Ulla Rossek
07 Mar - 05 May 2012
ULLA ROSSEK
Kleinfamilie
7 March - 5 May, 2012
Eine Kleinfamilie ist – wie das Wort nahelegt – durch eine geringe Anzahl an Familien-mitgliedern gekennzeichnet und besteht meist aus zwei Generationen, einem Elternpaar mit ein bis zwei Kindern. Sie ist ein gesellschaftliches Phänomen, das bekanntlich eng mit der Industrialisierung und dem aufkommenden Bürgertum in Europa verbunden ist und seither immer noch als die Sozialisierungsinstanz und gesellschaftliche Norm gilt. Daher benutzt man auch gerne den Begriff der Kernfamilie, im Englischen nuclear family, um sie nicht nur historisch von der Großfamilie abzugrenzen, sondern auch, um sie als hartes, substanzielles und körperliches Zentrum der Gesellschaft zu beschreiben. Dass die kleinste Zelle des Staates nicht nur geschützt, sondern auch hohl ist, wie der französische Begriff famille-cellule i (cellule = Zelle, Hohlform) nahelegt, gleicht einer indirekten Pointe. Die Spezies Kleinfamilie scheint bereits ausgiebig theoretisch analysiert und in ihrer traditionellen Form vielleicht überholt zu sein, in unserer alltäglichen Realität hält sie sich jedoch in zahlreichen Facetten.
Techniken der Normierung in Industrie und Gesellschaft hat Ulla Rossek (*1978) in Collagen und Plastiken schon mehrfach zum Thema gemacht. Während ihre Arbeiten grundsätzlich durch extrem verlangsamte Arbeitsprozesse gekennzeichnet sind, ist ihr Produktions-volumen für die Ausstellung in Wien – entsprechend des großen Vorkommens von Kleinfamilien – extrem angewachsen. In den letzten Monaten hat Rossek zahlreiche Serien verschiedener Arbeiten aus gebranntem Ton gefertigt und in ihnen inhaltliche Recherchen mit formalen Analogien verknüpft.
Rosseks Tonarbeiten gleichen Röhren oder Rollen, die es in unterschiedlichen Größen, Farbtönen und Glasuren gibt. Dazu walzt sie die frische Tonerde, rollt sie zu schmalen Rohren und brennt sie anschließend. In einem zweiten Schritt werden die Objekte in einer Farbglasur gewälzt und ein weiteres Mal gebrannt. Durch den Gebrauch technischer Arbeitsmittel umgeht Rossek die übliche händische Bearbeitung des Tons und die kontrollierte Farbgebung mit dem Pinsel.
Sie ahmt in dieser selbst entwickelten Quasi-Massenproduktion frühindustrielle Verfahren nach, auch wenn jedes Objekt letztendlich individuell ist und ein wenig anders aussieht. Dabei liegt ihr Hauptaugenmerk in der Ausstellung nicht auf der Präsentation der Produkte dieser Arbeit, sondern ihr ist vielmehr an einer offenen Form oder Studiosituation gelegen, in der der Arbeitsprozess dargelegt und der Eindruck vermittelt wird, die Arbeiten stünden noch unter Beobachtung.
Aus der großen Masse einzelner Tonteile hat Rossek systematisch Gruppen, sogenannte Kleinfamilien, gebildet, wobei sie in Wien dreißig davon zeigt. Analog zur Standardgröße einer Kleinfamilie sind Ensembles entstanden, die jeweils aus drei bis vier kniehohen Elementen bestehen und die lose zu raumgreifenden, vertikalen Objekten aufgebaut oder, bildlich gesprochen, in eine spannungsreiche Stellung zu einander gebracht sind. Die einzelnen Röhren belasten und stützen sich gegenseitig und erhalten durch ihre elastische, durchlässige Stoffhülle temporär Stabilität und Balance. An einigen Stellen hat Rossek die Stoffe mit ein wenig Ton eingefärbt, dort scheinen sie etwas dunkler und damit durchsichtiger und lenken den Blick ins Innere. Man kann sich leicht vorstellen, dass eine Kleinfamilie zusammenklappt, sobald ein Element die vorgegebene Position verlässt – wie beim Mikado hat der verloren, der sich als Erster bewegt oder wie bei einem dreibeinigen Stuhl trägt er nur solange wie keiner der drei Beine einknickt. Ihre gespannte "Außenhaut" erinnert dabei an eine Bettdecke, mit der die plastischen Ton-Körper bzw. Familienmitglieder gestrafft und verhüllt werden. Jedes Familienensemble umschreibt durch die sie umgebende Hülle wie eine Zelle einen eigenen Raum – einen Familienkörper ii – der einerseits isoliert ist und andererseits durchlässig für bestimmte Einflüsse von Außen bleibt. Während einige verhüllte Gruppen auf einem anthrazitfarbenen Industrieteppich mittig im Raum positioniert sind, werden andere wiederum in ihre Einzelteile zerlegt und liegen etwas weiter hinten auf einem hellen Teppich, dieses Mal wie in einer wissenschaftlichen Untersuchung nebeneinander gereiht.
