aus dem Ägyptischen Museum in Berlin wurde zum Ausgangspunkt einer temporären Performance. András Gálik und Bálint Havas formten zu der berühmten Büste einen passenden Leib und fügten unter strengsten Sicherungsbedingungen Torso und Oberkörper im Berliner Museum zu einer Skulptur zusammen. Das Video dokumentiert diesen bewegenden Augenblick der Animation, in dem der Inbegriff historischer Schönheit für einen Moment zu einem überzeitlichen, physischen Gegenüber wurde.

Auf der Biennale in Venedig wurden der Torso und die Video-Dokumentation präsentiert. Der Körper ohne Kopf wurde zu einem Symbol für die Sehnsucht nach Ganzheit und Wiederbelebung – und damit zu einem fragilen Monument kulturübergreifender Menschheitsgeschichte. Little Warsaw gelang mit diesem Projekt für einen Augenblick die Verbindung von Geschichte und Gegenwart, die Transformation von Weltkunst in Gegenwartskunst. Das Projekt warf in der Fachwelt zahlreiche Diskussionen auf: nach der Unantastbarkeit dieser Büste, den Urheberrechten und dem jungen ungarischen Künstlerduo, das bis dahin unbekannt war. Jacques Derrida betonte den Aspekt von Identität, Repräsentation und Verweischarakter zeitgenössischer Kunst: „No element can function as a sign without relating to another element which itself is simply not present.“ (Jedes Element ist ein Zeichen, das auf ein ­Abwesendes verweist.)

Good Soil
Wirtschaftlich hat Ungarn in den vergangenen zwanzig Jahren einen weiten Weg zurückgelegt: Von einem sozialistischen Industrie-Agrarland unter planwirtschaftlichen Bedingungen zu einer europäisch-orientierten, postindustriellen Marktwirtschaft, die sich um Innovation bemüht, Dienstleistung großschreibt und eine moderne Agrarkultur entwickelt. Die vergoldete Ähre wird so zu einem fragilen Symbol für den gesellschaftlichen Aufbruch und setzt Geschichte und Zukunft in ein doppeldeutiges Verhältnis. Der Titel „Good Soil“ verweist auf Saat- und Ernte-Vorgänge und damit auf Leben, Tod und Wiedergeburt. In der altchristlichen Tradition (Ijob 5,26) wird der sterbende Mensch mit einer Garbe verglichen; in der altägyptischen Kultur war aufwachsende Korn Sinnbild des vom Tode auferstehenden Osiris. Als Frucht der Erde steht die Ähre in Verbindung mit dem Weiblich-Mütterlichen, mit der Beseeltheit der Natur und Fruchtbarkeitsritualen. In der christlichen Ikonografie wird Maria mitunter als Weizengarbe dargestellt; spätmittelalterliche Darstellungen zeigen Maria im Ährenkleid. Kornähren verweisen auf das „Brot des Lebens“ und dienen als Verzierungen für Kelche, Monstranzen und Altarbücher; auf Grabsteinen sind sie ein Auferstehungssymbol. Bei Van Gogh werden sie zu vibrierenden Symbolen für die göttliche Beseeltheit der Schöpfung. Das Objekt wird im Rahmen einer Performance zu besonderen Terminen gezeigt.

Little Warsaw is Dead
Die ersten künstlerischen Experimente von András Gálik und Bálint Havas datieren in der Mitte der 1990er Jahre, der Krise der post-kommunistischen Wende. Das Label „Little Warsaw“ taucht erstmals 1996 als Titel einer Ausstellung im Polnischen Institut in Budapest auf. Bald wurde es zu einer Art Marke, die eine Laborsituation, Arbeits- und Reflexionsmethoden beschrieb, die sich auf das westlich orientierte Warschau als Vorbild bezog. Ideologie, technische und theoretische Themen künstlerischer Visualisierung ebenso wie historische und kunsthistorische Fragestellungen wurden im Umkreis von Little Warsaw diskutiert: Little Warsaw wurde zu einem Reflexionsforum und Gegenentwurf zum bestehenden Budapest, einer künstlerischen Oppositionsbewegung mit eigenem Anspruch.

