Irene Weingartner
03 Mar - 13 Apr 2013
IRENE WEINGARTNER
Entfliehende Raumpunkte
Curated by Elke Bippus
3 March - 13 April 2013
In der Broschüre „Mögliche Systeme - zu den Seismographischen Aufzeichnungen von Signalen“, analysiert Irene Weingartner ihre künstlerische Praxis und bringt diese systematisch zur Darstellung. Sie bestimmt hier ihre Funktion als Aufzeichnungsmaschine, als – wie Rachel Mader schreibt – „neutrale Übersetzerin und Aufzeichnende“. Aufgezeichnet werden Signale. Diese können vom Körper oder der Umgebung ausgehen, sie können aber auch einer spezifischen Fragestellung entspringen.
Indem Irene Weingartner für sich in Anspruch nimmt, Aufzeichnungsmaschine zu sein, verleiht sie ihrer Tätigkeit den Status, den bildgebende Instrumente des 19. Jahrhunderts inne hatten. Die mechanische Aufzeichnung versprach eine bildhafte Objektivität und stellte damit die „Möglichkeit der Realisierung eines Ideals wissenschaftlicher Arbeit wie auch eines allgemeinen Ideals einer universellen Bildsprache“ (Daston/Galison) in Aussicht. Die Aufzeichnungsinstrumente, etwa der von Marey entwickelte „Tragbare Polygraph“, sollten durch Automatisierung der Registrierung die Aktivität von Kräften erfassen und in eine markante Form übersetzen, „die man die Sprache der Phänomene selbst nennen könnte und die allen anderen Arten des Ausdrucks überlegen ist“ (Marey).
Mit den Apparaturen gelang es Beziehungen und Bewegungen sichtbar zu machen, die nicht beobachtbar sind. Nicht nur das: die Apparate, die „wie neue Sinne von erstaunlicher Präzision“ (Marey) wirksam sind, produzieren ein Sichtbares, das ohne das grafische Verfahren nicht existierte: Es hätte keine existentia, kein Da-Sein, es ragte nicht in die Existenz hinein.
Irene Weingartner begibt sich in ihrer Versuchsanalage in die Position eines solchen „neuen Sinns“, einer sensiblen Apparatur, die Kräfte, Beziehungen, Rhythmen, Resonanzen vernimmt und nicht zu allererst Vorstellungen, Konzepte, Darstellungskonventionen der Zeichnung zum Zuge kommen lässt. Die in der Ausstellung zu sehenden Zeichnungen werden mit dem Titel „Entfliehende Raumpunkte“ in Beziehung gesetzt. Dieser Titel ist so lesbar, dass der „neue Sinn“ offenbar nicht unabhängig ist von Auge, Ohr, Geschmack-, Geruchs- und Tastsinn, nicht unabhängig von den konventionalisierten und tradierten Vorstellungen. Parallel- und Kreuzschraffuren, zarte und starke Linienformationen, Ballungen kurzer dicht neben- und übereinander liegender Striche, erzeugen diverse Bildlichkeiten. Manche erinnern an Landschaften, andere an Stadtansichten, oder an kosmische Darstellungen. Die einen zeigen weiche Lineaturen, die anderen konstruktive Setzungen. Während in den grossformatigen Zeichnungen der konventionelle Raum auf der Darstellungsebene attackiert wird, um ihm zu entfliehen, finden sich in den kleinformatigen Zeichnungen narrative Momente, die – verstärkt durch in die Zeichnung einbezogene Titel – den grafischen Kampf um Fläche und Raum mit geradezu illustrativen Mitteln in Szene setzen. Die Künstlerin lässt sich von Kräften/Signalen affizieren und bringt Linien, Punkte, feine Grafitflächen auf das Papier, die „Entfliehende Raumpunkte“ entstehen lassen, die sich an unsere Raum- und Weltvorstellungen richten und ohne ihre grafische (Auf-)Zeichnung keine Existenz hätten.