Die zwei unterschiedlichen Zustände der Ausstellung laden dazu ein, über zahlreiche weitere Anordnungen der einzelnen Objekte nachzudenken. Im übertragenen Sinne bricht Rossek das gesellschaftliche Idealkonstrukt "Kleinfamilie" als eine auf die internen Strukturen ausgerichtete und stabile Form auf. Rosseks Kleinfamilien-Modulationen lassen sich vielleicht auch als eine Weiterentwicklung Foucaultscher überlegungen lesen. Foucault spricht in seinen theoretischen Untersuchungen der Disziplinargesellschaften von der Kleinfamilie des 18./19. Jahrhunderts als Paradebeispiel eines Einschließungsmodells, in dem die überwachung der Kinderkörper im Zentrum der elterlichen Aufmerksamkeit steht und dazu dient, gegebene Macht-, Geschlechter- und Keuschheitsvorstellungen einer Gesellschaft aufrecht zu halten.iii Während man heute immer noch an dem Idealkonstrukt der bürgerlichen Kleinfamilie festhält, hat sich das klassische Bürgertum als für die Kleinfamilie konstitutive gesellschaftliche Gruppe längst aufgelöst – die Diskussion um das Zusammenleben und um Erziehungsfragen jedoch bleibt.
Rossek zeigt sich in ihrer Inszenierung der Kleinfamilien als distanzierte Beobachterin und stille Rezipientin, imitiert eine bekannte Struktur der Gesellschaft durch analoge übersetzungen und variiert deren Erscheinungsformen (obwohl sie sich sicherlich auch persönlich mit diesen konfrontiert sieht). Gleichzeitig liefert sie mit ihrer seriellen Produktion auch ihr Verständnis von den Möglichkeiten künstlerischer Produktion mit. Nicht der kreative Ausdruck steht in den Serien im Vordergrund sondern vielmehr die jeweiligen Arbeitsschritte und Vorgehensweisen während der Produktion. Etymologisch bezeichnet Kreativität eine schöpferische Tätigkeit und im 20. Jahrhundert ersetzte sie dann den fragwürdig gewordenen Genie-Begriff. Dieser wiederum war eng an die Sturm und Drang-Bewegung des späten 18. Jahrhunderts geknüpft und entwickelte sich parallel und in Auseinandersetzung mit dem aufkommenden Bürgertum. In dem Moment, indem Begriffe wie Selbstverwirklichung und Kreativität heute zum Gegenstand des Interesses spätkapitalistischer Wirtschaftssysteme werden, praktisch zur Verpflichtung für Jedermann in einer individualisierten Gesellschaft, fühlt man sich aus künstlerischer Sicht mit einer "kreativen" Vorgehensweise verständlicherweise unwohl. In der Simulation frühindustrieller Prozesse macht Rossek bewusst, dass es kein gesellschaftliches "Außen" gibt. Gleichzeitig führt sie dieser "entfremdete" Arbeitsprozess zu individualisierten Ergebnissen. Mit dem Rückgriff auf eine industrielle Produktionsform schafft sich Rossek somit interessanter Weise einen kurzen Moment der Freiheit, so, wie sie durch das Figurenspiel mit der Kleinfamilie eine gesellschaftliche Differenzierung ermöglicht.
(Kathrin Jentjens)
i Vgl. Michel Foucault, Die Anormalen: Vorlesungen am Collège de France (1974 - 1975), 2007, (1. Aufl., übersetzung: Michaela Ott), S. 328.
ii Ebd.
iii Ebd., S. 331.
