Thomas Rehbein

Jochem Hendricks "Horizontal Hairdo"

04 Sep - 13 Oct 2009

Horizontal Hairdo, 2007-2009
Haar, Aluminium, Kugellager /
Hair, aluminum, ball-bearing
Länge des Haars / Length of hair ca. 30 km, Spule / Spool 20 x 5 cm

Kamasutra für Autisten / Kamasutra for Autists, 1996
Buchattrappen, Pappe, Lackleder, Holz / Faux books, cardboard,
patent leather, wood
21.5 x 9.6 x 14 cm

Augenzeichnung / Eye drawing
Rot / Red, 1992
Tusche auf Papier / India ink on paper
61 x 43 cm

„30 km Haarverlängerung“

Wie bereits in den Jahren 2003, 2005 und 2007 bleibt der Frankfurter Künstler Jochem Hendricks mit einem internationalen Projekt auch in seiner vierten Einzelausstellung in der Thomas Rehbein Galerie seinem konzeptuellen Ansatz treu. Schienen Ausdauer, Perfektionismus und Detailakribie schon mit dem Zählen von Millionen von Sandkörnern für die in Glas gefassten Sandeier ad Adsurdum geführt, weiß Hendricks diesen Eindruck in seiner jüngsten Arbeit noch zu steigern.

Für Horizontal Hairdo wurde die Frisur der Philippina Annelie Ataccdor Alingasa mit einer Haarlänge von 40 – 50 cm vollständig entfernt und von einer Gruppe von Frauen in Kamerun Haar für Haar an den Spitzen zu einem fortlaufenden Haarstrang verklebt. Das Resultat, eine horizontale Frisur, ist ca. 30 km lang und wurde auf eine in Deutschland angefertigte Spule gewickelt, so dass sich das Projekt letztendlich über drei Kontinente Asien, Afrika und Europa erstreckt. Durch die Länge des Haares ist der Präsentationsmodus der Frisur variabel. Sobald die Spule an die Wand montiert ist, kann das Haar je nach Wunsch abgerollt und über weitere kleine Spulen an der Wand entlang, durch einen Raum oder sogar ein ganzes Haus geführt werden.

Würde man dem Verlauf des Haares mit den Augen verfolgen, würde sich zweifellos eine interessante Augenzeichnung ergeben, wie sie ebenfalls in der Ausstellung zu sehen sind. Diese resultieren aus der Zielsetzung, Zeichnungen ohne jegliche Intervention der Hände entstehen zu lassen, eine direkte Transkribierung des Wahrnehmungsprozesses auf das Papier. Einen speziellen Helm tragend, macht sich Hendricks eine Kombination aus Infrarot-, Video,- und Computertechnik, eine sogenannte eye-tracking-machine, zu Nutze, die das Aufzeichnen und Digitalisieren der Bewegungen des Auges ermöglicht. Als Tuscheplot ausgedruckt sind die entstandenen Zeichnungen Unikate, die abstrakte Prozesse wie das Starren ins Leere, Lesen, Schreiben, Zeichnen oder Betrachtungsvorgänge visualisieren. Dieser methodische Ansatz kulminiert in vollständigen Zeitungen, die „nach der Lektüre“ nur noch aus Liniengefügen bestehen. Allein graphische Merkmale der Zeitung wie einzelne Spalten bleiben erkennbar.

Ist das Gelesene in diesen Zeitungen in der Konsequenz auch nicht mehr lesbar, so ist ihr Inhalt dennoch real. Hendricks Buchattrappen und Karteikartenkästen spielen hingegen lediglich überzeugend mit dem Anschein des Realen und entpuppen sich als Illusion, die den Betrachter herausfordert. Fiktive und dekorative Buchrücken füllen die Bücherregale Jochem Hendricks und konterkarieren dabei gängige Buchattrappen bürgerlicher Haushalte als Zeichen scheinbarer Bildung und Bildungsideale, regen jedoch gleichzeitig mit provokanten und Neugier schürenden Titeln die Phantasie des Betrachters an, der das inhaltslose Buch nahezu unbewusst mit individuellen Inhalten füllt.
Ähnlich verhält es sich mit den Karteikartenkästen, die ebenfalls einen Bibliothekskontext suggerieren, jedoch keine Bücher inventarisieren. Gelistet sind die Werkdaten fiktiver Kunstwerke des 20.Jh. einschließlich jeder im weitesten Sinne erdenkbaren Technik, doch so wie es dem Betrachter obliegt, die Buchinhalte gedanklich zu entwickeln, generieren sich auch die beschriebenen Kunstwerke allein durch die Vorstellungskraft des lesenden Betrachters. Hendricks stellt lediglich Bausteine zur Verfügung, die denkbare Gestalt und Ästhetik der sich aus der Summe der Karten ergebenden imaginären Ausstellung oder der Buchinhalte bedingt sich hingegen in der Leistungsbereitschaft des Betrachters. (UR, 2009)

 

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