Elke Bippus
Entfliehende Raumpunkte
Curated by Elke Bippus
3 March - 13 April 2013
In der Broschüre „Mögliche Systeme - zu den Seismographischen Aufzeichnungen von Signalen“, analysiert Irene Weingartner ihre künstlerische Praxis und bringt diese systematisch zur Darstellung. Sie bestimmt hier ihre Funktion als Aufzeichnungsmaschine, als – wie Rachel Mader schreibt – „neutrale Übersetzerin und Aufzeichnende“. Aufgezeichnet werden Signale. Diese können vom Körper oder der Umgebung ausgehen, sie können aber auch einer spezifischen Fragestellung entspringen.
Indem Irene Weingartner für sich in Anspruch nimmt, Aufzeichnungsmaschine zu sein, verleiht sie ihrer Tätigkeit den Status, den bildgebende Instrumente des 19. Jahrhunderts inne hatten. Die mechanische Aufzeichnung versprach eine bildhafte Objektivität und stellte damit die „Möglichkeit der Realisierung eines Ideals wissenschaftlicher Arbeit wie auch eines allgemeinen Ideals einer universellen Bildsprache“ (Daston/Galison) in Aussicht. Die Aufzeichnungsinstrumente, etwa der von Marey entwickelte „Tragbare Polygraph“, sollten durch Automatisierung der Registrierung die Aktivität von Kräften erfassen und in eine markante Form übersetzen, „die man die Sprache der Phänomene selbst nennen könnte und die allen anderen Arten des Ausdrucks überlegen ist“ (Marey).
Mit den Apparaturen gelang es Beziehungen und Bewegungen sichtbar zu machen, die nicht beobachtbar sind. Nicht nur das: die Apparate, die „wie neue Sinne von erstaunlicher Präzision“ (Marey) wirksam sind, produzieren ein Sichtbares, das ohne das grafische Verfahren nicht existierte: Es hätte keine existentia, kein Da-Sein, es ragte nicht in die Existenz hinein.
Irene Weingartner begibt sich in ihrer Versuchsanalage in die Position eines solchen „neuen Sinns“, einer sensiblen Apparatur, die Kräfte, Beziehungen, Rhythmen, Resonanzen vernimmt und nicht zu allererst Vorstellungen, Konzepte, Darstellungskonventionen der Zeichnung zum Zuge kommen lässt. Die in der Ausstellung zu sehenden Zeichnungen werden mit dem Titel „Entfliehende Raumpunkte“ in Beziehung gesetzt. Dieser Titel ist so lesbar, dass der „neue Sinn“ offenbar nicht unabhängig ist von Auge, Ohr, Geschmack-, Geruchs- und Tastsinn, nicht unabhängig von den konventionalisierten und tradierten Vorstellungen. Parallel- und Kreuzschraffuren, zarte und starke Linienformationen, Ballungen kurzer dicht neben- und übereinander liegender Striche, erzeugen diverse Bildlichkeiten. Manche erinnern an Landschaften, andere an Stadtansichten, oder an kosmische Darstellungen. Die einen zeigen weiche Lineaturen, die anderen konstruktive Setzungen. Während in den grossformatigen Zeichnungen der konventionelle Raum auf der Darstellungsebene attackiert wird, um ihm zu entfliehen, finden sich in den kleinformatigen Zeichnungen narrative Momente, die – verstärkt durch in die Zeichnung einbezogene Titel – den grafischen Kampf um Fläche und Raum mit geradezu illustrativen Mitteln in Szene setzen. Die Künstlerin lässt sich von Kräften/Signalen affizieren und bringt Linien, Punkte, feine Grafitflächen auf das Papier, die „Entfliehende Raumpunkte“ entstehen lassen, die sich an unsere Raum- und Weltvorstellungen richten und ohne ihre grafische (Auf-)Zeichnung keine Existenz hätten.
Elke Bippus