Kleinfamilie
7 March - 5 May, 2012
Eine Kleinfamilie ist – wie das Wort nahelegt – durch eine geringe Anzahl an Familien-mitgliedern gekennzeichnet und besteht meist aus zwei Generationen, einem Elternpaar mit ein bis zwei Kindern. Sie ist ein gesellschaftliches Phänomen, das bekanntlich eng mit der Industrialisierung und dem aufkommenden Bürgertum in Europa verbunden ist und seither immer noch als die Sozialisierungsinstanz und gesellschaftliche Norm gilt. Daher benutzt man auch gerne den Begriff der Kernfamilie, im Englischen nuclear family, um sie nicht nur historisch von der Großfamilie abzugrenzen, sondern auch, um sie als hartes, substanzielles und körperliches Zentrum der Gesellschaft zu beschreiben. Dass die kleinste Zelle des Staates nicht nur geschützt, sondern auch hohl ist, wie der französische Begriff famille-cellule i (cellule = Zelle, Hohlform) nahelegt, gleicht einer indirekten Pointe. Die Spezies Kleinfamilie scheint bereits ausgiebig theoretisch analysiert und in ihrer traditionellen Form vielleicht überholt zu sein, in unserer alltäglichen Realität hält sie sich jedoch in zahlreichen Facetten.
Techniken der Normierung in Industrie und Gesellschaft hat Ulla Rossek (*1978) in Collagen und Plastiken schon mehrfach zum Thema gemacht. Während ihre Arbeiten grundsätzlich durch extrem verlangsamte Arbeitsprozesse gekennzeichnet sind, ist ihr Produktions-volumen für die Ausstellung in Wien – entsprechend des großen Vorkommens von Kleinfamilien – extrem angewachsen. In den letzten Monaten hat Rossek zahlreiche Serien verschiedener Arbeiten aus gebranntem Ton gefertigt und in ihnen inhaltliche Recherchen mit formalen Analogien verknüpft.
Rosseks Tonarbeiten gleichen Röhren oder Rollen, die es in unterschiedlichen Größen, Farbtönen und Glasuren gibt. Dazu walzt sie die frische Tonerde, rollt sie zu schmalen Rohren und brennt sie anschließend. In einem zweiten Schritt werden die Objekte in einer Farbglasur gewälzt und ein weiteres Mal gebrannt. Durch den Gebrauch technischer Arbeitsmittel umgeht Rossek die übliche händische Bearbeitung des Tons und die kontrollierte Farbgebung mit dem Pinsel.
Sie ahmt in dieser selbst entwickelten Quasi-Massenproduktion frühindustrielle Verfahren nach, auch wenn jedes Objekt letztendlich individuell ist und ein wenig anders aussieht. Dabei liegt ihr Hauptaugenmerk in der Ausstellung nicht auf der Präsentation der Produkte dieser Arbeit, sondern ihr ist vielmehr an einer offenen Form oder Studiosituation gelegen, in der der Arbeitsprozess dargelegt und der Eindruck vermittelt wird, die Arbeiten stünden noch unter Beobachtung.
Aus der großen Masse einzelner Tonteile hat Rossek systematisch Gruppen, sogenannte Kleinfamilien, gebildet, wobei sie in Wien dreißig davon zeigt. Analog zur Standardgröße einer Kleinfamilie sind Ensembles entstanden, die jeweils aus drei bis vier kniehohen Elementen bestehen und die lose zu raumgreifenden, vertikalen Objekten aufgebaut oder, bildlich gesprochen, in eine spannungsreiche Stellung zu einander gebracht sind. Die einzelnen Röhren belasten und stützen sich gegenseitig und erhalten durch ihre elastische, durchlässige Stoffhülle temporär Stabilität und Balance. An einigen Stellen hat Rossek die Stoffe mit ein wenig Ton eingefärbt, dort scheinen sie etwas dunkler und damit durchsichtiger und lenken den Blick ins Innere. Man kann sich leicht vorstellen, dass eine Kleinfamilie zusammenklappt, sobald ein Element die vorgegebene Position verlässt – wie beim Mikado hat der verloren, der sich als Erster bewegt oder wie bei einem dreibeinigen Stuhl trägt er nur solange wie keiner der drei Beine einknickt. Ihre gespannte "Außenhaut" erinnert dabei an eine Bettdecke, mit der die plastischen Ton-Körper bzw. Familienmitglieder gestrafft und verhüllt werden. Jedes Familienensemble umschreibt durch die sie umgebende Hülle wie eine Zelle einen eigenen Raum – einen Familienkörper ii – der einerseits isoliert ist und andererseits durchlässig für bestimmte Einflüsse von Außen bleibt. Während einige verhüllte Gruppen auf einem anthrazitfarbenen Industrieteppich mittig im Raum positioniert sind, werden andere wiederum in ihre Einzelteile zerlegt und liegen etwas weiter hinten auf einem hellen Teppich, dieses Mal wie in einer wissenschaftlichen Untersuchung nebeneinander gereiht.