Die Leuchtschrift-Installation, die bereits 2004 als Entwurf entstanden ist, wurde 2008 realisiert und ist wiederum doppeldeutig. Ist das Künstlerduo nun in der Kunstwelt angekommen und fürchtet um seine Identität? Wird aus dem „Little Warsaw“ nun ein „Big Warsaw“? Oder wird der Künstlergruppe die eigene Marke zu eng?

Game of Changes
In den jüngeren Arbeiten beginnt das Künstlerduo Little Warsaw ideologische Symbole und Referenzsysteme zu dekonstruieren. Dafür stellen sie historische Dokumente auf den Prüfstand und analysieren ihre Wahrnehmung vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen. In unterschiedlichen Projekten beschäftigen sie sich mit der kollektiven Bildsprache und ihrer Herkunft, mit sozialen Zusammenhängen und persönlichen Biografien. Dabei wird die historische Erinnerung als kontinuierlicher Prozess und immer werdende Entwicklung des menschlichen Bewusstseins – mit ihren manchmal tragikomischen Konsequenzen – dargestellt und reflektiert. Die Suche nach einer authentischen Position in der Gegenwartskunst verbindet sich somit stets mit neuen Anknüpfungspunkten in der Vergangenheit; so dass sich Geschichte und Gegenwart in einem dynamischen Prozess gegenseitig erhellen.

In der Video-Installation „Game of Changes“ stellt das Künstlerduo Fragen nach dem Wesen der Geschichte: Wie kann man historische Prozesse wahrnehmen, verifizieren, fixieren? Wie blickt man auf Veränderungen, die eigenen und die der anderen? Was passiert, wenn man die Frage, ob man in der Geschichte lernen könne, nach langer Zeit demselben Menschen noch ein mal stellt? In ihrem Filmdokument „My dear Professor, the way he was when I was born – 1971“ gelingt den beiden Künstlern dieser Zeitsprung. Ihr Professor Zsigmond Karolyi erzählt zweimal aus seinem Leben: 1971 (Footage: Gábor Bódy, „The Third“, © Balázs Béla Studió) und 2009 in einem Interview mit den Künstlern. In der Verschränkung der Zeitebenen wird Veränderung individuell greifbar. Das Experiment wird zu einem philosophischen Essay über das Lernen, die Zeit und die Wahrnehmung von Entwicklung.

‘89 Rebels
Die Fotoserie „‘89 Rebels“ ist ein besonderes Dokument ungarischer Kulturgeschichte. Die Screenshots zeigen Studierende der Budapester Kunstakademie vom 1. bis 15. März 1985, einer Phase des Auf- und Umbruchs. Bis zu diesem Zeitpunkt herrschten an der ungarischen Akademie hierarchische Strukturen. Die Professoren wählten die Studenten nach ihren Vorstellungen aus und verhinderten Strukturveränderungen und Demokratisierungsbestrebungen. Im Frühjahr 1989 kam es zu einer sanften Revolution. Diese politischen Umwälzungen wurden von einer für uns heute selbstverständlichen medialen Revolution begleitet. Die angehenden Künstler hielten erstmals eine Videokamera in der Hand und dokumentierten den new spirit dieser Tage. Als Little Warsaw Jahre später an der Budapester Akademie studierten, fanden sie die historischen Mitschnitte der Diskussionen ihrer Väter und fügten sie zu einem Comic zusammen.

Ausstellungen
Biennale in Venedig, Ungarischer Pavillon (2003); 2. Berlin Biennale; Manifesta 2008; Stedelijk Museum Amsterdam; Apex Art Gallery New York; Galerie für zeitgenössische Kunst Leipzig; Hamburger Kunstverein; Frankfurter Kunstverein; Kunsthalle Budapest; Museum Abteiberg Mönchengladbach.

Die Ausstellung ist Teil des Kulturprogramms „Scene Ungarn in NRW“ und von „Kulturgebiet Münster 2010“.
Die Ausstellung wird unterstützt von dem Freundeskreis der Ausstellungshalle zeitgenössische Kunst Münster.
 

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