Thomas Rehbein

Anna Lena Grau

vom tastenden Reisen

19 Feb - 10 Apr 2021

Anna Lena Grau
Curtain, 2017
Aluminium, Ketten
Größe variabel
Die Thomas Rehbein Galerie freut sich, die sechste Einzelausstellung der Künstlerin Anna Lena Grau vom 05. Februar bis 06. März 2021 ankündigen zu können.

Grau ist eine Meisterin des experimentellen Kunstgusses. Bereits seit über zwei Jahrzehnten entwickelt sie das „geschlossene“ Verfahrendes Gießens weiter. Geleitet wird sie von der poetischen Vorstellung noch unrealisierter Formvorhandenheit oder eines Form-Möglichen. Dabei bedarf bereits der mehrschrittige Prozess des traditionellen Handwerks eines hohen fachlichen Wissens und besonderer Kunstfertigkeit. Dient der Kunstguss im Allgemeinen dazu, über den Abdruck eines Gegenstandes einen weiteren und normalerweise identischen herzustellen, griff und greift Grau in die Zwischenstadien ein und verselbstständigt Teilschritte des Verfahrens, um den künstlerischen Spielraum zu erweitern. Spezifischer gesagt, um den Raum, der zwischen Form-Positiv und Form-Negativ liegt, als eigentliche und selbstständige Form zu ermöglichen.

Was liegt zwischen Form-Positiv und Form-Negativ?

In den „Packstücken“ ist die Figur der verlorenen Form (das Form-Negativ) selbst die eigentliche skulpturale Figur. Graus „Packstücke“ stellen die zerlegten Adjutanten der global reisenden Menschen dar – jedem Stück liegt die Abformung eines konkreten Koffers zugrunde. Die Reduktion auf klare, konkrete Elemente und das Fehlen jeglicher schmückenden Anteile, sprich, aller Zusätze, die nicht zwangsläufig zum Objekt gehören, rufen sowohl Tendenzen der Minimal-, als auch Pop Art in Erinnerung. Graus Koffer allerdings sind in ihrer Handlichkeit brüchig geworden und rau – wie in den Schichten seiner Oberfläche aufgeriebenes Schwemmgut. Es sind skulpturale Figuren, die ihre konkrete Gestalt, ihr Form-Positiv überschreiten oder entblättern und in die nächste Dimension des Juddschen „it is, what it is“, blind und tastend hineinfallen. So zeigt sich den Betrachter*innen an der Oberfläche der Figuren offen und sichtlich die “Befindlichkeit“ der Skulptur. Ihre Situativität, die sich als Kategorie des Raums, der Haptik, der Optik, ihres Gewichts und der Form äußert.

„Bug Curtain“, eine Gemeinschaftsarbeit zwischen Anna Lena Grau und Julia Frankenberg, assoziiert mitunter ob der vorhangartigen Aufhängung an Ketten, eine Wand voller Votivtafeln assoziieren. In oder auf ihnen sind konkrete Abdrücke und Ausstülpungen zu sehen, von Händen, von bestimmten Handgesten und von quasi naiven Reliefformationen, die an vorzeitliche Versteinerungen von Skeletten denken lassen. Einzelne andere Tafeln lesen sich als Aufsprengung dessen, was die Grundlage der vorher identifizierten Formation dient: die vermeintlich flache und sichere Fläche. So ist eines der “Votiv“-Objekte beispielsweise ein Multiplikat an Tafelflächen, und bei einem anderen endet die Rahmung als lose Linie.




Sind die verschiedenen „Bugs“ in Aluminium veredelte Objekte, die mit dem Fetisch der Votivtafel spielen, manifestiert sich das mit ihnen Gelobte oder Versprochene (das Votum) als Ausbuchtung der lebendigen – oder auch toten Körperform. Körper, die ihre Gestalt in die weiche Fläche gedrückt haben, geknetet wurden oder eingedrungen sind. So ist „Bug Curtain“ die Etüde einer durchweg unheimlichen Vorstellung. Denn was würde passieren, wenn eine Tafel, ein Screen oder ein Handydisplay plötzlich plastisch und weich werden würde?

Maulwürfe graben fantastische Tunnelsysteme, ja ganze Architekturen durch die verborgenen Erdschichten – und das blind. Wir sehen nur die Spuren der Tierchen, den an die Oberfläche beförderten Aushub ihrer heroischen Arbeit: die wohlbekannten Maulwurfhügel. Über diese ärgert man sich oder stolpert auch mal darüber, denn spektakulär sind sie nicht. Organisch krümelige Haufen an Erdmaterie, die weichen mussten, um den Lebensraum des Tierchens zu gestalten. Gleichzeitig markieren sie die Ein- und Ausgänge zu den verschlungenen Wegen unter der Erde. Sie sind Wegzeichen, sie sind Male auf der Erdoberfläche.

Die Maulwurfhügel sind Graus früheste Gussarbeiten. Um das eigentlich weiche Material, die tonige Erde, im Original abgießen zu können, machte sie sich in der winterlichen Landschaft auf die Suche nach Maulwurfhügeln. In Plain Air, meist auf Kuhweiden, errichtete sie kleine Gießstätten um einzelne der durch den Frost erhärteten Hügelchen ein und nahm von der gefrorenen und somit erhärteten Erde, mit Schamotte den Abdruck für den Abguss der Form in Bronze. Ihr Blick richtet sich – nun ist sie Forscherin – auf die im Detail wilde Formenlandschaft der Hügel, jeder Einzelne hat seinen eigenen Charakter, ist individuell – auch oder gerade wegen seiner situativen Zufälligkeit. Bei einem der Hügel sind die Erdbrocken schon etwas abgetragen, bei einem anderen war der Schwung der Aushebung wohl größer, die umgebende Erde nasser, oder grobkörniger.

Und doch gilt der Blick auf das Eigenleben der Formationen nicht der Fertigung eines getreuen Porträts oder Identifikation. Graus Untersuchungen gelten nicht dem Phänomen der Oberfläche, sondern vielmehr ihrem Brüchigwerden als Grenze zu einem anderen - konkret und imaginär – vibrierend poetischen Raum. Ihre Skulpturen geben den Dingen, die normalerweise dem leblosen Raum zugeordnet werden, ihre Poesie zurück und lassen uns ihre Verletzlichkeit, ihre Ausgesetztheit und Intimität sehen.

(Franziska Glozer, 2020)