Pensée Sauvage – von Freiheit
25 May - 08 Jul 2007
25.05.2007 - 08.07.2007
Künstler: Lucas Bambozzi (BRA), Lene Berg (N), Andrea Büttner (D), Patricia Esquivias (COL), Cao Guimarães (BRA), Tamara Henderson (CAN), Marine Hugonnier (F), Henrik Håkansson (S), Deimantas Narkevicius (LT), Rosalind Nashashibi (UK), Markus Oehlen (D), Maria Pask (NL), Anu Pennanen (SF), Lisi Raskin (USA), Mandla Reuter (D), Aïda Ruilova (USA)
Der Titel der internationalen Gruppenausstellung bezieht sich auf die wegweisende ethnologische Schrift des Anthropologen Claude Lévi-Strauss, La pensée sauvage, 1962. Mit der Veröffentlichung seiner Forschungen über Naturvölkern hatte er Anfang der 1960er Jahre eine Bahn-brechend-neue Denkrichtung für die heutige Ethnologie geschaffen und die Entwicklung eines alternativen Kulturverständnisses mitbestimmt. Entgegen der vermeintlichen Bedeutung des Titels bezieht sich Claude Lévi-Strauss mit “Pensée Sauvage” nicht auf das “wilde Denken”, sondern das “wilde Stiefmütterchen”. Dabei handelt es sich um eine weit verbreitete und wild wachsende Art aus der Familie der Veilchen. Das Paradox an dieser Bezeichnung ist, dass das Stiefmütterchen zwar “wild” wächst, ihm durch seine weite Verbreitung aber nichts Exotisches sondern eher etwas ganz und gar Alltägliches anhaftet. Im Hinblick darauf beschäftigt sich die Ausstellung mit der Frage, wie es möglichen ist, die Rolle dieses “ungezähmten Gewächses” in der heutigen Gesellschaft einzunehmen; in anderen Worten: ist es möglich, sich ein soziales Territorium zu schaffen, in dem man ungezähmt „wuchern“ und trotzdem ein Teil der Gemeinschaft bleiben kann? Die “Freiheit”, auf die der Untertitel der Ausstellung anspricht, soll hier nicht im Sinne der Grundrechte verstanden werden, sondern bezieht sich auf die Fähigkeit, – wie der brasilianische Pädagoge Pablo Freire einmal sagte – der freien Meinungsbildung erlernt zu haben. In einer Welt, in der die Anpassung an sozial etablierte Lebensformen sowie Normen und Regeln eine entscheidende Rolle spielt, stellt die zeitgenössische Kunst eine Form der Praxis dar, die einer anderen Logik folgt. Eine Logik, die nach Leerstellen und vielschichtigen Möglichkeiten sucht und dabei immer wieder durch Unerwartetes überrascht. Die Arbeiten in der Ausstellung behaupten auf unterschiedliche Weise und in Form vielfältiger Medien, dass es immer möglich ist, den Verlauf der Geschichte umzulenken: sich die Freiheit zu nehmen anders zu denken und zu handeln – das bedeutet Freiheit.
So lassen die Arbeiten Andrea Büttners (*1972, Stuttgart) z. B. eine neue Lesart der kulturellen Zentrierung auf die Moderne zu. Ihre großformatigen Holzschnitte stellen formal Bezüge zur Tradition des deutschen Expressionismus her und thematisieren mit ihrem Rückgriff auf ein veraltetes Medium inhaltlich gleichzeitig einen Vergangenheitsbezug zu Tradition und Religion. Dieses Spiel mit dem Anachronismus konterkariert das allgegenwärtige Verlangen, ewig mit der Gegenwart Schritt halten zu wollen.
Die Arbeit des in Berlin lebenden Künstlers Mandla Reuter (*1974, Nqutu, Südafrika) hingegen basiert auf dem Begriff der Kontrolle. Seine Installationen setzten sich aus vielfältigen Elementen zusammen, die eine neue Wahrnehmung des Raum eröffnen und dadurch einen Ort schaffen, der den Betrachter unsicher werden lässt, was genau er eigentlich sieht. Reuters Arbeiten machen deutlich, wie schnell sich das Gefühl von Kontrolle – das für gewöhnlich von Institutionen ausgeht – erschüttern lässt.
Auch Lisi Raskin (*1974, Miami) beschäftigt sich in ihren Arbeiten mit dem Begriff der Kontrolle. Ihr Ausgangspunkt ist die Untersuchung einer “Architektur der Angst”: Elektrizitätswerke, Atombunker und ähnliches. Orte der Angst, die manchmal in unserer Vorstellung wie mächtige Festungen auftauchen und in der Lage sind, das Leben grundlegend zu verändern. Riskin rekonstruiert diese Architketuren in einem handgemachten Stil, sodass es möglich wird, sie aus einer fiktionalen Perspektive ohne realistisches Bedrohungspotential zu betrachten. Auf einmal sind die Orte nur noch Teil inszenierter Geschichten und Erzählungen, die kontrollierbar werden. Mit dem nötigen Abstand werden so Ängste gebannt, die von den unsichtbaren Mächten ausgehen, von der die Welt zuweilen regiert zu werden scheint.
Cao Guimarães (*1965, Belo Horizonte) und Lucas Bambozzi (*1965, São Paulo) hingegen beschäftigen sich bewusst mit demjenigen, was “in der Ferne” liegt. Ihre Filme zeugen von einer ernsthaften Beschäftigung mit dem “Reiz des Anderen”. Sie zeigen dem Betrachter die Schönheit des Unbestimmten, die Notwendigkeit des Ungewöhnlichen und den Wert, den das Vergessen der Zeit ausmachen kann.
Die zuweilen botanische Installationen des schwedischen Künstlers Henrik Håkanssons (*1968, Hesingborg), die sich mit der Pflanzen- und Tierwelt beschäftigen, können in dieselbe Richtung interpretiert werden: sie beruhen auf dem Versuch, Welten innerhalb der wirklichen Lebenswelt zu entdecken, die für das Auge für gewöhnlich unsichtbar bleiben.
Eine Verbindung finden alle Arbeiten im Bezug auf den Begriff der Freiheit – Freiheit verstanden als eine Frage des Vermögens, unvoreingenommen durch die Wirklichkeit gehen zu können. Sinnbildlich hierfür steht daher in der Ausstellung die ordinäre aber „wild“ wachsende Pflanze: sie steht für die Anstrengungen, die künstlerische Praxis immer wieder auf sich nimmt, um einen alltagsbedingten Pragmatismus zu überwinden, gleichzeitig aber die Bedeutung von Realitätsnähe zu bekräftigen und den Wert der Begeisterungsfähigkeit zu unterstreichen – eine Fähigkeit, die eine extrem schwierige aber um so wichtigere Form von Freiheit darstellt.
Pensée Sauvage - von Freiheit ist eine Produktion der Ursula Blickle
Stiftung in Kooperation mit dem Frankfurter Kunstverein und wird an beiden Orten parallel gezeigt. (Bitte beachten Sie, dass nicht alle Künstler werden an beiden Orten vertreten sein).
Anlässlich der Ausstellung erscheint ein Katalog im Revolver Verlag,
Frankfurt am Main mit Texten von Jennifer Allen, Anselm Franke, Chus Martínez, Ingo Niermann/Christian Kracht, Axel Stockburger und Jan Verwoert.