Mark Müller

Michel Verjux

07 May - 04 Jun 2011

Exhibition view
MICHEL VERJUX
Respiration - «Atmen, du unsichtbares Gedicht!» 1

(Notizen anlässlich meiner Einzelausstellung «Respiration» in der Galerie Mark Müller, Zürich, 6. Mai – 4. Juni 2011) «Atmen, du unsichtbares Gedicht!» Wie es Rainer Maria Rilke sagt, ist das Atmen ein wenig wie ein unsichtbares Kunstwerk. Es schafft nicht weniger, meiner Meinung nach, als uns am Leben zu erhalten. Wenn ein Besucher eine Ausstellung aufsucht, ist das vielleicht die Gelegenheit für ihn, eine Pause zu machen, den Rhythmus etwas zu verlangsamen, sich zu fassen aus den Verirrungen, zu denen sich sein Leben, mehr oder weniger ohne Absicht, verleiten lässt.
Um zu Atmen, brauchen wir Luft und Räumlichkeit zwischen den Ereignissen, den Dingen und den Zeichen, welche uns beschäftigen, durchfahren und umgeben. Und so wie die Luft und der Raum notwendig sind für das Atmen und das Herumgehen, so ist das Licht Voraussetzung für das Sehen, beginnend mit dem, was wir vor den Augen haben.
Wenn heute in einem Werk physische Faktoren vereint werden wie Luft (die Räumlichkeit zwischen den Ereignissen, den Dingen und den Zeichen), Raum (die konstituierenden, funktionellen und bezeichnenden Elemente der Architektur) und Licht (ein bewusst gerichtetes Licht, mehr noch, Beleuchtung durch sichtbare Lichtquellen), gehört dies zur Grammatik des von mir vorgeschlagenen Sprachspiels. Ein Spiel von Zeichen, verflochten mit jener Lebensform, welche die Agenten des Feldes der Gegenwartskunst praktizieren.
Dem Blick des Betrachters etwas anbieten, das sowohl klar als auch folgerichtig, auf das Minimum reduziert, notwendig und genügend sei, das gleichzeitig belebt und anregt: Dies kann erreicht werden durch eine äusserst gerichtete, direkte Beleuchtung des Raumes, durch eine gewisse Offenbarung von dessen Atmosphäre, Struktur und Gebrauch.
Hier, in den neuen Räumen der Galerie Mark Müller in Zürich, sind es zwei projizierte Lichtbänder: das eine horizontal, in der Mitte der Rückwand (von der Strasse aus sichtbar hinter der Glastür), das andere vertikal, in der Verlängerung des mittleren Deckenträgers (nur sichtbar im Innern der Galerie). Einmal mehr ein Augenzwinkern Richtung Barnett Newman und seine berühmten Zips, wo jeder Streifen nicht einfach eine ein Feld durchquerende Linie ist, sondern, wie er selbst sagt, «ein Feld, das die anderen Felder belebt» 2

Die Ausstellung dessen, was uns im Licht – in einem Lichtstrahl – umgibt, bildet also nicht wirklich ein unsichtbares Gedicht – überlassen wir dies dem Atmen – sondern das an sich sichtbare Werk.
(Paris, Atelier Père-Lachaise, anlässlich der 20 060 Tage meines Lebens, im
Frühling 2011), Übersetzung: Gisèle Mengis

1 Rainer Maria Rilke, Sonette an Orpheus (1922), repris dans Rainer Maria Rilke, Les Elégies de Duino,
suivi de Les Sonnets à Orphée, trad. Franç. Armel Guerne, Paris, Seuil 1972, p. 145.

2 Barnett Newman, «Entretiens avec David Sylvester» (1965), repris dans Barnett Newman, Ecrits, trad. Franç. Jean-Louis Houdebine, Paris, Macula, 2011, p. 355.
 

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