Die zwei unterschiedlichen Zustände der Ausstellung laden dazu ein, über zahlreiche weitere Anordnungen der einzelnen Objekte nachzudenken. Im übertragenen Sinne bricht Rossek das gesellschaftliche Idealkonstrukt "Kleinfamilie" als eine auf die internen Strukturen ausgerichtete und stabile Form auf. Rosseks Kleinfamilien-Modulationen lassen sich vielleicht auch als eine Weiterentwicklung Foucaultscher überlegungen lesen. Foucault spricht in seinen theoretischen Untersuchungen der Disziplinargesellschaften von der Kleinfamilie des 18./19. Jahrhunderts als Paradebeispiel eines Einschließungsmodells, in dem die überwachung der Kinderkörper im Zentrum der elterlichen Aufmerksamkeit steht und dazu dient, gegebene Macht-, Geschlechter- und Keuschheitsvorstellungen einer Gesellschaft aufrecht zu halten.iii Während man heute immer noch an dem Idealkonstrukt der bürgerlichen Kleinfamilie festhält, hat sich das klassische Bürgertum als für die Kleinfamilie konstitutive gesellschaftliche Gruppe längst aufgelöst – die Diskussion um das Zusammenleben und um Erziehungsfragen jedoch bleibt.
Rossek zeigt sich in ihrer Inszenierung der Kleinfamilien als distanzierte Beobachterin und stille Rezipientin, imitiert eine bekannte Struktur der Gesellschaft durch analoge übersetzungen und variiert deren Erscheinungsformen (obwohl sie sich sicherlich auch persönlich mit diesen konfrontiert sieht). Gleichzeitig liefert sie mit ihrer seriellen Produktion auch ihr Verständnis von den Möglichkeiten künstlerischer Produktion mit. Nicht der kreative Ausdruck steht in den Serien im Vordergrund sondern vielmehr die jeweiligen Arbeitsschritte und Vorgehensweisen während der Produktion. Etymologisch bezeichnet Kreativität eine schöpferische Tätigkeit und im 20. Jahrhundert ersetzte sie dann den fragwürdig gewordenen Genie-Begriff. Dieser wiederum war eng an die Sturm und Drang-Bewegung des späten 18. Jahrhunderts geknüpft und entwickelte sich parallel und in Auseinandersetzung mit dem aufkommenden Bürgertum. In dem Moment, indem Begriffe wie Selbstverwirklichung und Kreativität heute zum Gegenstand des Interesses spätkapitalistischer Wirtschaftssysteme werden, praktisch zur Verpflichtung für Jedermann in einer individualisierten Gesellschaft, fühlt man sich aus künstlerischer Sicht mit einer "kreativen" Vorgehensweise verständlicherweise unwohl. In der Simulation frühindustrieller Prozesse macht Rossek bewusst, dass es kein gesellschaftliches "Außen" gibt. Gleichzeitig führt sie dieser "entfremdete" Arbeitsprozess zu individualisierten Ergebnissen. Mit dem Rückgriff auf eine industrielle Produktionsform schafft sich Rossek somit interessanter Weise einen kurzen Moment der Freiheit, so, wie sie durch das Figurenspiel mit der Kleinfamilie eine gesellschaftliche Differenzierung ermöglicht.
(Kathrin Jentjens)
i Vgl. Michel Foucault, Die Anormalen: Vorlesungen am Collège de France (1974 - 1975), 2007, (1. Aufl., übersetzung: Michaela Ott), S. 328.
ii Ebd.
iii Ebd., S. 331.