Kunsthalle Münster

Susanne von Bülow

u.a. Europa

27 Apr - 19 Jun 2016

Susanne von Bülow
Europa, 90/150
Collagraphie, 2016
Susanne von Bülow
Goldene Tasche 1, 2016
Susanne von Bülow
Goldene Tasche 2, 2016
Susanne von Bülow
Melancholie, 2016
SUSANNE VON BÜLOW
u.a. Europa
27 April - 19 Juni 2016

Susanne von Bülows nennt ihre Ausstellung "u.a. Europa". Die abkürzenden Vokale "u.a." befreien die Ausstellung von der Last der Einengung auf ein geographisches oder politisches Thema. Von Bülow schafft Allegorien wie die der "Geopolitika" oder der "Europa" und verleiht ihnen ein alltägliches Gesicht. Zugleich entstehen Bilder wie die "Frau mit Schleier und goldener Tasche", deren Deutungshorizonte ambivalent sind. Die Ausstellung wird am Dienstag, 26. April um 18 Uhr eröffnet. Die Einführung hält Dr. Andrea Brockmann. Für Sonntag, den 19. Juni 15 Uhr laden Susanne von Bülow und Ruppe Koselleck zur "Geostrategischen Kuchenperformance: Kuchen essen – Alles vergessen" ein.

Die "Europa" ist eines der Schlüsselwerke der Ausstellung der Künstlerin Susanne von Bülow: eine 2016 entstandene Monotypie. Bei genauer Beobachtung zeigt sich: Der durchsichtige Kellerfaltenrock des "Mädchens Europa" zeigt freigestellte Landkarten und Staatsgrenzen und konfrontiert Europas "feste" Grenzen (rechte Rockhälfte) mit den Linien sog. "gefallener arabischer und afrikanischer Staatlichkeit" (linke Rockhälfte).
Die Gemengelagen der "failed states" auf der einen und überlappende europäische Staatsgebilde auf der anderen Seite erzeugen ein kartographisches Camouflage-Muster; getrennt nur durch das Mittelmeer.
Susanne von Bülow: "Eine politische Hintergrundfolie dieser zeitgenössischen Allegorie ist das sogenannte Sykes-Picot-Abkommen, das sich am 16. Mai 2016 zum 100sten Mal jährt."

Der politische Hintergrund: Der Sykes-Picot-Kontrakt
Das Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916 war eine geheime Übereinkunft zwischen den Regierungen Großbritanniens und Frankreichs, durch die deren koloniale Interessengebiete im Nahen Osten nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg festgelegt wurden. Das Abkommen wurde im November 1915 von dem französischen Diplomaten François Georges-Picot und dem Engländer Mark Sykes ausgehandelt. Nach ihren unter verschlossenen Türen getroffenen Absprachen sollten die künftigen Grenzen von Syrien, Jordanien, Irak und der Türkei geregelt werden.

Winston Churchill brüstete sich später, den Staat Jordanien "mit einem Stiftzug an einem Sonntagnachmittag" geschaffen zu haben. Nach 100 Jahren wird deutlich: Der Skykes-Picot-Kontrakt ist die Grundlage, wenn auch nicht die Ursache für viele der Konflikte im modernen Nahen Osten: dem Israel-Palästina Konflikt, dem libanesischen Bürgerkrieg, dem irakischen Überfall auf Kuwait, dem türkisch-kurdischen sowie dem syrischen Bürgerkrieg. Auslöser für all diese Konflikte waren ganz unterschiedliche lokale und regionale, nationalistisch-exkludierende Auffassungen von „Politik“; manchmal von externen Mächten unterstützt; manchmal komplett hausgemacht. Aber die „Leinwand“, auf der diese „Politik“ entstand, war das Sykes-Picot-Abkommen.
Dieses Geheimabkommen stand unter keinem glücklichen Stern: Schon mit der Oktoberrevolution 1917 entstand ein „Leck“, das den Geheimcharakter des an den Menschen vorbeiverhandelten Staatengebildes vereitelte. Die Veröffentlichung in russischen wie britischen Tageszeitungen schließlich löste große Verärgerung unter den Entente-Mächten und wachsendes Misstrauen bei den Arabern aus – was die Arabische Revolte zusätzlich anstachelte. Dennoch sollte das Sykes-Picot-Abkommen in den Folgejahren erweitert werden, um Italien und Russland einzubinden. Russland sollte Armenien und Teile von Kurdistan erhalten, Italien einige ägäische Inseln (Dodekanes) und eine Einflusssphäre um İzmir in Südwest-Anatolien. Die italienische Präsenz in Kleinasien sowie die Aufteilung der arabischen Länder wurde im Vertrag von Sèvres im Jahre 1920 formell besiegelt. Zynischerweise ist es ausgerechnet der sog. IS-Staat, der aktuell genau diese Grenzziehung brutal annulliert.

