Kunsthalle Tübingen

Santiago Sierra

Skulptur, Fotografie, Film

23 Mar - 16 Jun 2013

Santiago Sierra, Door plate
Edition Schellmann. München, Deutschland. April 2006
Aluminium und Farbe, 59 x 69 x 2 cm
Courtesy Schellmann Art, München
Der spanische Künstler Santiago Sierra bringt mit seinen Arbeiten die strukturelle Gewalt politischer und wirtschaftlicher Systeme drastisch zur Anschauung. Die Kunsthalle Tübingen versammelt erstmals exemplarische skulpturale, filmische und fotografische Relikte seiner Performances in einer retrospektiven Schau.

Santiago Sierra ist für seine drastischen Performances weltweit bekannt: Er ließ politische Flüchtlinge gegen einen Mindestlohn stundenlang einen einseitig an der Wand befestigten Balken aus Holz und Teerpappe stützen; er stellte 21 rechteckige Module aus menschlichen Fäkalien,welche von indischen Latrinenreinigern hergestellt wurden,in der Londoner Lisson Gallery aus; er veranlasste die Befüllung des Erdgeschosses des Ausstellungshauses der Kestnergesellschaft mit 320 m3 schlammigen Material; er ließ Arbeiter stundenlang an einem Holzbalken angebunden verharren und er warfdas aus einer Futtermischung nachgeformte Griechenlandmodell Schweinen zum Fraß vor. Der in Madrid lebende Spanier hat es sich zur Aufgabe gemacht, die strukturelle Gewalt politischer und wirtschaftlicher Systeme schmerzhaft deutlich zur Anschauung zu bringen.

Ein Blick auf die 1971 gegründete Kunsthalle Tübingen lässt wesentliche Grundlagen für Sierras Werk zum Vorschein kommen: Hier kamen in den frühen Jahren die wichtigsten Positionen von Minimal Art, Konzeptkunst und Fluxus zur Ausstellung, die für ihn so prägend sind. Der Prozesskünstler Franz Erhard Walther ist dabei eine zentrale Persönlichkeit. Sierra besuchte an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg Anfang der 1990er Jahre seine Klasse als Gasthörer. Walther begründet im Frühjahr 1972 eine lange Reihe experimenteller Ausstellungen zeitgenössischer Kunst in der Kunsthalle Tübingen, an deren vorläufigem Endpunkt nun Sierra steht. Zu sehen war damals unter anderem Walthers berühmter 1. Werksatz, eine 58-teilige Serie aus abstrakt geformten textilen Stücken, die zusammengerollt auf dem Boden liegen, um vom Besucheraufgenommen und durch Körperhandlungeninterpretiert zu werden. Wie Walther zielt Sierra darauf ab, den Betrachter in das Kunstwerk zu involvieren. Doch während es in Walthers Werk um rein ästhetische Kompositionsschemata geht, zwingen Sierras Arbeiten den Betrachter zu einer Stellungnahme in dem von Ausbeutung und Ausgrenzung gekennzeichneten System der globalisierten Wirtschaft.

Mit der Ausstellung in der Kunsthalle Tübingen werden nun zum ersten Maldie Relikte von einigen wichtigen Performances von Sierrain einer retrospektiv angelegten Schau gezeigt.Unter anderem zu sehen sind 20 quaderförmige Blöcke aus menschlichen Fäkalien, welche Santiago Sierra von indischen Unberührbaren formen ließ. Ein Raum der Ausstellung ist mit Schlamm bedeckt: eine Rekonstruktion der Ausstellung in der Kestnergesellschaft Hannover, die Sierra mit braunem Morast ausfüllte - in Erinnerung an die Arbeiter, welche im Rahmen der nationalsozialistischen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen den Maschsee mit dem Spaten auszuheben hatten. Eigens für die Ausstellung wurdedie InstallationShotswiedererstellt, eine Lautsprecherwand, aus der zu bestimmten Zeiten Gewehrsalven zu hören sind, die in einer Silvesternacht in der mexikanischen Stadt Culiacán aufgezeichnet wurden.Auch der Death Counter, eine LED-Leuchtband, auf welchem in Echtzeit die Todesfälle dieser Welt beziffert werden, wurdefürTübingen wieder in Betrieb genommen. Mit der Schwarze Flagge der Zweiten Spanischen Republik fordert Sierra zum Gedenken an die Opfer des Spanischen Bürgerkrieges auf. Die Rekonstruktion eines Balkens, den Asylanten in der Galerie Peter Kilchmann in Zürich horizontal an eine Wand zu halten hatten, ist ebenfalls zu sehen. Mit dem Aluminiumschild Door Platebetitelt Sierra Menschen, denen der Eintritt in die kulturelle Institution streng verboten ist - eine Arbeit, die wegen der weiten Fächerung des benannten Personenkreises, neben Leprakranken und Drogenabhängigen werden auch Angestellte und Hausfrauen benannt, den Betrachter in die Situation bringt, selbst ausgegrenzt zu werden. Neben weiteren Arbeiten zeugen umfangreiche filmische, akustische, fotografische und zeichnerische Dokumentevon Aktionen des Künstlers.Nach Tübingen wandert die Ausstellung in verändertem Zuschnitt in die Sammlung Falckenberg - Deichtorhallen Hamburg.
 

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