Die Künstlerin: Susanne von Bülow
"„Neben der ausgeprägten Lust an der handwerklichen Arbeit des Druckens besitzt Susanne von Bülow eine besondere Beobachtungsgabe. Doch das Beobachtete ist nie unabhängig vom Beobachter, sei es in der Kunstrezeption oder hinsichtlich der kleinen unbewussten oder auch bewussten Gesten des Alltags, die sich weder präzise wiederholen noch nachahmen lassen. Die Künstlerin legt diese Gesten, die Bewegungen für einen Moment still, reist sie aus dem Zusammenhang und stellt sie frei. Sie beschreibt in ihren Bildern die Erfahrungen und Wünsche von Körperlichkeit, der Lust, aber auch der Zerbrechlichkeit emotionaler Empfindungen."
(Text: Dr. Andrea Brockmann, Freigestellt, Aus: Zuckerbrust und Blaubeermund, 2009) - und aktuell in der Ausstellung „u.a. Europa“: die Zerbrechlichkeit von politischen Kontinentalplatten, gebrannt in Keramik.
Die Geostrategische Kuchenperformance: Kuchen essen – Alles vergessen

Am letzten Tag der Ausstellung "u.a. Europa" am Sonntag, 19. Juni, ab 15 Uhr unternehmen Susanne von Bülow und Ruppe Koselleck mit der "Geostrategischen Kuchenperformance: Kuchen essen – Alles vergessen" den Versuch, die Geschichte mit ihren politischen Konstrukten und Konstruktionen in Süßspeisen zu transformieren. Wenn es nach dem Hinweis von Churchill richtig ist, das die Einflusszonen im Nahen Osten zwischen Frankreich und England in den sog. Geheimverhandlungen von Sykes-Picot bei Teegebäck verhandelt und gezogen wurden, so hat es eine innere Konsequenz, wenn Bülow und Koselleck 100 Jahre später die nun von der Künstlerin zuvor in Keramik gebrannten und später als Kuchen aufgebackenen Staatsgebilde im Rahmen des Ausstellungsprojekts zur Verköstigung anbieten werden.

Zitat der Künstler Susanne von Bülow und Ruppe Koselleck:
"‘Kuchen essen - Alles vergessen‘ möchte sich an den politisch-kreativen Gestaltungsakten beteiligen – und Staatengebilde verköstigen .... Wir werden mit Hammer und Nagel Grenzen auf Karten einschlagen, mit Blechen nachziehen, Formen gestalten, „Länder“ verwalten und zu Süßspeisen transformieren... So lecker (und aktuell) war Geschichte noch nie... Das Geostrategische Kuchenessen wird damit zu einer performativen Geschichtsstunde, in denen nicht Länder, sondern Kuchen gegessen wird. Nachdem wir im vergangenen Jahr in Wien die kartografischen Umrisse von Österreich und Ungarn in einen vielteiligen Schichtkuchen ausgeformt haben und im Museumsquartier verspeist haben, freuen wir uns anlässlich des Jahrestages des Sykes-Picot-Abkommens, zu dem wir für Sonntag, 19. Juni, um 15 Uhr am Platz des Westfälischen Friedens in Münster einladen."